Als hätten sie meine Seele fest umschlungen, versuchten sie mich immer näher kommen zu lassen. Sie hatten längst die Kontrolle über mich gewonnen, nur meinen Geist konnten sie nicht fangen. Immer wieder traten die Befürchtungen in den Vordergrund und lösten eine eigenartige Übelkeit in mir aus, die mich zunehmend beunruhigte. Das Blut begann in meinen Adern zu pulsieren, während ich mich zwingen wollte zu blinzeln. Ohne, dass es mir jemand gesagt hatte, wusste ich, sie würden verschwinden. Nur ein Augenschlag und sie wären weg, wie das letzte Mal. Sie und ich wussten es, weswegen sie mit jeglicher Gewalt versuchten, meine Augen offen zu halten. Doch mein Verstand brachte mich zur Vernunft und ich fing an zu begreifen, dass sie niemals real sein konnten. Es war unmöglich, richtig? Ein Augenblick verging und ich schloss meine Augen, sachte als wäre es ein Genuss für mich. Ein wenig erschrak ich, als mich plötzlich Dunkelheit umgab, doch als diese wieder verschwand machte sich Erleichterung in mir breit. Sie waren verschwunden und die Normalität hatte mich eingeholt.
Genervt fummelte Tomi an meinem Jackenärmel herum und forderte mich mit einem schweren Seufzer dazu auf, endlich weiterzugehen.
Nickend gab ich mich seiner Bitte hin und trotze zusammen mit den anderen dem ungemütlichen Wind. Wie konnte es sein, dass ich mich so sehr in etwas vergessen konnte, was nicht einmal existierte? Was nicht existieren konnte? Fürs Erste verwarf ich meine aufkommenden Fragen und stellte mich dem Problem was uns immer noch umgab.
Ewigkeiten liefen wir noch die nicht endende Straße entlang, in völlige Dunkelheit eingehüllt. Je mehr wir uns vom Auto entfernten, desto nervöser und unruhiger wurde ich. In meinem Kopf spielten sich unzählige Szenarien ab, die sich hier ereignen könnten.
Was wenn uns jemand überfallen würde? Wilde Tiere uns als Beute ansehen und uns angreifen würden? Wie um Himmelswillen sollten wir uns in dieser Dunkelheit währen? Das grelle Licht unserer Handykameras war zwar ungewöhnlich hell, doch spendete es nur breites Licht.
„Was genau versprecht ihr euch von dieser Wanderung?“, hakte ich seufzend nach und verlangsamte meine Schritte etwas damit ich auf einer Höhe mit meiner Mum war. Einige Zeit schwiegen sie alle und nur das Gestapfe unserer Schuhe im Schlamm war zu hören. Doch dann kam meiner Mum eine Idee, die mich fürs Erste beruhigen sollte.
„Wir suchen nach einem Gasthaus oder einer Tankstelle. So lange wie uns nichts entgegengekommen war, dürfte das nächste Gebäude wohl nicht mehr weit entfernt sein.“ Verächtlich schnaubte ich und setzte zu weiteren Vorwürfen an, doch da unterbrach mich das Klappern von Pferdehufen auf dem kalten Asphalt und warf das begonnene Gespräch vorerst in den Schatten.
In einiger Entfernung kam eine Kutsche auf uns zu gefahren und lenkte jegliche Aufmerksamkeit auf sich. Gezogen wurde sie von zwei schneeweißen Prachtexemplaren, die ihre Köpfe majestätisch in den Himmel streckten und ein dumpfes Wiehern von sich gaben. Im Licht unserer Handytaschenlampen glänzten ihre Felle und Mähnen außergewöhnlich schön und der erste atemberaubende Eindruck hielt sich. Beide hoben sie angeberisch ihre Köpfe, während sie in einem schnellen Galopp auf uns zu preschten.
Die Kutsche lenkte ein schlanker, schwarzhaariger Mann, der von dem Kerzenschein neben sich angeleuchtet wurde. Aber immer nur kurz schwenkte die Laterne an seinem Kopf vorbei, sodass sich schnell wieder Dunkelheit über sein Gesicht legte und ihn mysteriös erscheinen ließ.
