Wackelig stand ich vor dem offenen Fenster und zog gierig die Luft ein. Mit jedem Atemzug lichtete sich der Nebel in meinen Gedanken. Konnte es wirklich war sein? Hatte Magnus recht mit seiner Theorie? Hatte jemand versucht Besitz von mir zu ergreifen? Doch warum?
Rund um mir vernahm ich ein dichtes Stimmengewirr. Ryder und Samuel sprachen mit verhaltenen Stimmen mit Magnus und Tristan.
„Ich dachte es wäre nur ein Märchen?" flüsterte ich zu mir selbst.
„Wovon redest du?" hörte ich Taylors Stimme neben mir.
„Die Gabe des Besitzergreifens eines Geistes. Ich dachte es wäre nur ein Märchen, dass es diese Gabe gibt," stellte ich nüchtern fest.
Taylor begann rau zu lachen. „Weil du noch niemand mit dieser Gabe begegnet bist dachtest du es gäbe sie nicht."
„Nun ja, ja." Nachdenklich hob ich meinen Kopf.
Taylor seufzte und lehnte sich neben mir an das Fensterbrett.
„Es liegt in der Natur des Menschen nur an Dinge zu glauben die sie mit eigenen Augen gesehen haben oder sogar angefasst. Du musst aber wissen, dass es Dinge gibt die man weder sehen noch anfassen kann und doch existieren sie."
„So wie deine Gabe?"
Taylor lächelte. „So wie meine Gabe. Oder hast du je jemanden gesehen mit meiner Gabe?"
Ich schüttelte den Kopf.
„Siehst du: Und doch gibt es sie. Warum also sollte es deiner Meinung nach niemanden geben der von anderen Besitzergreifen kann?"
Nachdenklich wandte ich mich wieder zu Fenster und starrte in die schwärze der Nacht. Vor mir am Himmel stand groß und Hell der Mond. Sein milchiges Licht erleuchtete das ansonsten dunkle Zimmer in dem wir standen. Das von Frost bedeckte Gras im Hof glitzerte im Licht des Mondes wie tausende von Diamanten. Ich dachte über Taylors Frage nach während ich den glitzernden Hof betrachtete.
„Es ist beunruhigend," antwortete ich schließlich wahrheitsgemäß.
Ich spürte wie er näherkam und hörte ihn seufzen.
„Das ist es," flüsterte er.
„Es ist beunruhigend zu wissen das jemand fremdes in meinem Kopf war, meine Gedanken und Gefühle gelesen hat," murmelte ich.
Einen Moment war es still, alles was ich hörte war das Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume des Waldes in weiter Ferne.
„Das stimmt, aber wir können es auch als unseren Vorteil nutzen," meldete sich Magnus Stimme hinter uns. Ich hatte gar nicht bemerkt das die anderen ihre Debatte beendet hatten. Langsam drehte ich mich vom Fenster weg.
„Wie meinst du das?" fragte ich ihn vorsichtig und starrte in sein blasses Gesicht.
„Wenn du es einmal zulassen würdest, dass dieser Engel Besitz von dir übernehmen würde, könnten wir herausfinden wer sich hinter den Angriffen verbirgt," erklärte er.
„Du weißt hoffentlich was du von mir erwartest?"
Magnus seufzt. „Das weiß ich nur zu gut."
„Warum verlangst du es dann von ihr?" knurrte Taylor.
„Wir wissen um die Gefahren. Auch wir begeben uns in großer Gefahr, wenn wir es zulassen," meldete sich nun Samuel zu Wort. „Aber wir müssen wissen mit welchem Gegner wir es zu tun haben."
„Aber wie soll das gehen? Das kann ich doch nicht kontrollieren," fragte ich verwirrt.
„Da hat sie nicht Unrecht," gab mir Ryder recht.
„Vielleicht lässt sie der Engel überwachen?" gab Rose zu bedenken und sah sich vorsichtig um.
„Das glaube ich eher kaum," murmelte Tristan müde.
„Oder vielleicht lässt er die Verbindung immer bestehen und sobald sie etwas spürt intensiviert er die Verbindung?" meldete sich erstmals Luna zu Wort.
Magnus hob verwundert den Kopf.
„Das ist es," murmelte er.
„Ich kann deinen Gedanken nicht folgen, Bruder. Erklär es mir also." Tristan drehte sich zu seinen besten Freund.
