»Bei allen Göttern, was für ein Saustall«. Die kühle Nachtluft, die Araco mit in die heruntergekommene Taverne nahm, vermochte den dick geschichteten Mief nach Saufgelage und dem süßen Parfüm der Freudenmädchen nicht für zwei Atemzüge zu vertreiben. Angewidert stieg er über den Haufen Einheimischer hinweg, der direkt vor der Tür lag. In ihrem Rausch war es ihnen nicht mehr möglich gewesen, dieses Dreckloch zu verlassen, und so waren sie einfach an Ort und Stelle übereinander gefallen, ohne Rücksicht auf die Lachen aus verschüttetem Wein und Erbrochenem, die hier überall den löchrigen Holzboden verzierten. Er arbeitete sich weiter vor in den nur noch spärlich erleuchteten, bis auf das Schnarchen der Betrunkenen ziemlich stillen Raum, bis er gefunden hatte, was er suchte. Die Hure, die auf dem Schoß des Mannes saß, wegen dem er hier war, sah mit glasigen Augen zu ihm auf.
»Guten Abend, Herr«, hauchte sie und lächelte ihn an, so reizend, wie es ihr im Vollrausch noch möglich war. Zugegeben, sie wäre hübsch gewesen mit ihren hellblauen Augen und dem kleinen Kirschmund, hätte ihr Lächeln nicht eine mächtige Zahnlücke entblößt, durch die ohne Weiteres ein Ochsengespann gepasst hätte.
»Ah«, sagte Mico, als er endlich sein Gesicht von ihrem Hals nahm und Araco unter halbgesenkten Lidern anblinzelte. »Dupli ... Wieschhhön, dassss du hier biss! Setzz dich doch ssu unss.« Er gab der Hure einen schmatzenden Kuss und nuschelte weiter: »Darffich vorstelln ... mein Duplicariusch ... Ara... Araco ...« Er nahm einen großen Schluck aus seinem Becher. »Weissu, warum er so heisst, hm?« Das Mädchen glotzte ihn etwas dümmlich an. »Nein. Was heißt das denn?«
»Dassch bedeutet Falke. Is irgndwie grieschisch oder so.«
»Oh«, gab sie von sich. »Also dann heisst er so, weil er so elegant ist wie ein Falke?« Sie seufzte lasziv.
Mico lachte auf. »Jahaaa. Das denken alle .... Aber ich weiss es besser.« Er hob belehrend den Finger. »SSiehh dir seine Nase an, mein Schatzz. Diese Hakennase! Dass iss der wahre Grund, sag ich dir.« Er rülpste.
»Das ist doch gar keine Hakennase«, sagte die Hure und nahm lüstern Maß. »Der ist doch sehr stattlich!«
Araco wich unwillkürlich ein kleines Stück zurück, und beachtete sie nicht weiter. »Ich denke, du hattest genug, Mico«, sagte er. »Du solltest nicht hier sein, und das weißt du.«
»Ach, sei doch nich so, Duplicariusch!«, lallte Mico und schüttelte seinen Becher, dass die Tropfen herausspritzten. »Du solltest auch wass trinken. Iss ne kalte Nacht.«
Araco stöhnte auf, seine Hand zuckte im unbändigen Verlangen, dem Mann eine zu verpassen. Unwirsch scheuchte er das Freudenmädchen weg, packte Mico an der Tunika, zog ihn hoch und schüttelte ihn. »Vielleicht hat der Herr nicht mitbekommen, dass wir in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt wurden«, zischte er. »Niemand darf das Kastell verlassen. Du bringst dich um Kopf und Kragen, Mann. Und mich auch!«
»Aber du biss doch ... auch hier.«
»Ich bin hier«, knurrte Araco barsch und gab Mico einen heftigen Schubs in Richtung Tür, »weil ich dir gerade den Arsch rette. Du hast schon zwei Einträge im Strafbuch. Wenn ich dich hier noch einmal erwische, ich schwöre dir, bei allen Göttern, dann drehe ich dir deinen dürren Hals höchstselbst um! Dann braucht es keinen Tarquinius, der dich totprügelt.« »Ach wass ...«, widersprach Mico. »Der macht das schon nicht. Der mag mich.«
»Der mag niemanden«, sagte Araco unheilschwanger und schaffte Mico, der sich jetzt auf ihn stützte wie ein Greis auf seinen Stock, mühsam aus dem Vicus heraus. Ab und zu hob er den Blick und schätzte voller Ungeduld die verbleibende Entfernung zum Kastell, das vor ihnen auf dem Bergsporn thronte, die weißen Mauern deutlich gegen den sternengesprenkelten Nachthimmel abgehoben. Die Kohlebecken auf den Türmen verliehen ihnen einen schwachen, orangefarbenen Schein, und hin und wieder tauchte der Schatten eines der Diensthabenden darin auf. Sie würden sie unweigerlich sehen, wenn sie zum Nordwesttor hineingingen, aber die Männer hatte er im Griff. Sie würden nicht reden.