Ich war so im Staunen vertieft gewesen, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass meine Mum schon wieder völlig voreilig auf ihn zugestürmt war und nun mit theatralischen Gesten versuchte, die Kutsche zum Stehen zu bringen.
Da ich mich aufgrund meiner Mum zu schämen anfing, wendete ich schnell meine Blicke von ihr ab und widmete sie dem Kutschfahrer. Kleine Lachfältchen legten sich um seine Augen und seinen Mund und schließlich riss er seine Lippen weit auseinander und strahlte mir entgegen. Trotz dieses merkwürdigen Lächelns verschwand sein mysteriöses Erscheinen für einen Moment. Etwas verwirrt von diesen direkten Blicken, wich ich einen Schritt zurück und hoffte er würde sein durchdringendes Starren bald verlieren. Warum starrte er ausgerechnet mich an? Obwohl doch meine Mum die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog? Seine pechschwarzen Haare hatte er zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden, der sich durch den kräftigen Wind immer mehr aufzulösen drohte.
„Hey! Bitte nehmen sie uns mit“, erklang die erleichterte Stimme meiner Mum und brachte den Fahrer dazu, seine Augen endlich von mir abzuwenden. Kurz vergaß ich meine Umgebung und klatschte mir selbst etwas zu heftig gegen die Stirn, da ich mich mal wieder über die Naivität meiner Mum aufregte. Gerade befanden wir uns in irgendeinem Dorf, mitten In England und sie kam auf die grandiose Idee vorauszusetzen, dass jeder hier Englisch sprach? Wir waren im Nirgendwo, ich zweifelte sogar daran, dass die Menschen hier überhaupt perfekt Englisch sprechen würden. Immerhin gab es auf den meisten Dörfern kaum Bildung, also warum sollte es hier anders sein?
Elegant legte er eine sachte Bremsung hin und hielt direkt neben meiner Mum. Kritisch näherten sich Dad, Tom und ich.
„Natürlich, wo möchten Sie denn hin?“, fragte er zuvorkommend. Beinahe wären mir die Koffer aus den Händen gefallen, als ich seine akzentfreien Worte hörte und nun am liebsten im Erdboden versunken wäre. Er hatte mich knappe zwei Minuten zu Gesicht bekommen und schon jetzt hatte ich den Schein erweckt, völlig durchgeknallt zu sein. Wer schlug sich auch bei der ersten Begegnung die Hand gegen die Stirn?
„Hier soll ein Hotel in der Nähe sein?“
„Verstehe, Sie müssen Familie Lambrecht sein? Zwei Erwachsene und drei Kinder?“
„Zwei Kinder und ein Teenager“, verbesserte ihn Tom besserwisserisch. Kurz musste ich grinsen, als ich mich an die Zeit erinnerte, wo er mich des Öfteren als besserwisserisch erklärt hatte.
„Natürlich, Verzeihung. Wir erwarten Sie schon.“
Wir erwarten sie schon? In welchem Jahrhundert war er denn kleben geblieben? Seine geschwollene Art zu Reden klang verdächtig nach diesen alten schwarz- weiß Schinken, für die sich nur noch die eigenartigsten Menschen interessierten.
So wie meine Mum, die der festen Überzeugung war ihre Leidenschaft mit ihren Kindern teilen zu müssen. Angeblich interessiere ich mich nicht für die vergangenen Generationen und ich sei nicht Weltoffen. Völliger Schwachsinn! Sie würde wohl nie verstehen, dass ich mich einfach nicht für diese Art von Filmen begeistern könnte. Wahrscheinlich würden sie und der Kutschfahrer sich blendend verstehen, immerhin nutzten sie beide diese alten Wörter.
Während ich vor mich hingestarrt hatte und in meiner eigenen Welt versunken gewesen war, hatten die anderen bereits alle Koffer auf der Kutsche verstaut und wartete nun nur noch darauf, dass ich endlich einsteigen würde. Seufzend setzte ich meinen trägen Körper in Bewegung und ließ mich auf den einzigen, freien Platz neben dem Kutscher, nieder.
