Jetzt ist es soweit: Der erste Studientag. Auf diesen Tag habe ich fast mein ganzes Leben gewartet, endlich raus aus meinem kleinen Dorf und rein in die Großstadt, endlich frei.
Der Abschied von meiner Familie in Woodford fiel mir sehr schwer, aber ich wusste, dass wenn ich was erreichen möchte, ich von zu Hause weg muss. Doch diese neuen Probleme hätte ich mir nicht mal in meinen kühnsten Träumen vorstellen können…
Aber alles auf Anfang. Vor einer Woche bin ich bei meiner älteren Cousine Sarah eingezogen, die mir angeboten hat zur Untermiete bei ihr zu wohnen. Da ich derzeit nicht wirklich gut betucht bin, hatte ich keine andere Wahl als dieses Angebot anzunehmen.
Sarah ist eigentlich ein guter Mensch, jedoch kann sie extrem zickig und stur sein, was ein Zusammenwohnen nicht gerade erleichtert. Aber ich bin mir sicher wir werden das schon hinbekommen, hoffe ich zumindest..
Aber davon lasse ich mich nicht runterziehen: Heute beginnt ein neues, spannendes und tolles Leben.
Nun stand ich vor einem riesigen Eingangstor, das Herz so laut schlagend, dass ich es hören konnte. Ich stellte mir im Vorhinein so viele Fragen: Werde ich das Psychologiestudium packen?, Werde ich schnell neue Freunde finden? und was, wenn es nicht die richtige Entscheidung gewesen war? Aber für Zweifel war jetzt keine Zeit, ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, öffnete das Eingangstor und ging in ein großes Foyer. Was mich dahinter erwartete haute mich fast um. Es war aufgebaut wie eine riesige Kuppel, verziert mit einem wunderschönen Fresko. Die Decke erstrahlte in allen Farben des Regenbogens und ich schwor mir die einzelnen Szenen später genauer anzusehen.
So viele Menschen auf einmal habe ich noch nie zuvor gesehen. Sie sahen abgehetzt und übermüdet aus, ob ich in ein paar Monaten auch so aussehen würde? Alle Studenten und Professoren machten den Anschein sie wüssten ganz genau wo sie hinwollten, nur ich war völlig ratlos. In diesem überwältigendem Moment entdeckte ich zu meiner Rettung einen Infostand für Erstsemester. Davor sammelten sich schon viele neue Gesichter, die zu meiner Erleichterung genauso überfordert aussahen wie ich. Ich ging geradewegs auf die ältere Frau, mit einem Klemmbrett in der Hand, zu. Sie sah mich streng an und bevor ich mich vorstellen konnte fragte sie schroff: „Name?“, ich antwortete ein bisschen verdutzt: „Hailey Wilson, ich möchte Psychologie studieren.“. Die Frau musterte mich einmal von oben bis unten und sagte: „Herzlichen Glückwunsch, ich bin Miss Martin, verantwortlich für alle Neuanfänger.“. Und so wie sie es sagte, spürte man regelrecht, dass sie diese Aufgabe ganz und gar nicht gern machte. Sie erzählte weiter: „Heute ist euer erster Tag an der Newcastle University, ich werde euch nun herumführen und die wichtigsten Anhaltspunkte zeigen. Nicht trödeln, quatschen oder sonstiges, ich werde es euch nur einmal erklären. Also folgt mir!“. Da ich mich nicht schon am ersten Tag unbeliebt machen wollte, folgte ich ihr tonlos und meine Kommilitonen taten es mir gleich. Zuerst ging sie mit uns in einen der vielen großen Hörsäle. Dieser war so riesig und beeindruckend, dass ich kurz schlucken musste. Es waren hunderte von Sitzplätzen, in mindestens genauso so vielen Reihen, ich konnte es kaum erwarten hier zu sitzen und meinem Professor zuzuhören. Am unteren Ende der vielen Sitzreihen war ein Pult, ein Schreibtisch und ein sehr sehr großes Whiteboard. Ich war nicht die Einzige, die von diesem Bild fasziniert war. Ein schlankes, blondes Mädchen sagte zu mir: „ Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich hier bin.“. Sie war mir von Anfang an sehr sympathisch, jedoch erntete ihre nette Bemerkung einen mahnenden Blick von Miss Martin. Ich nahm mir vor nach der Führung eine Unterhaltung mit ihr anzufangen, schließlich möchte ich ja neue Freunde finden.
