Wie betäubt kehrte Araco in sein Quartier zurück. Er betrat die verwaiste Stube und blieb einen Moment lang mitten im Raum stehen. Seine widerstreitenden Gefühle zerrissen ihn fast. Diese Beförderung war etwas, das er sich sehnlichst gewünscht hatte. Doch gleichzeitig drückten Caecus’ Erwartungen, der Auftrag, die Verantwortung, die damit einherging auf seine Schultern wie ein Joch. Wenn er versagte, wenn er den Kommandanten persönlich enttäuschte, war seine Ehre für alle Zeiten dahin. Es gab dann kein Loch auf der Welt, das tief genug war, ihn im vollen Ausmaß seiner Schande aufzunehmen. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht richtig atmen zu können. Er riss sich die Paenula von den Schultern und ließ einen Stoßseufzer los, einen Laut, der irgendwo zwischen euphorischem Freudenschrei und schmerzhaftem Ausatmen lag.
„Herr“, vernahm er eine dünne Stimme, die ihn herumfahren ließ. Ein Junge stand da, ein Sklave, höchstens zwölf Jahre alt, spindeldürr, mit flachsblondem Haar und schiefen Zähnen, was ihn noch jünger wirken ließ. Araco war über sein unvermitteltes Auftauchen so erschrocken, dass er ihn um ein Haar angeblafft hätte. Doch der Junge war nicht ohne Grund hier. Über seinem Arm hing ein roter Offiziersmantel, der schwere Faltenwurf verriet die hervorragende Wolle. Unter den anderen Arm hatte er einen Helm geklemmt und in der Hand trug er den Rebstock. Alles die Rangabzeichen eines Decurios. Und alles Symbole für die Bürde, die sie mit sich brachten. Araco schüttelte das aufkeimende Unbehagen ab und zwang sich zu einem halben Lächeln.
„Wie heißt du, Junge?“
„Pinus, Herr. Ich bin Euer Calo.“
Natürlich. Der persönliche Bursche des Hauptmanns.
„Ich soll Eure Pferde und Eure Sachen zu den Unterkünften der Sechsten Turma bringen. Und wenn Ihr es wünscht, besorge ich Euch auch das dritte Pferd, das Euch nun zusteht. Oder wollt Ihr es selbst aussuchen, Herr?“
Araco atmete auf. Den Jungen schickten die Götter!
Pinus hatte noch niemals einen Menschen sich so schnell wandeln sehen, wie den Decurio, kaum dass sie einen Fuß zwischen die Stallungen der Reservepferde gesetzt hatten. Hatte er in seinem Quartier noch ernst, ja fast niedergeschlagen gewirkt - was Pinus kaum verstehen konnte, schließlich wurde man doch nicht jeden Tag zum Hauptmann befördert - schien er nun ein vollkommen anderer Mensch zu sein. Seine Haltung war gelöst und er schritt weit aus, so weit, dass Pinus fast in den Laufschritt wechseln musste, um mit ihm mitzuhalten.
Hier draußen vor dem Kastell herrschte ein Veteran namens Balbus über fast sechshundert Tiere aller Farben und Größen, die sich auf den weitläufigen Weiden tummelten.
Der Decurio erklärte ihm, was er suchte, und seine Augen strahlten dabei, fast wie die eines Kindes.
Balbus legte bedächtig den Kopf schief, überlegte kurz und rief dann einige Calones zusammen, die ein paar Pferde nach seiner Anweisung aus der Herde herausfingen.
Als erstes probierte Hauptmann Araco eine junge Stute aus. Sie war groß und grobknochig und schien etwas langsam zu reagieren. Pinus sah vom Weidezaun aus zu und kratzte sich am Kopf. Balbus hatte Recht, wenn der Hauptmann nicht am Boden mitlaufen wollte, war ein größeres Pferd sicher besser für ihn geeignet. Aber nicht dieses.
Der Decurio hielt neben ihm und nickte ihm aufmunternd zu. »Was meinst du, Pinus?«
Pinus spürte wie sich ein warmes Gefühl in seinem Magen breitmachte. Sein Herr fragte ihn um Rat? Ihn?
»Herr«, sagte Pinus vorsichtig. »Wenn Ihr erlaubt ...«
Der Decurio lächelte. »Ich erlaube es nicht nur, ich bitte ausdrücklich um deine ehrliche Meinung.«
»Sie passt nicht zu euch. Sie ist ruhig ja. Aber sie braucht zu lange, um Euch zu verstehen. Außerdem setzt sie ihre Hufe nicht in klarem Takt.«
Der Hauptmann hob anerkennend seine schmalen Augenbrauen. »Du hast ein gutes Auge, Junge! Alles, was du sagst, habe ich auch so empfunden.«
Pinus fühlte sich förmlich eine Handbreit größer werden und konnte sich gerade noch ein breites Grinsen verkneifen. Das hier war eine ernste Sache. Er wollte ja nicht wie ein einfältiger Dummkopf aussehen.
