Perplex starrte ich auf das Kuvert. Der Geruch nach Moos und Kiefernnadeln drang an meine Nase. Woher kam der Geruch? Verblüfft hob ich den Brief an meine Nase. Das Papier verströmte den Duft nach Wald. Was für ein seltsamer Tag! dachte ich und schüttelte verwirrt den Kopf. Ich ahnte - oder nein - ich wusste von wem der Brief stammte: Diese Schrift war mir so vertraut. Wie oft schon hatte ich seine geschwungene Unterschrift auf den Trainingsplänen gesehen. Diese Schrift konnte nur von einer Person stammen: Taylor. Sollte ich ihn öffnen? Was er mir wohl schreibt? Ich atmete tief durch und griff nach der Lasche des Kuverts. Ein lauter Schnarcher von Haven lies mich erschrocken zusammenzucken. Mit zitternden Händen steckte ich eilig den ungeöffneten Brief in eines meiner Schulbücher und eilte zurück zu meinem Bett.
Erschöpft legte ich mich in mein Bett und deckte mich zu. Der Geruch von Flieder stieg mir in die Nase. Erschrocken zog ich die Decke näher zu meiner Nase. Flieder, ohne Frage, und ein Hauch von Rasierwasser. Wie kann das sein? Wie kam Taylor in unser Zimmer? Panik machte sich in mir breit. War er noch hier? Angestrengt lauschte ich in die Dunkelheit. Doch außer dem gleichmäßigen schnarchen von Haven war nichts zu hören.
Beruhigt entspannte ich mich und lies mich in mein Kissen sinken. Müde drehte ich mich auf die Seite und schloss die Augen. Ich überlegte was mir Taylor geschrieben haben könnte. Mit einem Grinsen im Gesicht schlief ich schließlich ein.
Ein lautes rumpeln und fluchen weckte mich schließlich am nächsten Morgen.
„Verdammt, wo ist es?“ hörte ich Haven schimpfen als es auch schon wieder einen Rums machte und etwas vom Gewicht eines Elefanten auf den Boden fiel.
Stöhnend drehte ich mich auf den Rücken.
„Haven? Was wird das wenn es fertig wird?“ murrte ich müde.
„Wo nach sieht es aus? Ich suche mein Ethikbuch. Gestern hatte ich es noch. Jetzt ist es weg und der Unterricht beginnt in einer halben Stunde,“ wies mich Haven zurecht während sie immer noch mit Riesenkrach Bücher umordnete was mehr nach Renovierungsarbeiten klang.
„Was? Warum hast du mich nicht geweckt?“ erschrocken sprang ich aus dem Bett und suchte meine Klamotten zusammen. Ich packte alles unter den Arm und sprintete Richtung Badezimmer.
Haven sah irritiert von ihrer Suche auf.
„Hab ich doch versucht, aber du hast was gemurmelt was ich nicht verstand und dich umgedreht. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Einen Kübel Wasser holen?“ verteidigte sich Haven und kramte weiter in ihrer Tasche.
„Das Haven, wäre heute keine schlechte Idee gewesen,“ rief ich ihr vom Bad aus zu bevor die Tür ins Schloss viel. In einer halben Stunde begann meine Prüfung. Ein Stein lag mir im Magen. Meine Hände zitterten während ich mir die Zähne putzte, das Gesicht wusch und versuchte meine wilden Locken mit einem Haargummi zu bändigen. Und das alles auf einmal. Rasch zog ich mir Jeans, ein schwarzes Shirt, meine schwarze Lederjacke und meine obligatorischen Glücksstiefel an. Schnell eilte ich zurück in das Zimmer wo Haven dabei war ihren Rucksack zu packen.
„Raven? Darf ich mir dein Ethikbuch leihen? Ich finde meines einfach nicht,“ hörte ich Haven nachfragen während ich mich fragte wo ich meinen Armschutz und meinen Handschuh fürs Bogenschießen gestern hingelegt hatte.
„Ja klar,“ antwortete ich abgelenkt.
Aus den Augenwinkeln sah ich wie Haven das erste Buch von einem Stapel auf meinem Schreibtisch nahm und in ihren Rucksack stopfte. Ein seltsames Gefühl breitete sich in mir aus: Das Gefühl als hätte ich etwas Entscheidendes vergessen. Doch ich kam nicht drauf.
„Danke Raven. Bist die Beste,“ rief mir Haven zu und eilte winkend aus dem Zimmer. Nachdenklich sah ich ihr nach. Was hatte ich vergessen und warum störte es mich plötzlich so das Haven mein Ethikbuch bei sich hatte? Schulter zuckend wandte ich mich wieder meiner Suche zu. Verärgert kniete ich mich vor mein Bett um darunter zu suchen. Kaum hatte ich mich gebückt schon sah ich sie. Sauber zusammen gelegt lag beides vor mir.