Die Führung ging weiter und wir liefen einen endlos langen Korridor nach hinten. An den Wänden hangen Porträts von berühmten Absolventen der Universität, mir kam allerdings niemand bekannt vor. Und trotzdem gefiel mir die Vorstellung vielleicht eines Tages auch hier zu hängen. Am Ende des langen Flures war die Universitätsbibliothek. Okay ich hatte mich geirrt, ich dachte der Hörsaal wäre riesig und wunderschön gewesen, aber dieser Anblick war noch viel gewaltiger und schöner. Am Eingang befand sich eine Rezeption, ähnlich wie in einem Hotel. Eine nette ältere Frau lächelte uns an und lud uns mit diesem Lächeln praktisch in die Bibliothek ein. Sie begrüßte uns: „Hallöchen, ich bin Misses Anderson und für all eure Probleme mit Büchern verantwortlich. Also traut euch ruhig auf mich zuzukommen und mir allerhand Löcher in den Bauch zu fragen. Aber jetzt seht euch erstmal in Ruhe um. Die Regale sind nach Genres und dann nach Alphabet geordnet, wenn ihr was nicht findet könnt ihr auch zu mir kommen und wir schauen gemeinsam im Computer nach. Viel Spaß.“. Keiner von uns rührte sich, denn alle warteten auf ein Zeichen von Miss Martin, ob wir wirklich stöbern durften. Sie rang sich ein müdes Lächeln ab und nickte uns zu. Danach sagte sie noch: „In 20 Minuten sind alle wieder an der Rezeption, wer zu spät kommt hat Pech.“
Mit diesem Startzeichen setzte ich mich in Bewegung und suchte nach einer Abteilung mit Psychologiebüchern. In der Mitte war ein gerader Flur, der durch die gesamte Bibliothek führte. Rechts und links rankten sich riesige Bücherregale empor. Dazwischen waren hin und wieder Schreibtische mit Stühlen aufgestellt, an denen sich Studenten zum Lernen und Hausarbeiten schreiben trafen.
Als ich mich endlich orientiert hatte, fand ich die Bücherregale mit den Psychologiebüchern. Es waren so unfassbar viele, und vor allem Unbekannte, dass ich einfach hineingriff und irgendeines herausnahm. Darauf stand: „Lehrbuch der systematischen Therapie und Beratung“. Ich blätterte es in der Mitte auf und begann zu lesen. Leider gar nicht zu meiner Überraschung, verstand ich nur Bahnhof, hoffentlich erklären die Professoren das besser… Ich stöberte noch etwas weiter und entdeckte noch viele weitere unverständliche Bücher. Plötzlich fielen mir die 20 Minuten wieder ein und ich schaute schnell auf die Uhr. Ich hatte noch eine Minute, na super. Schnell stellte ich das Buch zurück ins Regal und sprintete los. Da ich nicht gerade ein leichtfüßiger Mensch bin, erntete ich von lernenden Studenten böse Blicke und Ermahnungen ich solle doch leiser sein. Das war mir allerdings herzlich egal, ich musste nur pünktlich sein. In letzter Sekunde erreichte ich die Rezeption, bekam einen strafenden Blick von Miss Martin und war natürlich die Letzte. Sie setzte fort: „ Da nun endlich Alle wieder da sind, können wir ja weitergehen.“ Ich wäre am liebsten im Boden versunken und folgte ihr stumm weiter. Das nette Mädchen von vorhin schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und ich konnte nicht anders als zurück zu lächeln. Sie hatte große braune Augen mit einem grünem Punkt darin, so etwas Schönes hatte ich noch nie zuvor gesehen. Sie trug ein hübsches dunkelgrünes Kleid, was ihre Augen nur noch mehr betonte. Und so, wie sie da neben mir stand, sah sie einfach perfekt aus.