„Nun, dieser mysteriöse Engel kann es sich nicht leisten Raven bespitzeln zu lassen denn wenn sie es merken würde, würde Michael tausende von Engelskriegern losschicken auf die Suche nach ihm. Das wäre Kontraproduktiv den inzwischen würde ihm oder ihr entgehen was Raven macht. Also muss er die Verbindung zu seinem Opfer bestehen lassen was ihn oder sie mit Sicherheit schwächt. Was uns gewissermaßen vom Vorteil ist," erklärte Magnus aufgeregt.
„Warum ist es von Vorteil?" wollte Ryder nachdenklich wissen.
„Weil es ihn schwächt. Die Benutzung der Gabe schwächt den Engel," murmelte Luna. „So ist er angreifbar."
Magnus nickte zustimmend. „So ist es."
„Soll heißen, wenn Raven die Verbindung zulassen würde, würde es demjenigen für gewisse Zeit außer Gefecht setzen," mutmaßte Tristan.
„Könnte sein."
„Je mehr ich darüber nachdenke desto mehr glaube ich nicht das es sich um den Halben Erzengel handelt," warf Samuel seine Überlegung ein.
„Zu diesem Schluss bin ich auch schon gekommen. Scheint so als würde dieser Engel mächtige Verbündete haben," gab ihm Magnus recht.
„Und diese Verbündete waren die ganze Zeit hier an der Schule," schloss ich seine Gedanken. Magnus nickte traurig. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Wir hatten unsere Feinde die ganze Zeit unter uns gehabt. Mir kam ein schrecklicher Gedanke.
Ich drehte mich zu Tristan. „Du hast ihn gesehen oder? Darum warst du in Fallen City. Du hast diesen Halbengel verfolgt."
Tristan senkte seinen Blick. „Ich war in dieser Nacht im Prüfungstrakt, das stimmt. Da hörte ich Stimmen. Eine weibliche und eine männliche Stimme. Ich kannte sie nicht," begann er zu erzählen. „Sie kamen näher. Schnell verschwand ich in einem der Kontrollräume, versteckte mich in einem Schrank und lies die Tür einen Spalt offen so, dass ich etwas sah. Sie betraten das Zimmer. Es war der Kontrollraum mit den ganzen Portalen. Die Frau lachte und scherzte darüber das noch keiner der Wächter verstanden habe das seit kurzem ein Portal dazu gekommen war. Sie bezeichnete sie als Idioten. Der Mann lachte die ganze Zeit. Sie gingen weiter bis in die hinterste Ecke des Raumes. Ich hielt die ganze Zeit den Atem an und lehnte mich näher an den Türspalt. Doch ich konnte nicht viel erkennen. Es war Dunkel. Kein Mond stand am Himmel," Tristan schluckte.
„Sie standen nebeneinander vor einer großen Hölzernen Tür. Die Frau hob ihren Arm und sprach einen Spruch in Latein. Schwarzer Nebel stieg auf und hüllte die beiden ein. Ein zischen ertönte und die Tür sprang greinend auf. Ein unheimliches Licht erschien und der Mann trat in dieses Licht, gefolgt von der Frau. Als sie nicht zurück kamen traute ich mich schließlich aus mein Versteck."
Tristan hielt kurz inne. Dann fuhr er mit fester Stimme fort. „Ich wusste das hier etwas nicht Stimmte. Ich hatte oft genug gesehen wie mein Halbbruder ein Portal öffnet. Dieses Portal war mit schwarzer Magie geöffnet worden und nicht mit weißer. Diese Frau zog ihre Macht aus der Dunkelheit und nicht aus dem hellen Licht des Mondes wie wir anderen. Also schlich ich mich zur Tür, immer darauf lauschend ob sie wiederkamen. Die Frau hatte die Tür nicht richtig geschlossen. Durch einen Spalt fiel das unheimliche Licht in den Raum."
Wieder hielt er inne, gefangen in seinen Erinnerungen.
„Ich hob meine Hand und griff nach den abgenutzten rostigen Türknauf. Mit all meinem Mut zog ich an der schweren Tür. Vor mir erstreckte sich ein staubiger Fußweg. Am Ende erhob sich eine Steinmauer um einer Stadt die ich noch nie gesehen habe, aber instinktiv wusste ich welche Stadt es war. Ich hatte oft genug in den Büchern darüber gelesen. Die Stadt der gefallenen Engel." Tristan schluckte wieder. „Ich war ein Idiot."
„Warum?" wollte ich wissen.