Noch bevor ich überhaupt ansatzweise bereit gewesen wäre, setzten sich die Pferde ruckartig in Gang und drehten um, damit sie wieder in die Richtung laufen konnten aus der sie gekommen waren.
Eigenartiges Schweigen legte sich über uns, das nur von dem Klappern der Hufe unter uns, unterbrochen wurde. Erfolglos versuchte ich diese Stille einfach zu genießen, doch diese innere Ruhe wollte mich einfach nicht finden. Immer wieder schweifte mein Blick unbewusst zu seinen Augen und ich fing an, ihn anzustarren so wie er es zuvor bei mir getan hatte. An irgendetwas erinnerten mich seine Augen, sodass ich ihnen einfach nicht entfliehen konnte, obwohl ich sie nur von der Seite betrachten durfte. Erst als er sich nervös zu räuspern begann, fing ich mich wieder und starrte nun dem uns entgegenkommenden Nichts, entgegen.
Langsam ging der holprige Trab in einen schnellen Galopp über, der endlich die Kutsche nicht mehr so heftig durchschüttelte.
„Wie weit ist es denn noch?“, hakte meine Mum ungeduldig nach.
„Es ist nicht mehr so weit, wenn wir dieses Tempo halten, dann sollten wir in einer knappen, halben Stunde ankommen.“ Kurz herrschte wieder dieses unangenehme Schweigen, was ich mit meinem aufdringlichen Starren wohl nicht besser gemacht hatte. Doch dann brach meine Mum die Stille wieder und löcherte den Fahrer mit ihrer ungehemmten Neugierde.
„Wo wollten Sie eigentlich hin? Ist es nicht ungewöhnlich am späten Abend mit einer Kutsche durch die Gegend zu fahren?“ Ihre Worte kamen plötzlich und unerwartet, weshalb auch ich mich etwas erschrak, doch der Mann war äußerst auffällig zusammengezuckt und wirkte nun mit seinen wandernden Blicken unheimlich nervös.
„Habe ich sie erschreckt?“, fragte Mum mit einem fast vorwurfsvollen Unterton, auf den sie kein Recht gehabt hätte. Warum konnte sie nicht ein einziges Mal ihre Neugier verstecken und die hilfsbereiten Leute in Frieden lassen?
„Nein, natürlich nicht.“
„Wo wollten Sie also hin?“
„Dies und Das erledigen“, sagte er schmunzelnd und legte ein, für diese Situation völlig überzogenes, Lächeln auf.
„Sie weichen meiner Frage aus.“
„Mum!“, knurrte ich böse und warf ihr ein paar drohende Blicke zu. Welches Vorurteil trieb sie dieses Mal dazu ihm zu misstrauen?
„Also?“
„Mum! Lass es einfach!“, zischte ich nun noch energischer und blickte dem Fahrer neben mir, entschuldigend entgegen, doch davon bekam er nicht viel mit.
„Ich wollte in die Stadt, ein paar Sachen für's Hotel kaufen.“
„Um diese Zeit?“
„Ja, um diese Zeit. Wir sind ein wenig im Stress.“ Seine freundliche Fassade wollte anfangen zu bröckeln, doch nachdem er seinen Satz beendet hatte setzte er wieder das Lächeln auf, das wir von ihm erwarteten.
„Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt, richtig?“
„Nein und das soll auch so bleiben“, meinte Dad schnell und Mum nickte ihm unterstützend zu. Sie waren die Sicherheit in Person! Was sprach schon gegen etwas normalen Smaltalk, in dem man sich anständiger Weise vorstellen sollte? Für mich war es zur Gewohnheit geworden, ihre Anweisungen nicht mehr zu befolgen und das genaue Gegenteil von dem zu tun, was sie gut fanden. Also widersetzte ich mich auch dieses Mal ihrer Meinung und stellte mich vor:
„Alexandra.“
„Wunderschöner Name, junge Dame. Ich heiße Antonius, aber du kannst mich auch Anton oder Toni nennen, wie es dir am besten gefällt.“ Zufrieden nickte ich und versuchte die genervten Blicke meiner Eltern zu ignorieren. Ohne mich umgedreht zu haben, konnte ich mir bereits ausmalen, wie sie Augen rollend hinter mir saßen und vereint die Köpfe schüttelten.
