Mit einer einladenden Handbewegung bat Ray mich einzutreten. Zögernd trat ich über die Schwelle. Vor mir erstreckte sich Luzifers Thronsaal in all seiner Pracht. Gesäumt von unzähligen Marmorengeln schritt ich langsam über den schwarzen Samtteppich, der bis zu der pyramidenförmigen Erhöhung führte, auf der der König der Unterwelt thronte. Erstaunt beobachtete ich wie Luzifer sich langsam erhob und dann würdevoll die Treppen herunterstieg. Anders als mein hoher Vater trug Luzifer nicht die goldbestickten wertvollen Roben, die seinen Stand unter den Engeln hervorhob. Er trug dunkle Jeans und ein schwarzes Hemd wo die oberen Knöpfe offen waren. Am Ende der Treppe blieb er wartend stehen. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ruckartig blieb ich stehen. Ein warmer Körper prallte gegen mich. Ich musste mich nicht umdrehen um zu wissen wer es war.
„Was ist los?“ ertönte Emanuels leise Stimme an meinem Ohr. „Alles in Ordnung?“
„Ich… bin mir nicht sicher… ob ich es wissen möchte“ antwortete ich zerknirscht. Mein Blick war immer noch auf den Herrn der Unterwelt gerichtet. Er stand würdevoll und ruhig am Ende des Teppichs. Seine kohlrabenschwarzen Haare waren kurz und ordentlich. Nur einzelne graue Strähnen durchzogen seine Haare an den Schläfen.
„Glaub mir, Raven. Sobald du es weißt macht alles einen Sinn“ hauchte er in mein Ohr. Ich nickte und atmete tief ein und aus. Mit klopfendem Herzen ging ich weiter, an meiner Seite meine drei Gefährten. Zwei Meter vor Lucifer blieb ich stehen. Aus den Augenwinkeln sah ich wie Emanuel, Hope und Ray hinter mir stehen blieben. Mit klopfendem Herzen verneigte ich mich vor dem gefallenen Erzengel.
„Ich danke für die Audienz, Herr Luzifer. Es ist mir eine große Ehre“ bedankte ich mich nervös. Als ich meinen Kopf wieder hob sah ich wie Luzifers dunklen Augen mich musterten.
Nach einigen unangenehmen Minuten seufzte er und trat näher.
„Du siehst aus wie deine Mutter“ stellte er mit warmer Stimme fest.
Ich biss auf meine Unterlippe. Den vergleich hatte ich schon oft gehört. Ich wusste bis heute nicht ob es Fluch oder Segen war. Somit wusste ich nicht was ich darauf antworten sollte.
„Was für eine Schande das du sie nie kennenlernen durftest“ fuhr er unbeirrt fort und sah mir in die Augen. Ich erkannte tiefe Trauer in seinen Augen. „Sie war der netteste Mensch, dem ich je begegnet bin. Sie ist viel zu früh von uns gegangen“
Ich nickte nur, unfähig etwas zu sagen.
„Du wirst dich fragen warum ich dich zu mir holen lies“ wechselte er das Thema und wandte mir nun seinen Rücken zu.
Ich schluckte. „Nun, ihr Schützling hat etwas angedeutet“ begann ich vorsichtig.
Luzifer fuhr erschrocken herum. „Was hast du?“ Seine Augen funkelten Ray wütend an.
„Das ist nicht meine Schuld“ murmelte Ray ertappt und warf mir einen sauren Blick zu. „Sie hat die Gemälde im Gang gesehen“
Luzifer dachte einen Moment über das gesagte nach, dann nickte er beschwichtigt.
„Ich denke du hast viele Fragen“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Ich schluckte. „Warum haben sie ein Gemälde mit meinen Eltern?“ platzt es aus mir heraus.
Ich war zu weit gegangen, war das erste was mir durch den Kopf ging als Luzifers Augen sich förmlich in mich bohrten. Doch nach einigen höllischen Sekunden wandte er sich von mir und setzte sich seufzend auf die unteren Treppen.
„Es ist eine verwirrende Geschichte“ begann er schließlich zu erzählen. „Alle Erzengel sind Brüder musst du wissen. Michael ist der Älteste. Er war schon immer daran interessiert das alles seine Ordnung hat. Die anderen hatten kein Problem damit. Sie unterwarfen sich seiner Herrschaft. Doch ich konnte es nicht“
Ruhig stand ich vor ihm. In meinem Hirn ratterte es. Bilder entstanden vor meinem inneren Auge. Bilder von Brüdern die unterschiedlicher nicht sein konnten: Einer Machthungrig, der andere Besonnen.
„Warum konntet ihr es nicht?“ wollte ich wissen.
Er hatte seinen rechten Ellbogen auf dem Knie und sein Kinn in seine Handfläche gestützt. So leger würde man ihn nie für den Herrn der Unterwelt halten.
„Ich war nicht einverstanden… mit seiner Vorgehensweise“ antwortete er mir nach einigen Minuten.