Tristan hob seinen Kopf. „Ich dachte ich könnte diese beiden alleine zur Strecke bringen."
Magnus schnaubte. „Wenn du das wirklich dachtest, bist du wirklich verrückt."
Tristan senkte wieder seinen Kopf. „Glaub mir Magnus, das habe ich schnell genug am eigenen Leib erfahren."
„Wie bist du dann in die Stadt gekommen?" wollte Samuel wissen.
Tristan zuckte mit den Schultern. „Ich habe mir zwei Dolche und ein Schwert geschnappt, bin durch das Portal und den Fußweg entlang bis zur Mauer. An der Mauer angekommen bin ich hinaufgeklettert und dann über ein Holzbrett auf eines der Hausdächer. Von dort war es leicht weiterzukommen," erzählte er weiter. „Als ich in Fallen City ankam war die Stadt in Aufruhr. Luzifers Getreuen riefen zum Krieg."
„Die zwei die du verfolgt hast: Hast du sie je wirklich gesehen? Erinnerst du dich wie sie aussahen?" fragte Luna vorsichtig.
Er schüttelte den Kopf. „Als das Licht des Portals auf sie viel erkannte ich nur einzelne Details aber ich sah sie nie vollkommen."
„Was hast du erkannt?"
Tristan dachte kurz nach. „Beide waren schwarz gekleidet, aber das sind fast alle Kriegerschüler."
„Denk scharf nach. Fällt dir sonst noch was ein was die beiden Identifizieren könnte?" fragte Luna sanft.
„Nun das Mädchen war ungefähr in der gleichen Größe wie Raven. Ja wenn ich mich richtig erinnere hatte sie sogar die Haare gleich da ich kurz glaubte es wäre sie."
Kalter Schauer lief mir über den Rücken. Lief eine verrückte Doppelgängerin von mir hier herum?
„Woran erkanntest du das es nicht Raven war?" wollte Rose wissen.
„Ihre Stimme war vollkommen anders. Raven hat eine Sanfte Stimme. Dieses Mädchen hatte eine Eiseskälte in der Stimme die mich erschrak," erklärte er.
„Und der Mann?"
„Er war Riesengroß und plump. Ein Rücken wie ein Schrank und kaum Haar auf dem Kopf. Ich schätze ihn auf Fünfzig."
„Also hast du sie hier in der Schule nie gesehen?" wollte Samuel wissen.
„Vielleicht einer von der Küche?" schätzte Magnus.
Doch Tristan schüttelte den Kopf.
„Ich habe beide noch nie hier gesehen."
„Wie kamen sie dann in die Schule?" Rose schüttelte den Kopf. „Woher wussten sie wo die Portale sind? Das ergibt keinen Sinn."
„Sie wussten es, weil jemand es ihnen gezeigt hat," stellte Luna fest.
„Und wer hat es ihnen gezeigt? Haben sie sich einen Reiseführer genommen?" Rose funkelte Luna finster entgegen. „Niemand außerhalb der Schule kennt sich in diesem Gebäude aus."
„Es ist wahrlich ein Labyrinth, das möchte ich nicht bestreiten aber selbst ein Labyrinth kann bezwungen werden. Du brauchst nur den Hinweisen derer Folgen die schon darin waren," gab Luna zu bedenken.
Rose starrte sie ungläubig an. „Die Hinweise aus Ravens Gedanken."
„Exakt, Schwester."
Rose schluckte. „Aber warum?"
Luna verzog nachdenklich das Gesicht. „Ich befürchte um das Schwert zu finden."
„Ich muss zugeben wir haben uns einen gefährlichen Gegner ausgesucht," gab Samuel nachdenklich zu bedenken. „Aber ich bin gefährlicher."
„Müssen wir uns um deine Loyalität Gedanken machen?" wollte Rose wissen. Ihr Blick war unergründlich. Samuel lachte. „Meine Loyalität ist Unkäuflich. Doch dem, dem ich Treue schwöre, dem folge ich bis in den Tod."
„Sehr erbaulich Samuel," Rose verdrehte die Augen. „Doch eines solltest du wissen: Solltest du Raven belügen oder verletzen wird es das letzte sein was du getan hast."
Nachdenklich betrachtete ich mein Gefolge. Mein Gefühl sagte mir das wir uns ganz nah am Abgrund befanden und das ohne Sicherheitsgurt. Vor dem freien Fall in eine Ungewisse Zukunft.