„Ich habe einen Sohn, er könnte dein Alter sein.“
„Ach ja? Wie alt ist er denn?“
„Alex es reicht, lass den Mann in Ruhe“, brummte Mum und legte ihre Hand auf meine linke Schulter, als würde das etwas an meiner Einstellung ändern.
„Schon gut Madame, sie haben doch nichts dagegen, wenn wir uns ein wenig unterhalten?“
„Ne“, brummte sie mürrisch. Schon aus diesem kurzem Wort konnte ich raushören, wie sehr sie sich zu dieser Antwort hatte überwinden müssen. Lächerlich!
„Er ist... also 16, doch er wird bald 17.“ Als würde ihm eine schwere Last von den Schultern fallen, wirkte er auf einmal viel entspannter und atmete schwer aus.
„Und wie heißt er?“ Mit einem Ruck hielt die Kutsche an und Antonius kam nicht mehr dazu seinen Namen zu verraten, denn mal wieder drängte sich meine Mum in den Vordergrund und fragte ob wir endlich da seien.
„Ja, weiter fährt diese Kutsche nicht, Sie müssen nur noch ein kleines Stück in diese Richtung und schon werden Sie da sein. Folgen Sie einfach dem kleinen, gepflasterten Weg.“
„Und was ist mit dem Auto?“ Mum und Dad sahen sich beide etwas erschrocken in die Augen, als wäre es ihnen im selben Moment eingefallen, doch nur meine Mum hatte sich getraut es auszusprechen. Wie sich jedoch herausstellte war das Auto unser geringstes Problem.
„Das werden wir morgen für Sie abholen, gehört zum Service.“
Nacheinander stiegen wir aus und hievten unsere Koffer aus der Kutsche, dieses Mal jedoch ohne seine Hilfe, was man ihm wohl nicht verübeln konnte. Meine Mum opferte sich auf und nahm Mia, meine kleine Schwester, entgegen, die die ganze Rückfahrt geschlafen hatte und es nun immer noch tat. Wir alle waren froh, dass sie immer noch im Land der Träume versunken war und so nahm mein Dad ihre Koffer entgegen, ohne sich darüber beschweren zu wollen. Kritisch starrte ich dem finsteren Weg entgegen, dem wir uns gleich stellen sollten und versuchte mir vergebens vorzustellen, wie hinter dem dichten Wald ein Hotel erscheinen würde.
„Wohnt Ihr Sohn auch hier?“
„Ja wieso?“
„Ach ich dachte,... also vielleicht könnten ihr Sohn und meine Tochter etwas miteinander unternehmen, dann ist es nicht so langweilig für sie.“ Bitte was? Versuchte sie mir etwa gerade eine Beschäftigung für diesen Urlaub zu besorgen? Wollte sie mich loswerden? Dann hätte sie mich auch einfach zuhause lassen können. Und woher kam diese plötzliche Freundlichkeit? Was für ein Ziel verfolgte sie damit? Natürlich fiel mir ihr gestelltes Lächeln als einzige auf, denn mittlerweile hatte sie ihre manipulative Masche gar perfektioniert.
„Das halte ich für keine gute Idee“, erklärte er teilnahmslos und wendete seine Blicke stur von uns ab. Für einen Moment atmete ich aus und hoffte meine Mum würde es einfach dabei belassen, doch wie es kommen musste, war auch noch mein herzallerliebster Bruder der Überzeugung er müsse seinen Senf dazugeben.
„Ich denke auch nicht, dass sie etwas zusammen machen sollten, immerhin hat sie einen Freund.“
Hatte er das gerade wirklich ausgeplappert?! Das war wieder einer dieser wundervollen und kostbaren Momente, wo ich meinen Bruder am liebsten genommen und ganz, ganz weit weg von mir gebracht hätte.Wieder ein mal war ich kurz davor gewesen meine Hand gegen die Stirn zu schlagen, doch dieses Mal konnte ich mich zurückhalten und schwor mir, ihm das irgendwann heimzuzahlen.