Der letzte Punkt, auf unserer Tour, war die Mensa. Miss Martin erklärte uns kurz das System und dann war Mittagspause. Wir stellten uns hinter der langen Schlange an und warteten. Ich bestellte Pasta mit Tomatensauce und eine Cola. Nachdem ich bezahlt hatte, folgte eine unangenehme Situation. Wo sollte ich mich nur hinsetzen? Von allen Seiten starrten mich Studenten an und ich konnte keinen leeren Tisch ausmachen, ich musste mich wohl oder übel zu den Anderen setzen. Zu meiner Erleichterung rief jemand hinter mir: „Hey du mit den braunen Haaren, setz dich doch zu uns!“. Es war das hübsche blonde Mädchen von erst und ich war ihr unendlich dankbar dafür. Sie stellte sich mir vor „ Hey ich bin Jamie und das sind Lisa, Tim und Marco. Und wie heißt du?“, ich antwortete: „ Ich bin Hailey aus Woodford, aber den Ort kennt ihr bestimmt nicht. Wo kommt ihr so her?“. Jamie lächelte mich an und sagte: „ Nein den Ort kenne ich tatsächlich nicht, ich komme aus London.“, und schon fand ich sie noch viel cooler als zuvor. Auch die Anderen fingen an von ihrer Heimat zu erzählen, nur ich hatte leider noch keinerlei spannende Dinge in meinem kleinen Örtchen erlebt. Aber das störte sie nicht, sie redeten einfach weiter und ich hörte aufmerksam zu und aß nebenbei meine Nudeln. Diese schmeckten zu meiner Überraschung gar nicht mal so schlecht und ich fing an mein neues Leben zu genießen.
Als wir fertig waren mit Essen, standen wir auf um das Geschirr wegzuräumen. Gerade als ich mich umdrehen wollte, rempelte mich irgendsoein Idiot an und ich kippte den Rest der Tomatensauce voll über meine weiße Bluse. Schnell drehte ich mich um, damit ich dem Idioten meine Meinung sagen konnte. Doch es ging nicht. Ich schaute ihn einfach nur an. Er war sehr groß und die Muskeln schienen durch sein hellblaues Hemd. Er hatte dunkelbraune Haare und die schönsten meerblauen Augen, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Na toll, noch so ein perfektes Wesen. Hier wimmelte es anscheinend nur so von denen..
Nach ein paar Sekunden wurde mir bewusst, dass ich ihn total angestarrt hatte und fing mich wieder ein kleines Bisschen. Und in diesem Moment sagte er auch schon zu mir: „Sag mal kannst du nicht aufpassen, ich hätte fast mein Essen verkippt, echt eh typisch Ersti’s.“. Mit dieser Bemerkung verschwand er dann auch schon wieder. Und das Einzige was ich denken konnte war: So ein Arschloch, aber leider ein verdammt heißes Arschloch. Auch Jamie konnte nicht glauben, was gerade passiert war und fing lauthals an zu lachen. Wahrscheinlich sah ich mit meinem Saucenfleck auf der Bluse zum schreien aus. Sie hatte so ein ansteckendes Lachen, dass ich nicht anders konnte als mit zu lachen. Nachdem wir uns eingekriegt hatten sagte sie: „So ein Idiot, nicht mal entschuldigen konnte der sich, dabei war es voll seine Schuld, also echt.“ Sie unterstrich ihre Aussage mit einem genervten Gesichtsausdruck und ich machte prompt mit.
Ich war froh so schnell eine neue Freundin gefunden zu haben, ich habe das Gefühl wir werden uns sehr gut verstehen.
Nach dem kleinen Missgeschick versuchten wir auf der Toilette den Fleck so gut es ging mit Wasser rauszuwaschen, was natürlich nicht sonderlich gut gelang. Warum passierten solche Dinge eigentlich immer nur mir? Nichts desto trotz musste der Tag weitergehen und wir gingen zu unserer Einführungsveranstaltung im Hörsaal. Wir setzten uns in eine der obersten Reihen und warteten auf den Beginn.
Ungefähr 10 Minuten zu spät kommt ein junger Mann in den Hörsaal, unser Professor.
Als er an seinem Pult angekommen war, erkannte ich ihn sofort wieder: Es war der Idiot aus der Mensa und er war mein Professor, schlimmer konnte es nicht mehr werden.
Er stellte sich vor: „ Hallo mein Name ist Christian Payne und ich bin ihr Professor für die ersten Semester Psychologie. Bevor einige Fragen aufkommen: Ja ich bin noch sehr jung und ja ich habe einen sehr guten Abschluss gemacht und darf jetzt vor ihnen promovieren. Trotzdem sollten sie mich durchaus ernst nehmen, ich bin nicht ihr Kumpel, sondern ihr Professor. Wer bei mir etwas Lernen möchte ist an der richtigen Adresse, wer allerdings nur seinen Spaß haben möchte und das hier nicht ernst nimmt, kann direkt wieder gehen und sollte nicht meine Zeit verschwenden.“. Puh, das war mal eine Ansage. Niemand traute sich auch nur zu zucken, nur Jamie sah mich an und flüsterte in mein Ohr: „Na das kann ja heiter werden.“