Das kam mir schrecklich bekannt vor: Auch ich war mit einigen Methoden meines Vaters nicht einverstanden. Ich nickte kaum merklich. Luzifers Augen leuchteten auf als hätten sie meinen Gedanken gehört. Irritiert sah ich mich um. Hatte ich meinen Gedanken unbemerkt ausgesprochen. Doch niemand sonst schien es gehört zu haben. Als ich mich wieder zu Luzifer drehte und es schon als optische Täuschung abtat war ein Lächeln auf sein Gesicht erschienen.
„Es wundert mich nicht das du ebenfalls mit seinen Methoden haderst“ sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Woher…?“ doch die Frage beantwortete sich von selbst. Die Erzengel hatten Mächte, das wusste ich aus der Akademie. Doch bis jetzt war ich keinem Gedankenleser begegnet.
„Sie können Gedankenlesen?“
Anmutig erhob er sich von der Treppe. „Ja, Raven. Und du kannst ruhig Du zu mir sagen“ seufzend trat er wieder näher zu mir. „Du bist noch keinem begegnet da ich der einzige bin, der das kann“
„Könnten Sie… könntest du damit aufhören? Bitte“ bat ich ihn verwirrt.
„Womit?“ Auf seiner Stirn erschien eine tiefe Sorgenfalte.
„Auf meine Gedanken zu antworten. Das verwirrt mich“ antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Das sag ich ihm schon seit Jahren“ warf Ray seinen Senf dazu und sah seinen Adoptivvater mit einem Blick an der ‚Hab-ich-es-dir-nicht-gesagt?‘ bedeutetet.
„Ach, halt doch deine Klappe“ murmelte Hope neben mir.
Ein leichtes Lächeln erschien auf Luzifers Gesicht während er eine silberne angelaufene Taschenuhr aus seiner Hosentasche zog. Dieselbe wie Ray, erkannte ich. Was hatte es bloß mit dieser Uhr auf sich? Nach dem er einige Zeit das Ziffernblatt studierte, steckte er die Uhr wieder zurück und wandte sich an Ray. „Du solltest jetzt los“ Ray nickte kurz und schritt durch den Saal zurück zu der Tür, durch die wir den Saal betraten hatten. Ich sah verwirrt zu Hope und Emanuel. Doch beide hoben nur irritiert die Schultern.
„Er muss sich um unsere nächsten Gäste kümmern“ antwortete der Herr der Unterwelt auf unsere ungestellte Frage.
„‘Unsere nächsten Gäste‘?“ irritiert sah Hope zu dem gefallenen Engel.
„Nun auf meine Gäste kommen wir noch zu sprechen“ begann er wieder und verschränkte sein Arme auf seinem Rücken. „Wir waren stehen geblieben bei der Tatsache das ich die Methoden meines Bruders nicht wie meine Brüder einfach hinnehmen konnte. Ich konnte mit seiner Machtgier und seinem Kontrollwahn nicht leben. Aber ich musste“ Seufzend blieb er vor einer der Marmorstatuen stehen: Einem weiblichen Engel. „Wegen deiner Mutter“
Ich schluckte. „Meiner Mutter?“ keuchte ich perplex. Mein Herz begann schneller zu schlagen.
Er nickte. „Sie war… ein beeindruckender Mensch“
Seine Worte waren schmerzvoll. „Sie… ist bei meiner Geburt gestorben“ Ich räusperte mich. „Ich habe sie nie kennengelernt“
Langsam drehte sich Luzifer zu mir. „Sie ist nicht bei deiner Geburt gestorben“
Irritiert hob ich meinen Kopf. „Doch. Sie hat es nicht geschafft“
Er schüttelte den Kopf. „Deine Mutter starb bei Angriff von Michaels Söldnern. Sie haben dich ihr aus ihren Händen gerissen und sie erstochen. Da warst du fünf Monate alt“
Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken. Könnte es sein? Könnte es wirklich sein das ich Jahre lang eine Lüge lebte?
„Warum sollten Michaels Söldner seine Tochter entführen und seine Frau töten? Das ergibt keinen Sinn?“ Ich schüttelte den Kopf da mir ein Gedanke kam, den ich aber sofort wieder los werden wollte. Doch er setzte sich in meinem Kopf fest und lies mich nicht mehr los. „Es sei denn…“ begann Luzifer und sprach meinen Gedanken dadurch laut aus.
„Es sei denn… ich wäre nicht seine Tochter“ beendete ich den Gedanken laut.
Luzifer nickte. Seine gespenstischen Augen waren auf mich gerichtet. „Du weißt das es eine Prophezeiung gibt?“
Ich nickte. „Ich habe davon gehört“ Die Erinnerung an Rose erschien in meinen Gedanken. Ein Stich fuhr mir ins Herz. Ich würde sie niemals wiedersehen.
„Michael ließ sie ändern. In jedem Buch wird seine geänderte Version gezeigt“ Ich wusste automatisch das er auf meine Gedanken reagierte.
Ich schluckte. „Was für einen nutzen hat das?“ Ich spürte wie Hope und Emanuel nervös wurden.