Es gab gute Gründe warum ich ihnen das verschwiegen hatte und wenn er auch nur halb so klug war wie er immer tat, dann konnte er sich die Antwort zusammenreimen.
In den Augen meiner Mum konnte ich erneut erkennen, wie sie sich für mich zu schämen anfing und das war der einzige Grund warum sie mich nicht nach ihm gefragt hatte.
„Wie auch immer, wir werden uns mit Sicherheit noch einmal über den Weg laufen“, meinte der Kutschfahrer sichtlich verwirrt, gab seinen Pferden eine Anweisung und preschte dann wieder in die Richtung los aus der wir gekommen waren.
Seufzend nahm ich meine Koffer und steuerte den Weg an auf den er hingewiesen hatte. Schweigsam folgten sie mir alle, so lange bis wir endlich den steilen Berg erklommen hatten und nun vor dem Gebäude standen, was sie uns ernsthaft als Hotel verkaufen wollten.
„Soll das ein Scherz sein?“, schrie ich empört auf als ich das düstere Schloss zu Gesicht bekam. Wie ein mächtiger Schatten stand es vor uns, flüsterte mir beinahe in die Ohren, dass wir ja wieder verschwinden sollten. Kritisch ließ ich meine Blicke über das Gelände schweifen und konnte meinen Augen kaum trauen, als ich den heruntergekommenen Friedhof entdeckte. Schon immer waren meine Eltern für ihren altmodischen und schlechten Geschmack bekannt gewesen, wenn es um Urlaubsziele und deren Unterkünfte ging. Doch dieses Mal hatten sie es wirklich auf die Spitze getrieben!
Die Fassade bröckelte bereits, während die Dachziegel ganz schief hingen und bei dem nächsten Windstoß runter zu stürzen drohten. Die Wände ragten ungewöhnlich weit empor und flossen in die Dachziegel hinein, ohne eine Grenze zu hinterlassen. Über den Dächern zogen pechschwarze Raben ihre Kreise und verschwanden dann im dichten Nebel, der aus dem Wald trat und das Schloss, sowie uns, immer mehr einhüllte. Ich begann zu frösteln als der eisige Wind durch meine Haare und die vertrockneten Grashalme wehte. So weit das Auge reichte gab es nur abgegraste, vertrocknete Wiesen und mystische Wälder, die jeden verschlucken wollten der sich auch nur in ihre Nähe wagte.
„Mum, das kann nicht dein ernst sein! Keine Sekunde länger werde ich hier bleiben! Nicht in diesem Sumpf!“
„Alex, entspann dich mal. Du wirst schon noch Gefallen an diesem Ort finden. An ihm und seiner Geschichte. Ich denke es wird dir gut tun, wenn du mal weg vom Alltag bist.“
„Weg vom Alltag? HA, das ich nicht lache. Du meinst wohl eher weg von der Zivilisation!“, zischte ich mürrisch und warf ihr hasserfüllte Blicke zu, die an ihrem kalten Gesichtsausdruck jedoch keinerlei Spuren hinterließen.
„Dad wusstest du, dass es so schlimm werden würde?“
„Ach komm, hör doch auf dich wie das typische Teenagerklischee aufzuführen. Genieße stattdessen lieber die Landschaft und die Geschichte, die in diesem alten Gemäuer wohl schlummern muss...“ Euphorisch verfiel mein Dad seinen ewigen Schwärmereien über die Geschichte und fing an zu spekulieren welche Geheimnisse dieser Ort wohl bergen könnte. Doch seinem langweiligen Geschwafel hörte ich längst nicht mehr zu und richtete meine Augen stattdessen auf Tomi, um von ihm Unterstützung zu bekommen. Doch Fehlanzeige, als hätte jemand sein Gehirn entfernt und ein Neues eingesetzt war er plötzlich wie hypnotisiert von
Dad`s Erzählungen und ließ sich mit diesem Wahnsinn anstecken.