„Ha, da seid ihr ja,“ rief ich überglücklich aus und griff danach. Zufrieden stand ich auf und sah auf meine Armbanduhr. Zehn nach halb acht. Ich hatte also noch genau zwanzig Minuten um zum Prüfungstrakt zu kommen. Eilig sprintete ich aus dem Zimmer und über die Treppe hinunter bis in die riesige Eingangshalle. Eilends rannte ich in Richtung Trakt E wo die Prüfung stattfinden soll, als mich ein starker Arm abfing und um die Ecke in eine dunkle Besenkammer zog.
„Hey. Lass mich gefälligst Los, du Arsch!“ maulte ich und trat um mich.
„Psst. Mach nicht so einen Lärm, kleiner Rabe. Sonst erwischt uns noch jemand.“ ertönte die ruhige Stimme von Taylor hinter mir und ich hörte augenblicklich auf mich zu wehren. Mein Herz schlug augenblicklich schneller und Hitze stieg in meine Wangen.
Ich hörte wie Taylor hinter meinem Rücken in den Taschen seiner Jogginghose kramte, als plötzlich ein kleines Licht anging. Langsam drehte ich mich um und stolperte dabei über einen Besenstiel. Geschickt fing mich Taylor auf und stellte mich wieder auf meine Beine.
„Pass auf, Kleiner Rabe. Nicht das du dich verletzt.“
Als ich wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte wandte ich mich aus seinem Griff und trat vorsichtig ein paar Schritte zurück. Ich wollte soweit es mir die enge Besenkammer erlaubte weg von Taylor. Eine Armlänge lag nun zwischen uns. Viel zu nahe wenn es nach mir ging.
„Was willst du von mir Taylor?“ fuhr ich ihn verärgert an. Ich schwitze und hatte das Gefühl gleich zu ersticken in diesem kleinen engen Raum mit ihm. In dem kleinen Lichtkegel von Taylor's Taschenlampe sah ich Enttäuschung in seinen braunen Augen aufblitzen.
„Ich wollte dich nur fragen... Hast du den Brief gelesen?“ murmelte er geknickt.
Siedend heiß viel es mir wieder ein. Der Brief. Taylor's Brief. Ich hatte ihn in das oberste Buch des Stapels auf meinem Schreibtisch hineingeschoben. Haven hatte das erste Buch des Stapels mitgenommen. Das würde heute eine interessante Ethikstunde für Haven werden. Verzweifelt hob ich die Arme.
„Oh Nein. Das darf nicht wahr sein. Nein, nein, und nochmal nein,“ stieß ich hervor und trat verärgert gegen einen Putzkübel.
Taylor sah mich verwundert an.
„Muss ich das.…“ begann er doch ich unterbrach ihn abrupt in dem ich ihm einfach den Mund zu hielt.
„Taylor, deinen Brief hat Haven. Ich habe ihn gestern in mein Ethikbuch getan. Frag mich nicht wieso, aber das hat jetzt Haven. Das heißt wir haben ein großes Problem,“ erläuterte ich ihm die Sachlage kurz und bündig. Taylor sah mich nur verständnislos an und zog meine Hand von seinem Mund.
„Warum hast du den Brief in dein Ethikbuch gelegt?“
„Das, wenn ich ehrlich bin, weiß ich selbst nicht so genau. Um ihn vor Haven zu verstecken, denke ich,“ gab ich beschämt zu.
Taylor schüttelte lachend den Kopf. „Das hast du super hinbekommen, Raven. Jetzt kann sie ihn sich in Ruhe durchlesen und uns alles so richtig unter die Nase reiben,“ seufzte er.
„Es tut mir leid. Ich konnte ja nicht ahnen das sie ihr Ethikbuch verliert und sich meines borgt. Außerdem war ich so abgelenkt da ich meinen Armschutz und Handschuh gesucht habe und... o Gott die Prüfung. Taylor wir kommen zu spät zu unserer Prüfung,“ stellte ich bestürzt fest.
„Wir haben noch zehn Minuten Raven, das schaffen wir.“ beruhigte mich Taylor und wir verließen zusammen die Besenkammer und eilten Richtung Trakt E. Der Prüfungstrakt war ein neues Gebäude auf dem Gelände der Akademie, das nicht durch einen Gang mit dem Hauptgebäude verbunden war.
Zusammen traten wir durch eine Seitentür ins Freie, in die kalte Dezemberluft. Reif bedeckte das Gras und knisterte unter unseren Schuhen. Eisige Luft stach wie Nadeln in meine Haut. Unser Atem stieg in Dampfwölkchen vor uns auf. Wo die aufgehende Sonne auf das von Reif bedeckte Gras traf glitzerte es und Dampf stieg in die Luft. Dahinter ragten die schneebedeckten Berge in den Himmel. Alles glitzerte und schimmerte in der Sonne. Fasziniert betrachtete ich das Naturschauspiel bis mich Taylor aus den Gedanken riss in dem er mich am Arm zog und auf Trakt E deutete.