Die beiden Wachsoldaten, die ihnen das Tor aufhielten, grinsten breit, aber sagten keinen Ton. Doch gerade als sie die Torflügel schließen wollten und Araco sich schon in Sicherheit wiegte, dröhnte ein gewaltiges Donnerwetter los, das alle vier Männer erschrocken zusammenzucken ließ.
»Was geht hier vor?«, brüllte eine tiefe Stimme. »Wieso ist das Tor offen?« Araco schloss kurz die Augen und fluchte. Das Schlimmste war eingetreten. Jetzt war alles verloren.
Und da stand der Mann auch schon vor ihnen, der oberste Decurio des Kastells, Quintus Tarquinius, den die Soldaten heimlich mit dem Titel »der Alte« belegt hatten. Das Fackellicht beleuchtete eine asketische Statur und ein hageres Gesicht mit pochenden Wangenmuskeln. Araco nahm Haltung an und zwang seinen Blick geradeaus, wie man es ihm als Rekrut eingebläut hatte. Er war zwei Kopf größer als sein Vorgesetzter, jetzt auf ihn hinabzuschauen, hätte Tarquinius bis aufs Blut gereizt.
»Name und Rang!«, polterte der Decurio. »Und Meldung, sofort!«
»Marcus Veranius Araco, Herr! Duplicarius der vierten Turma. Und Gaius Furnius Mico, Eques der vierten Turma. Ich habe ihn in der Tarverne erwischt.«
Leugnen hatte keinen Zweck mehr. Er konnte nur noch hoffen, den Alten irgendwie milde zu stimmen.
»Ihr habt ihn erwischt?«, blaffte Tarquinius.
»Ja, Herr. Er hatte wohl während der Vesper zu viel Wein und darüber vergaß er die Zeit.«
»Ihr hättet es mir melden müssen, Duplicarius! Euren Posten zu verlassen war ein schwerer Verstoß!«
»Herr, ich hielt es nicht für wichtig genug, Euch zu stören. Ich wollte ihn melden, sobald Ihr Eure Ruhe beendet habt.«
Tarquinius zitterte mittlerweile vor Wut und seine Stimme wurde bedrohlich leise. »Ich glaube Euch kein Wort, Veranius. Ich glaube eher, Ihr wolltet ihn decken!«
»Nein, Decurio, ich -«
Ein Geräusch aus Richtung Norden ließ Araco innehalten. War das ein Schrei gewesen?
»Was? Fahrt gefälligst fort, das war nur ein verdammter Fuchs!«, bellte Tarquinius.
»Psst!«, machte Araco, jede Disziplin vergessend.
Da! Ein weiterer Schrei! Und das war ganz gewiss kein Fuchs gewesen! »Schnell! Gefahr!«, rief er nur und sprintete los.
»Veranius! Ihr kommt sofort zurück! Das ist ein Befehl!«, schrie Tarquinius ihm nach, doch Araco war schon am Wehrgraben entlang gerannt, und kürzte die Strecke zur Straße durch einen Sprung von der steilen Böschung ab.
Dort unten war ein Handgemenge zugange. Ein einspänniger Maultierkarren war zum Halten gekommen und zwei Männer waren in einen heftigen Kampf verstrickt. Ein dumpfer Schlag, ein grässliches Stöhnen und einer der Kämpfenden sank zu Boden. Der andere, ein offenbar sehr großer und schwerer Mann machte sich daran, einen weiteren Mann vom Wagen zu zerren.