„Seid ihr jetzt Beide durchgeknallt? Welche Landschaft soll ich hier genießen? Die ewigen, gleich aussehenden Wälder? Oder der Friedhof der sich dem „Hotel“ anschließt? Anne liegt jetzt am Strand und lässt es sich gut gehen und ich?...“
„Anne, Anne immer redest du von Anne. Soll sie`s doch machen. Wir sind nun mal deine Eltern und wir haben uns eben für einen Abenteuerurlaub entschieden“, knurrte Mum.
„Richtig ihr und warum muss ich dann mitkommen? Manchmal frage ich mich wirklich ob ihr mich nicht doch adoptiert habt!“
„Das steht ja wohl außer Frage“, lachte Mum und warf ihre langen, roten, gelockten Haare nach hinten. Mit dieser Geste wollte sie mir mal wieder nur zeigen, dass unsere Haare sich ähnelten und ich auf Grund dessen wohl kaum adoptiert sein konnte... träumen kann man ja mal...
„Warum kannst du nicht auch etwas Interesse an der Geschichte zeigen, ohne sie wärst du nicht hier...“, begann Dad, doch bevor er wieder ausschweifen konnte, unterbrach ich ihn schnell:
„... ja, ja ich weiß, ohne sie wären wir alle nicht hier. Schon klar, trotzdem interessiert sie mich nicht!“
Seufzend griff ich wieder nach meinen Koffern um den restlichen Weg zum Eingang auf mich zu nehmen. Hier draußen wurde es nur noch kälter und den Heimweg könnte ich sowieso erst wieder bei Sonnenaufgang antreten.
„Morgen werde ich wieder fahren, ob mit oder ohne euch! In diesem Drecksloch werde ich keine Minute länger bleiben!“, fluchte ich nun noch energischer und warf mich mit meinen gesamten Körpergewicht gegen die schwarze, schwere Eingangstür und hoffte sie im richtigen Moment aufzubekommen. Doch diesen Sieg wollte mir das Schicksal nicht lassen und so bemühte sie sich keines Wegs, sich zu öffnen. Stöhnend trat ich einen Schritt zurück und starrte die Tür hinauf, in den dunklen, kalten und wolkenverhangenen Himmel. Langsam ließ ich meine Blicke wieder sinken und richtete sie auf die massive Tür und ihren Rahmen. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie vollkommen von Spinnweben umgeben war und ich naiver Weise direkt in ein paar Netze reingelaufen war. Hysterisch fing ich an zu schreien und strich die Staubfetzen von meiner neuen Hose. Genau in diesem Moment schwor ich mir diese Tür nie wieder zu berühren, nie! Und damit meine ich niemals!
„Kann sich jemand von euch vielleicht mal nützlich machen?“, fragte ich genervt und deutete auf die Tür, während ich eine Haarsträhne gelangweilt zur Seite warf.
„Nicht mal das bekommst du hin?“, fragte Tomi lachend und versuchte ebenfalls sein Glück. Doch im Gegensatz zu mir bekam er Unterstützung von unserem Dad und so war es ihnen ein Leichtes in das Innere des Schlosses zu gelangen. Seufzend nahm ich meine Koffer wieder in die Hände und schleppte sie in die Mitte der großen Empfangshalle. Einen Moment lang versank ich im Staunen und konnte nicht anders, als mich den vielen Einflüssen hinzugeben. Der Raum hatte ein ganz eigenes Ambiente, das es mir schwer machte, mich ansatzweise mit einer Übernachtung anzufreunden.
Die weit in die Höhe ragenden Wände waren komplett mit Spinnweben umzogen und oben, auf den hölzernen Balken lagen zentimeterweise hohe Staubschichten. Die Wände waren in einem schlichten gelb Ton gehalten, die mich nicht gerade fröhlich stimmten und der Boden war mit einem grünen Teppich belegt, der jedoch aufgrund des Staubes nur noch grau war. Vielleicht sollte man den Besitzer mal über die Möglichkeit einer Putzfrau aufklären.
