Ein kühler Wind empfing den Unteroffizier, als er sich unter der Tür der obersten Wachkammer hindurchduckte und auf die Galerie des Turmes hinaustrat. Die beiden Soldaten der Nachtwache nahmen Haltung an und grüßten. Er nickte ihnen zu und erlaubte ihnen, sich zu rühren. Mit einem raschen Blick und ein paar Fragen überzeugte er sich, dass sie weder getrunken noch geschlafen hatten. Er war zufrieden mit ihnen. Sie hatten ihre Positionen bezogen und es war genug Reisig neben dem Kohlebecken aufgetürmt, dass das Signalfeuer in nur einem Wimpernschlag auflodern würde, wenn man es brauchte.
Er trat an das Geländer und sog die Kühle der Nacht in seine Lungen. Die Luft war frisch, wenn auch geschwängert mit dem hier oben allgegenwärtigen Geruch nach Rauch und dem Moder des Wehrgrabens. Im Westen, hinter dem Vicus, das sich an die südwestliche Flanke des Kastellhügels schmiegte, lag die gerodete Ebene. Eine tintenschwarze Fläche, auf der man heute Nacht nicht das Geringste erkennen konnte. Einzig die Straße hob sich hell davon ab, schnurgerade und präzise wie ein Schwertstreich.
Irgendwo am Ufer der Hilaria bellte ein Fuchs. Der Offizier grinste in sich hinein. Die jungen Rekruten aus der Stadt machten sich regelmäßig in die Hose, wenn sie diesen Laut hörten. Sie glaubten, er stamme von Geistern, die in der Nacht aus dem Nebel kommen und ihnen die Seele rauben würden.
Er kniff die Augen zusammen und starrte in die Dunkelheit hinaus. Sein Spott verflog, denn er musste zugeben, dass auch er den Nebel hasste. Diese feuchtkalten Schwaden, die sich auch jetzt wieder in den Senken sammelten. Die einem bis unter die Haut krochen und die freie Sicht nahmen.
Er legte die Hände auf die Brüstung und seine trommelnden Fingerkuppen machten ein hohles Geräusch auf dem Holz, was er erst bemerkte, als einer der Soldaten ihm einen Seitenblick zuwarf.
Es gab keinen Grund, nervös zu sein. Niemand würde es wagen, das Kastell von Viana anzugreifen. Die Festung beherbergte über fünfhundert Reiter, bestens gedrillte Elitekrieger. Wer würde die großartigste Armee der bekannten Welt schon herausfordern wollen?
Und doch stellten sich die Härchen in seinem Nacken auf, als der Wind unter seinen Umhang fuhr und ihn mit einem eiskalten Hauch streifte. Wie schon so oft, fühlte er sich auf der Galerie unwohl. Irgendwie schutzlos. Die Balustrade ging den meisten, die hier oben standen, bis an die Brust. Ihm reichte sie gerade bis zum Bauch. Er zog die Schultern hoch. Wenn er ein Barbar wäre, würde er jedenfalls seinen ersten Pfeil auf den Mann schießen, der hier oben im Feuerschein eine übergroße Zielscheibe abgab.
Doch heute Abend war es schlimmer als sonst. Irgendetwas gefiel ihm nicht, er konnte nicht genau benennen, was es war. Er schloss für einen Moment die Augen, konzentrierte sich ganz auf sein Gehör. Doch es gab nichts Außergewöhnliches da draußen. Kein Rascheln, kein Flüstern, keine verstohlenen Schritte, nichts. Es schien alles ruhig. Für den Moment.
Das Poltern der Tür hinter ihm ließ ihn herumfahren. Die beiden Wachsoldaten legten die Hand auf den Schwertknauf, doch er gab ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie bleiben sollten, wo sie waren.
Er kannte den Soldaten, der da so unvermittelt auf die Galerie gestürmt war. Parvus, ein Reiter seiner eigenen Einheit und sein Freund. Der allerdings keine Erlaubnis hatte, den Turm jetzt zu betreten.
»Parvus! Was bei allen Göttern tust du hier oben? Ich hoffe, du hast einen verflucht guten Grund dafür!«
»Den habe ich, Araco«, stieß Parvus atemlos hervor. Sein Gesichtsausdruck war außerordentlich beunruhigend.
»Was ist los?«, fragte Araco.
»Mico ist nicht da.«
»Was? Schon wieder?«
Parvus spuckte über das Geländer. »Er ist bei dieser verdammten Hure. Ich frage mich, was an der so reizvoll ist«.
Araco nahm seinen Helm ab und raufte sich das Haar. »Dieser miese kleine Bastard. Und das so kurz vor dem Manöver!«
»Du weißt doch, wie er ist«, sagte Parvus. »Ausgangssperre wegen eines Manövers hält ihn nicht auf. Ist ja nur eine Übung.«
»Tarquinius wird ihn häuten.«
Parvus nickte. »Er hat schon zwei Einträge. Wenn er dieses Mal erwischt wird, sehen wir ihn nie wieder. Der ist schneller auf der verfluchten Insel, als er wieder nüchtern ist. Ich werd ihn holen gehen. Du musst nur dafür sorgen, dass man mir das Tor öffnet. Und dass die anderen ihren Mund halten.«
Araco ließ seinen Blick über das Dorf schweifen. Vereinzelte Lichter brannten noch, gelbe Sterne im unordentlichen Haufen aus primitiven Hütten und Häusern.
Er fluchte und ballte die Faust. Dann stieß er sich vom Geländer ab.
»Nein«, sagte er. »Du gehst in dein Quartier. Ich geh ihn holen.« Er wandte sich zum Gehen.
»Araco.« Parvus hielt ihm am Arm zurück. »Tu das nicht. Du bist Unteroffizier. Dein Ruf ist tadellos, du hast eine Zukunft hier. Setz das nicht aufs Spiel!«
»Du sagst mir nichts, was ich nicht schon weiß!«, knurrte Araco.
Parvus ließ nicht locker. »Niemand, nicht mal ein Rattenschwanz, darf heute Nacht hinaus, und du willst deinen Posten verlassen? Du bist verrückt! Wenn der Alte euch erwischt, wirst du nicht einfach nur degradiert. Du wirst dich an Micos Seite bei der Legion wiederfinden!«
»Und wenn er euch erwischt, wird er euch niederprügeln wie die Hunde.«
»Wir halten das schon aus!«
»Nein.« Araco schob ihn zur Seite und ging an ihm vorbei zur Tür.
»Das ist Irrsinn, Araco. Ist Mico das wirklich wert?«
Araco versuchte, den Schauer der Erinnerung zu ignorieren, der langsam seinen Rücken hochkroch. »Jeder Mann ist es wert, vor Tarquinius’ Stock bewahrt zu werden, Parvus.«