Ich war erstarrt, konnte mich nicht mehr bewegen. Mein gesamter Körper schmerzte. Wie in Trance nahm ich meine Umgebung war. Ich spürte wie mich jemand von Taylor wegzerrte. Hörte Stimmen, die etwas sagten doch die Laute drangen nicht bis zu mir hindurch. Mein Kopf war wie in Watte gepackt. Ich war eine ertrinkende im Meer des Kummers. In meinen Ohren rauschte das Wasser. Über mir schwappten die Wellen hinweg und ich ließ es zu. Starke Arme hoben mich schließlich hoch. Ich wusste nicht wer es war und es war mir auch egal. Alles war mir egal. Taylor war tot. Ich habe ihn nicht gerettet. Ich hätte ihn aufhalten sollen. Meine Augen brannten. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Um mir verschwamm der Korridor vor meinen Augen, durch dem ich getragen wurde. Ich schloss die Augen und lehnte meinen Kopf an die Schulter meines Trägers. Der herbe Geruch von Schweiß und Mann stieg mir in die Nase. Ich spürte das leichte auf und abwippen seiner Arme während er weitereilte. Nach einiger Zeit sank ich in einen traumlosen Schlaf.
Als ich schließlich erwachte war es still. Das einzige Geräusch, das ich hörte war ein ruhiges Atmen. Ich öffnete meine Augen. Dunkelheit umfing mich. Es dauerte ein wenig bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, dann erkannt ich wo ich war: Ich lag in einem Zelt. Schwaches Mondlicht erleuchtete den Stoff über mir. Meine Hand fuhr über rauem Stoff, mit dem mich jemand zugedeckt hatte. Ich wandte mich zu den Atemgeräuschen neben mir. Zuerst erkannte ich nur eine Silhouette doch als meine Augen sein Gesicht erreichten wusste ich wer hier friedlich neben mir schlief.
Leise um Ramon nicht zu wecken kletterte ich aus dem Zelt. Schwaches Mondlicht erhellten den Himmel. Die laue Nachtluft strich über mein Gesicht. Ich schloss meine Augen. Gierig zog ich die Luft in meine Lungen. Die frische Luft erweckte meinen Körper und füllte ihn vollkommen aus. Ich lauschte in die Dunkelheit. Nichts regte sich. Es war vollkommen still. Erleichtert fuhr ich mir mit den Händen durch meine Locken. Jemand hatte meinen Zopf gelöst. Nun hingen mir zerzaust die Haare über meine Schultern. Ich öffnete wieder meine Augen und sah mich prüfend um. Vor mir erhoben sich mehrere Zelte. Unter meinen nackten Füßen spürte ich den noch von der Sonne erwärmten Sand. Ziellos ging ich drauflos. Ich brauchte Bewegung und vor allem Zeit um über das geschehene nachzudenken.
Nach wenigen Minuten erkannte ich das unser Zeltlager auf einer Erhebung stand. Ich stand vor einem Abhang. Felsen und Bäume ragten aus dem steilen Gelände. Enttäuscht setzte ich mich auf einen großen Stein. Vor mir am Himmel stand der Neumond. Es war eine Sternenklare Nacht. Meine Flügel leuchteten schwach im Schein des Mondes. Der Anblick gab mir ein Stich ins Herz. Ich kämpfte mit den Tränen.
„Es wird besser“ stellte eine Stimme hinter mir fest. Erschrocken fuhr ich herum. Das Mondlicht fiel auf Remus sorgenvolles Gesicht. Auf seinem Rücken erkannte ich schneeweiße Flügel die golden im Mondlicht glänzten. Er hob entschuldigend seine Arme. Erst jetzt bemerkte ich das er nicht mehr den schwarzen Umhang trug. „Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid“ Ich nickte bloß und setzte mich mit klopfendem Herzen wieder auf den Felsen.
„Er war mein bester Freund“ Meine Stimme war nicht mehr als ein flüstern.
Remus setzte sich neben mich. „Wir kamen zu spät“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich hätte ihn aufhalten müssen. Eigentlich kannte ich ihn gut genug um zu wissen das er sich in Ärger stürzen wird“ Tränen liefen über meine Wangen.
Remus legte einen Arm um meine Schulter und zog mich sanft zu sich. Ein herber Geruch umfing mich. „Du hättest ihn nicht aufhalten können. Niemand hätte das. Es war seine freie Entscheidung sich den Rebellen entgegen zu stellen“ flüsterte er mir ins Ohr. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und richtete mich wieder auf.
„Ich habe noch nie Flügel wie deine gesehen“ wechselte ich geschickt das Thema.
Remus zog seufzend seinen Arm von meinen Schultern und starrte in die Ferne.
„Es tut mir leid, ich hätte dich nicht fragen sollen. Es war nur so, dass ich noch nie diese Färbung bei Engelsflügel gesehen habe“ nuschelte ich betreten. Unbehaglich rückte ich ein Stück von ihm weg. Ich spürte wie ich rot wurde.