Zehn Meter vor uns stand die Tür zu Trakt E schon offen. Marvin, ein Mitschüler und Freund, stand an der Tür und winkte uns schon von weitem zu. Eilends überquerten wir das Gelände.
„Danke Marvin,“ stieß ich atemlos hervor.
Taylor nickte und gab Marvin einen Klapps auf die Schulter. „Danke Kumpel.“
„Nichts zu danken. Wo wart ihren denn? Ihr habt nur Glück das sich der Direktor auch verspätet da es länger dauerte die Gruppen auszuwählen. Ich wollte euch zwei schon suchen gehen,“ erwiderte Marvin mit seiner ruhigen Stimme während wir den Gang entlanggingen und vor der Tür des Prüfungsraumes stehen blieben. Davor standen schon etliche unserer Mitschüler die Bang in die Luft starrten und uns gar nicht zu bemerken schienen.
Nach Haven war Marvin mein engster Freund. Er hatte mich von Anfang an mit seiner ruhigen und herzlichen Art gepackt. Er hatte die selbe Größe wie ich, war von schlaksiger Statur, hatte dunkelbraune Augen und schwarze Haare. Sein lächeln steckte jeden an. Sogar der sonst eher als Einzelgänger bekannte Taylor war mit ihm befreundet. Der dunkelhäutige Junge wirkte auf viele wie der nette Junge von neben an. Allerdings sollte man sich davon nicht täuschen lassen. Marvin gehörte mit mir und Taylor zu den besten Kämpfern und Bogenschützen.
„Verschlafen,“ murmelten Taylor und ich im Chor.
Marvin sah uns entgeistert an. „Alle beide? Am gleichen Tag?“
Wir zuckten als Antwort nur mit den Schultern. „Wie läuft das mit den Gruppen? Werden diese ausgelost?“ änderte ich schnell das Thema.
Marvin schüttelte den Kopf. „Nein. Die Mentoren entscheiden an Hand der Ergebnisse unseres letzten Trainings mit wem wir in die Gruppe kommen. Wie ist bei euch das letzte Training gelaufen? Meines war eine Katastrophe. Angela, das wandelnde Unglück, hat sich doch wirklich mit ihrem Langbogen selbst bewusstlos geschlagen.“
Taylor brach augenblicklich in schallendes Gelächter aus. Mit Mühe verkniff ich mir ein Grinsen. Angela war mit Abstand die schlechteste Kriegerschülerin unseres Jahrgangs. Armer Marvin. Er tat mir wirklich leid.
„Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit,“ antwortete ich wahrheitsgemäß und vermied es dabei Taylor anzusehen. Die Erinnerung an unseren kleinen Streit im Übungsraum gestern, wobei uns unsere Mentoren zusahen und zuhörten, war noch sehr deutlich. Genau wie die Erinnerung an den Kuss im Flur danach.
„Eine kleine? Wohl eher eine große würde ich sagen,“ grummelte Taylor neben mir.
Marvin lachte. „Was ihr zwei immer zu streiten habt. Ihr klingt wie ein altes Ehepaar.“
Schnell änderte ich wieder das Thema. „Und wie geht es Angela heute? Kann sie die Prüfung machen?“
Marvin seufzte. „Sie ist im Heilerflügel und erholt sich von ihrer Gehirnerschütterung. Wenn du mich fragst ist da was gewaltig schiefgegangen als sie für das Kriegerleben erwählt wurde. Ein Leben als Heilerin oder Gelehrte wäre doch eher was für sie.“
„Oder das einer Nichterwählten.“ fügte Taylor nachdenklich hinzu.
Marvin nickte zustimmend. „Sie quält sich hierdurch dabei könnte sie anders als wir ein normales Leben führen.“
„Aber wir müssen unserer Bestimmung folgen. Wir sind Erwählte.“ fügte ich nachdenklich hinzu. Was würde ich dafür geben ein normales Leben zu führen: Alles.
Seufzend zog ich Armschutz und Handschuh an. Was würde mich hinter der Tür erwarten? Ich wusste das die Prüfung genau wie die Trainings in einer Illusion stand fand. Wir mussten eine Aufgabe erledigen in einer am Computer gemachten Welt. Neu war für mich das wir als Team antraten. Aber es war zu erwarten gewesen. Im echten Leben mussten wir das ja auch.
Plötzlich schwang die Tür auf und ein ängstliches Raunen ging durch die Menge. In der Tür stand der Direktor unserer Akademie, ein kleiner Mann mit lichten schwarzen Haaren und Brille, wie immer breit grinsend und mit einem Zettel in der Hand.
„Die Teams sind entschieden. Die Abschlussprüfung der Krieger kann hiermit beginnen,“ verkündete er mit einem Lächeln im Gesicht. „Ich wünsche euch allen viel Glück und denkt immer daran: Euer größter Feind seid ihr selbst.“ Mit diesen Worten sah er mit glänzenden Augen in die Runde aus bleichen Gesichtern. Die Prüfung hatte begonnen.