„Jeder sollte denken das du sein legitimes Kind bist. Das er der Vater der Prophezeiten ist. Außerdem wollte er das du auf seiner Seite kämpfst bei dem Krieg der uns bevor steht“ erklärte Luzifer.
„Was hat es mit dieser Prophezeiung auf sich?“ wollte ich wissen. „Ryder sagte er habe sie in einem Buch in der Bibliothek der Schule gefunden, doch mehr als drei Sätze sagte er nicht“
„Kannst du dich an die Sätze erinnern?“ Sein Blick lag immer noch auf mir.
Einem Moment dachte ich nach, lies den Abend im Pub Revue passieren. Es schmerzte an die letzten Stunden mit meiner Freundin zu denken.
Ich schluckte und nickte. „Der Rabe wird seine Flügel in der dunkelsten aller Stunden ausbreiten. Und der Adler macht sich auf den Weg zu ihr. Zusammen werden sie sich auf den Weg machen um des Erzengels Schwert zu finden, dass über Sieg oder Niederlage entscheidet“ rezitierte ich stockend.
Er nickte langsam. „Das sind die einzigen Sätze die Michael nicht ändern lies“
„Wie lautet die Prophezeiung richtig?“ wollte ich nun wissen.
Luzifer seufzte. „‘Zwei Raben, geboren an der Schwelle, aus dem Blut zweier großer Brüder. Die eine auf der dunklen Seite, mit Augen und Haar schwarz wie Kohle, so dunkel wie ihre Seele. Die andere auf der Lichten, mit Augen wie Bernstein, Haar wie das Gefieder eines Raben und den Elementen im Herzen. Der lichte Rabe wird seine Flügel in der dunkelsten aller Stunden ausbreiten. Der dunkle wird kommen um ihn gegenüber zu stehen. Doch der Adler macht sich auf den Weg zu ihr um in der dunkelsten Stunde beizustehen. Zusammen werden sie sich auf den Weg machen des Erzengels Schwert zu finden, dass über Sieg oder Niederlage entscheidet. Dort werden Licht und Dunkelheit aufeinandertreffen.‘“ Einen langen Moment war es still in der Halle. Das Klopfen meines Herzens pochte in meinen Ohren.
„Er wollte der Vater der Lichten sein nicht der Dunklen“ sprach ich schließlich meine Gedanken aus. „Doch das war er nicht“
Luzifer schüttelte den Kopf. „Nein. Als er das erste Mal in die Augen seiner Tochter sah und diese nicht den bernsteinfarbenen Glanz hatten, drehte er durch. Als ich und meine Frau verstanden das du die Prophezeite bist, war es schon zu spät. Ein Spion hatte es ihm verraten. Er lies seine Frau köpfen und verbannte seine Tochter in die Ruinen der gefallenen Stadt. Eine Rebellin fand sie dort und zog sie auf. Erst vor wenigen Monaten fand ich es heraus als mir seltsame Geschichten zu Ohren kamen. Nun, ich versuchte dich und deine Mutter zu schützen. Sie lief weg. Um ihr Zeit zu verschaffen, stellte ich mich gegen meinen Bruder. Doch ich hatte versagt. Seine Söldner waren schneller“ Seine Stimme erstarb. Bilder erschienen vor meinem inneren Auge: Eine Frau, die mit einem staubbedeckten Mantel bekleidet vor einer Horde Männer mit Breitschwertern davonlief. Der Sand stob unter ihren Füßen in alle Richtungen. Die Sonne brannte erbarmungslos auf ihren Körper, der schweißbedeckt war. Ihr Kind an die Brust gedrückt. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Doch die Männer holten sie hämisch lachend ein. Sie zerrten an ihr, rissen ihr am Ende das schreiende Bündel aus den Händen. Die Frau schrie und flehte. Einer der Söldner hob schließlich sein Schwert und stach es in ihre Brust. Leere Augen starrten in den blauen Himmel. Ich hob meinen Kopf. „Ich weiß welche Seite ich wähle“ stellte ich nachdenklich fest. „Mein Herz ist mein Kompass. Bis jetzt hat es mich nie enttäuscht. Auch dieses Mal nicht, denn es hat mich zu dir geführt, Vater“ Meine Augen suchten seine. Für einen Moment sah ich Stolz darin aufleuchten.
„Ich werde dich nicht enttäuschen“ versprach ich ihm.
Er schüttelte den Kopf. „Das hast du noch nie. Doch bevor du dich auf die Suche begibst, brauchst du deinen Adler“ Sein Kopf wandte sich zu der Flügeltür am Ende der Halle du just in diesem Moment aufsprang. Ein Mann bekleidet mit einem weiten Kapuzenmantel schritt auf uns zu, gefolgt von einer Horde Kapuzenträger. Vor uns kniete er sich nieder und senkte den Kopf.
„Die Garde der Assassinen. Ihnen zu diensten mein König“ knurrte der Mann. Ein Schauer lief mir über den Rücken: Die Stimme des Mannes war so scharf wie das Schwert an seiner Hüfte.