Er schüttelte lachend den Kopf. „Es muss dir nicht leidtun. Du hast nichts falsch gemacht“
Sein Gesicht wurde wieder ernst. „Meine Mutter war wie du: Die Tochter eines Erzengels“ begann er nach einer längeren Pause zu erzählen.
„Warum ‚war‘? Ist sie… nicht mehr?“
Ich hörte wie er geräuschvoll den Atem einzog. „Sie ist Tod“ murmelte er schließlich. Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Ich hörte wie Grillen leise in der lauen Nachtluft zirpten. Sie mussten in den Büschen dieser kargen Landschaft hausen.
„Es tut mir leid, Remus“ entschuldigte ich mich wieder. Meine Stimme war nur ein flüstern. Doch sein Blick war starr auf die leuchtende Sichel des Mondes am Nachthimmel gerichtet.
„Es war im gleichen Jahr wie du geboren bist“ fuhr er plötzlich mit seiner Erzählung fort. „Ich war zehn Jahre alt, Ramon war ungefähr drei. Unser Vater wurde bei einem Rebellenüberfall ein paar Wochen vorher getötet. Er war ein Soldat in Luzifers Armee“
„Er ist bestimmt stolz auf dich“
Remus drehte sich zu mir. Im schwachen Mondlicht erkannte ich ein gequältes Lächeln. „Als die Rebellen in unser Dorf kamen, drückte sie mir Ramon in die Arme und flüsterte mir zu ‚Pass gut auf deinen Bruder auf, hörst du?‘“
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. „Sie wusste es“ flüsterte ich. Aus den Augenwinkeln nahm ich ein nicken war. „Sie haben sie gesucht, aber warum?“
Remus schüttelte den Kopf. „Ich weiß es bis heute nicht“
Ein Luftzug zerzauste meine Haare. Meine Kopfhaut kribbelte. Gierig atmete ich sie wieder ein. „Was geschah dann? Ich meine wer hat sich um euch gekümmert?“ wollte ich wissen. Ein weiterer Luftzug wirbelte meine Haare auf und blies sie mir ins Gesicht.
Sanft strich er mir die Strähnen aus dem Gesicht. „Wir haben uns bei einem Nachbar versteckt. Er war wie Vater Soldat. Als die Luft rein war brachte er uns in die Hauptstadt. Dort kamen wir an die Akademie der Garde“
Meine Haut kribbelte an den Stellen wo er mich berührte. „Seltsam“ murmelte ich.
Verwirrt sah er mich an. „Was ist seltsam?“
Ich holte tief Luft. „Eure Akademie. Das klingt so als wäre sie das selbe wie die Skyland Akademie“
Er zuckte mit den Schultern. „Kann schon sein“
„Also bilden die Erzengel ihre persönlichen Armeen aus, nur das Michael die Kinder von privilegierten bevorzugt und Luzifer Waisenkinder“ Schmerz durchzuckte mich. Ich kämpfte gegen die Tränen. Auf keinen Fall wollte ich vor Remus wieder in Tränen ausbrechen. Ich befand das er mich jetzt oft genug heulend gesehen hatte. Doch die Erinnerung an meine Jahre in der Akademie führten auch dazu an Taylor zu denken. Ich vermisste ihn. Nie hätte ich das für möglich gehalten. Doch er war ein Stück meines Lebens geworden in all den Jahren und dieses Stück fehlte nun. Ich fühlte mich seltsam unvollständig.
„So solltest du das nicht sehen“ beschwichtigte mich Remus kopfschüttelnd.
„Ist doch wahr“ bekräftigte ich meine Worte. „Ich muss Luzifer aber eines zu gute kommen lassen“ stellte ich fest während ich mich vom Stein erhob. „Er hat euch eine Zukunft geschenkt. Keine besonders schöne, aber es ist eine Zukunft“
Remus neigte nachdenklich seinen Kopf. „Es war meine Bestimmung“
„So wie meine es ist dieses dämliche Schwert zu suchen“ murmelte ich verärgert. „Wo sind wir eigentlich?“
Er seufzte. „In der Ödnis. Zwei Tagesmärsche von der dunklen Stadt entfernt. Wenn du da rüber schaust“ Er neigte sich zu mir und zeigte mit seinem Finger auf einem Punkt im Westen. Ich kniff die Augen zusammen. Was sollte ich dort sehen? „Einen leichten Schein müsstest du sehen“ flüsterte er mir ins Ohr. Sein warmer Atem strich über meine kalte Haut. Unbewusst schloss ich die Augen. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
„Du musst aber schon die Augen öffnen, sonst wirst du nichts sehen“ riss mich Remus belustigte Stimme aus meiner Trance. Erschrocken riss ich meine Augen auf.
„Ich sehe da aber kein…“ Doch ich sah es. Ein heller Punkt erleuchtete flackernd den Horizont. Zerknirscht schloss ich meinen Mund. Ich spürte wie Hitze in mir hochstieg. Blöder Affe!