»Heda!«, schrie Araco, während er im vollen Lauf sein Schwert zog. »Lass ihn sofort los!«
Der Angreifer zuckte kurz zusammen und gab dann Fersengeld. Er rannte ein Stück die Straße entlang, bog dann aber scharf in den Sumpf ab. Araco hechtete ihm nach, hinein ins Ufergehölz, mitten durch das Bachbett der Viana. Wasser spritzte an ihm hoch bis in sein Gesicht, Äste rissen an seinem Umhang, aber er holte auf.
Der Kerl floh weiter in Richtung Hilaria, aber er war zu schwerfällig für den Sumpf, mit schmatzenden Geräuschen sanken seine Stiefel in den Morast und nur zäh konnte er sie daraus wieder befreien. Araco warf sich nach vorn und bekam den Umhang seines Gegners zu fassen. Der Mann fuhr herum und mit etwas Großem, Schweren schlug er zu und traf Araco an der Schulter. Schmerz schoss bis in Aracos Fingerspitzen, und die Wucht des Schlages ließ jeden Knochen in seinem Körper erbeben, er kam aus dem Gleichgewicht und musste einen Ausfallschritt machen. Fatal, denn sein Fuß versank dabei im Schlamm. Der Kerl ließ ihm keine Zeit. Mit infernalischem Gebrüll stürzte er sich wie ein Bär auf ihn. Die ungeheure Macht des Ansturms riss Araco von den Beinen. Sein Kopf kam hart auf eine Wurzel auf, so dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Einen Moment lang war er benommen, einen Herzschlag nur, doch sein Schwert war fort! Der Mann begrub ihn jetzt unter sich, er war so schwer, dass er Araco beinahe alle Luft aus den Lungen presste. Mit einer Hand packte er ihn am Hals und mit der anderen verpasste er ihm ein paar brutale Schläge auf die Rippen. Verzweifelt versuchte Araco, sich mit der Linken vom Klammergriff an seinem Hals zu befreien, mit der anderen Hand tastete er fieberhaft nach seinem Schwert. Doch er fühlte nur Schlamm, nichts als Schlamm, seine Ohren dröhnten, vor seinen Augen wurde es weiß. Da, endlich, seine Finger bekamen etwas zu fassen, etwas Hartes, Glattes. Es war nur ein Knüppelholz, aber er packte es und schlug es seinem Gegner mit all seiner verbleibenden Kraft aufs Auge, gerade noch rechtzeitig, bevor der ihm den Kehlkopf zerquetschen konnte. Der Mann jaulte auf, und hielt sich einen Moment die Hände vors Gesicht. So schnell er konnte, wand sich Araco unter dem Kerl hervor, drehte sich zu ihm und verpasste ihm einen heftigen Tritt in die Seite. Während der Mann sich stöhnend am Boden wand, suchte Araco hastig den Morast nach dem metallenen Glanz seiner Spatha ab. Er fand sie, dank den Göttern, doch bevor er sie aufheben konnte, war der Bär bereits wieder auf den Beinen und griff erneut an! Araco duckte sich unter ihm hinweg, ließ ihn ins Leere laufen, und als der Mann sich herumwarf und sich erneut auf ihn stürzen wollte, war das Schwert wieder sein. Mit Genugtuung spürte er den dumpfen Widerstand, auf den die Klinge traf und die Anstrengung, die es kostete, sie wieder zurückzuziehen. Stöhnend fiel der Mann auf die Knie, sackte zur Seite und rutschte die Böschung hinunter, hinein in den Fluss. Araco sprang ihm nach, mit einem Satz war er im Wasser und bekam den Mann gerade noch an der Kleidung zu fassen, bevor die Strömung der Hilaria ihn fortschwemmen konnte.
Mühsam und vor Anstrengung ächzend zog er ihn ans Ufer, wo sich ihm bereits Hände entgegenstreckten und aus dem Wasser halfen. Ein paar Soldaten standen auf der Böschung, unter ihnen auch Tarquinius.
»Er lebt noch«, sagte der Decurio nach einem knappen Blick auf den Banditen. »Schafft ihn in die Festung.«
Die Soldaten hoben den Mann hoch und trugen ihn davon.
Araco schleppte sich in seiner vom Wasser bleischweren Rüstung triefend und nach Atem ringend die Böschung hoch, wo Tarquinius auf ihn wartete. »Das hat ein Nachspiel, Veranius«, drohte er, und hieß ihm vorzugehen.