»Nun gut«, meinte Araco. »Dann das nächste.«
Er probierte noch ein paar andere Pferde aus und war sich bei keinem zu schade, Pinus nach seinem Rat zu fragen. Doch zufrieden waren sie beide nicht.
Schließlich überlegte der Decurio, sich zwischen zwei brauchbaren Pferden zu entscheiden, da fiel Pinus plötzlich ein auf der Weide etwas abseits stehender Hengst ins Auge. »Was ist mit dem großen Braunen da hinten?«, fragte er.
»Ja, was ist mit ihm?«, wollte nun auch Araco wissen.
»Hm«, machte Balbus, »Seine Größe und sein Temperament würden schon zu Euch passen. Aber er ist schwierig, das sage ich Euch gleich.«
Araco warf Pinus einen verschwörerischen Blick zu. »Schwierig mag ich am liebsten«, sagte er, und als er sich schließlich bei dem Pferd in den Sattel schwang, blieb Pinus der Mund offen stehen. Der Hengst, der schon beim Satteln den Eindruck gemacht hatte, dass er alle Menschen am liebsten in die Viana getreten hätte, war wie verwandelt. Araco ritt ihn mit leichter Hand in die schwierigsten Manöver, mit nahezu unsichtbaren Hilfen ließ er ihn stoppen, scharf wenden, aus dem Stand angaloppieren und gleich wieder anhalten. Das Pferd gehorchte ihm, als könne es seine Gedanken im Voraus ahnen. Die Art und Weise, wie Reiter und Pferd harmonierten, wie sie zu einer untrennbaren Einheit wurden, zu einem einzigen Wesen, verschmolzen wie ein Centaur, ließ Pinus geradezu ehrfürchtig erstarren. Der Mann hatte eine Gabe. Er hatte diesem Pferd Flügel verliehen.
Araco ließ den Hengst aus vollem Galopp direkt vor Pinus anhalten, so dass Gras und Dreck nur so hochflogen und schaute auf ihn herab. Sein Haar war zerzaust, seine Wangen von der Kälte gerötet, aber seine Augen blitzten wie die eines Mannes, der in diesem Moment absolut zufrieden mit sich und der Welt war. »Nun?«, fragte er Pinus, »Wie soll er heißen?«
»Wer hat euch gelehrt, so zu reiten, Herr?«, fragte Pinus auf dem Weg zurück ins Kastell.
»Ach, das ist nichts Besonderes«, wehrte Araco ab. »Wo ich herkomme, in Olisipo, lernen die Jungen eher zu reiten, als dass sie laufen können.«
Pinus lächelte ungläubig und schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht, das kann sicher nicht jeder.«
»Nun ja. Vielleicht nicht«, räumte Araco ein, »Aber das ist auch wirklich ein gutes Pferd. Es ist einfach mit ihm. Er muss nur noch ein paar Manieren lernen.«
»Oh ja, das ist ein gutes Pferd. Ein richtig gutes Pferd!“, sagte Pinus. Seine Wangen glühten regelrecht vor Aufregung. »Werdet ihr ihn beim Einsatz reiten, Herr?«
Araco zuckte die Schultern. Ja, der Hengst war mutig und willig, aber bei einem Einsatz ein fremdes Pferd zu reiten, war nicht ratsam. Manchmal konnte der Gehorsam des Tieres über Leben und Tod entscheiden. „Ich glaube, ich verlasse mich lieber auf meinen guten alten Polidoxus“, sagte Araco nach kurzem Überlegen. „Ich weiß, was ich an ihm habe.“
„Ihr habt Recht“, stimmte Pinus zu. „Aber dann darf ich Achilleus reiten, ja? Als Euer Ersatzpferd!“
»Achilleus heißt er also?« Araco musste sich ein Grinsen verbeißen.
»Ja«, sagte Pinus und nickte feierlich. »Er kann keinen anderen Namen haben. Also, darf ich ihn reiten, Herr?«
»Und wenn er dich runterwirft?«
»Dann sitze ich wieder auf, Herr!«
»Hm. Bist du nicht etwas zu jung für den Einsatz?«
»Ich habe vierzehn Sommer erlebt!«
»Vierzehn? Tatsächlich?«
Ein leiser Anflug von Röte huschte über Pinus Gesicht. »Dreizehn«, meinte er kleinlaut.
»Also dann. Alt genug. Wenn du ihn ohne Zwischenfälle zum Stall reiten kannst, dürft ihr beide mit«, entschied Araco.
Pinus strahlte, schwang sich auf den Braunen und lenkte ihn in flottem Trab zum Stall. Araco sah ihnen noch eine Weile nach. Er seufzte. Wenn nur alles so einfach werden würde.