„Ich sagte doch das du nur die Augen öffnen musst“ Seine Stimme triefte vor Schadenfreude. Ich schenkte ihm einen Mörderblick. Entschuldigend hob er seine Arme.
„Soll das die dunkle Stadt sein?“ Ich bemühte mich um einen gespielt herablassenden Ton. „Scheint mir ein wenig klein“
Remus lächelte belustigt. Seine perfekten weißen Zähne strahlten mir wie Schweinwerfer entgegen. Was um Gottes willen war nicht perfekt an diesem Mann? Er ist nicht Taylor! schrie eine Stimme in mir. Nein, er war nicht Taylor. Der stechende Schmerz fühlte mich wieder aus.
Das Lächeln auf Remus Gesicht verblasst. Er griff nach meiner Hand. Wärme durchfuhr mich als hätte jemand einen Heizstrahler eingeschalten. Ich spürte wie der Schmerz verhallte. Er verschwand nicht aber es war nicht mehr so unerträglich wie ein Messer, das meine Eingeweide zerfleischte.
„Danke“ murmelte ich und schenkte ihm ein trauriges Lächeln. Ich atmete tief durch. Langsam entzog ich ihm meine Hand. Die Wärme verschwand und die Kälte blieb. „Ich denke ich muss beginnen mit dem Schmerz zu leben. Er wird mich durch meine Aufgabe so oder so begleiten“
Ich erkannte den Schmerz, den ich in mir fühlte in Remus Augen wieder. Langsam nickte er und erhob sich. Ganz nah vor mir blieb er stehen und senkte seinen Kopf. „Falls du es nicht mehr aushältst weißt du wo du mich findest“ flüsterte er mir ins Ohr. Sein Mund war nur noch wenige Zentimeter von meiner Wange entfernt. Ich spürte wie er zögerte, doch plötzlich lagen seine Lippen sanft auf meiner Wange.
Sekunden verstrichen und ich stand angewurzelt mit geschlossenen Augen im schwachen Mondlicht. Mein Herz machte einen Salto. Schließlich spürte ich wie er zurücktrat und seine Lippen sich von meiner Haut löste. Ich öffnete irritiert meine Augen und suchte sein Gesicht.
Er nahm meine Hand in seine und hob meinen Handrücken elegant zu seinen Lippen. Sein Atem strich über die dünne Haut und lies mich zittern. „Gute Nacht, Prinzessin“ Er hauchte einen Kuss auf meine Hand und ging zurück zum Zeltlager. Vollkommen konfus sah ich ihm nach wie er zwischen den Zelten verschwand.
„Gute Nacht, Remus“ hauchte ich zitternd.
Einige Minuten vergingen bis ich meine zitternden Beine so gut im Griff hatte um zurück zum Zelt zu gehen.
Als ich die Zeltstadt erreichte stand ich vor dem nächsten Problem: Wo um Gotteswillen war das Zelt. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht die der Wind immer wieder verwehte und sah mich um. Doch ein Zelt glich dem anderen. Wie sollte ich nun das Richtige finden?
Verzweifelt drehte ich mich auf der Stelle. Diese Nacht konnte nur noch schlimmer enden. Wo sollte ich nun hin? Wann würde Ramon bemerken das ich nicht mehr neben ihm im Zelt lag? Wo war überhaupt Hope.
Den Gedanken an Ramon schob ich schnell von mir. Der wirkte so als würde ihm nicht mal ein Vulkanausbruch geschweige denn der Weltuntergang persönlich wecken können. Ich stellte es mir gerade bildlich vor, als sich ein Zelt links von mir öffnete und sich ein Schatten durch die Öffnung schob. Halb gebückt blieb er in der Öffnung sitzen.
„Deine Gedanken sind schrecklich laut, Raven“ ertönte die Stimme von Ramon. Beruhigt atmete ich aus. Eilig ging ich zu ihm und krabbelte neben ihm vorbei.
„Meine Gedanken haben dich geweckt?“ kicherte ich.
Im Halbschatten sah ich wie er nickte. „Der Gedanke in der Lava dahin zu brutzeln wie ein Würstchen auf dem Grill war nicht sonderlich schlaf fördernd“ gab er nüchtern zu.
Ich hielt mir den Mund zu um nicht laut los zu lachen. „Tut mir leid“ nuschelte ich hinter vorgehaltener Hand.
„Ich denke es ist Zeit für dich noch ein wenig zu schlafen vor du auf noch seltsamere Gedanken kommst wie du mich umbringen könntest“ stellte er fest.
„Aber ich will dich doch gar nicht umbringen“ dementierte ich. „Ich philosophierte doch nur über deine Schlafgewohnheiten“ fügte ich scherzhaft hinzu und legte mich dabei auf das Bettenlager. Ramon gab nur einen knurrenden Laut von sich und legte sich auf sein Schlaflager.
„Gute Nacht“ murmelte ich und schloss die Augen.
Doch da hörte ich schon wie Ramons Atem ruhiger wurde. Schmunzelnd schlief auch ich ein.