An der Wand hingen eine Menge alter, verstaubter Bilder von Häusern und dem Wald.
Entlang der Treppe hingen Staub besetzte Bilder, von Grafen, Fürsten oder... irgendwelchen unwichtigen Leuten. Sie alle starrten böse und gedankenlos gerade aus, sodass sie bei mir ein noch größeres Unwohlsein verursachten.
Die Luft war muffig und erinnerte mich an das alte Haus meiner Nachbarin, was ich versuchte so gut es ging zu meiden. Endlich kam auch der Rest angetrottet und gesellte sich zu mir.
Links von der Eingangstür befand sich eine vergammelte Rezeption, die ihren Scharm wohl schon im letzten Jahrhundert verloren haben musste. Eine alte, eingestaubte Klingel lag auf dem Tisch der Rezeption und war ihre einzige Dekoration. Angewidert starrte ich sie an und überlegte, ob ich sie betätigen sollte. Ohne ihre Hilfe würden wir jedenfalls für immer hier unten alleine gelassen werden. Doch noch bevor ich mich dazu überwinden konnte, raffte sich mein Dad auf, schritt an diesen gammligen Tisch heran und betätigte sie mehrere Male. Einen Moment wartete ich geduldig, doch nachdem meine Füße immer mehr zu schmerzen anfingen, entschied ich mich dazu in einen der glamourösen, blümchenbesetzten Sessel, platz zu nehmen. Meine Koffer zog ich eng zu mir heran, als hätte ich die Befürchtung jemand würde sie mir wegnehmen. Mum tat es mir gleich, während sie meine schlafende Schwester immer noch mit sich herum schleppte. Tomi hingegen streifte durch die Gegend und war in seinem fantasievollen Abenteuer komplett gefangen.
Nach einer Weile stürmte endlich ein kleiner, dicker Mann, mit Glatze die Treppe hinunter und besetzte die Rezeption. Ich weiß nicht ob es an diesem Ort lag oder daran, dass wir ihn gerade aus seinem Schönheitsschlaf geweckt hatten, aber seine Miene musste er der verstaubten Umgebung und dem trüben Wetter angepasst haben.
Zuvorkommend organisierte mein Dad zu aller erst einen Schlüssel für Mum, damit sie meine kleine Schwester und meinen Bruder aufs Zimmer bringen konnte. Mich hingegen ließ sie hier unten sitzen und machte mich für das Gepäck verantwortlich. Was für eine ehrenvolle Aufgabe! Träge überwand ich mich aus dem ungewöhnlich, bequemen Sessel aufzustehen und mich zu den Übriggebliebenen zu gesellen.
Zwischen dem Mann und meinem Vater fand keinerlei Konversation statt, anscheinend verständigten sie sich nur mit Zeichensprache, was mich stutzig werden ließ. Nach kurzer Zeit unterschrieb mein Vater ein Formular und bekam im Gegenzug, einen Schlüssel ausgehändigt. Kritisch runzelte ich die Stirn, doch noch im selben Moment vergaß ich meine Frage und entschloss mich dazu, einfach nur noch schlafen zu gehen. Vielleicht lag es an der Müdigkeit, dass mein Vater auch mir keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken versuchte und einfach nur stumm nach den Koffern griff, um sie die Treppe nach oben zu schleppen.
Stöhnend schloss ich mich ihm an und versuchte beide Koffer die Treppe nach oben zu befördern, ohne dabei doppelt gehen zu müssen oder irgendwo anzuecken.
Mein Dad vertraute der Treppe blind und stieg sie empor, als gäbe es nichts Leichteres auf dieser Welt. Ich hingegen trat ihr mit Misstrauen entgegen und starrte die morschen Treppenstufen eine Weile an. Nachdem mein Dad jedoch fast nach oben verschwunden war, rang auch ich mich dazu durch sie zu verwenden und setzte vorsichtig einen Fuß auf die erste Treppenstufe. Schon jetzt drang ein ohrenbetäubendes Knarren in meinen Kopf, das mir Gänsehaut bescherte. Einige Schritte setzte ich tapfer voreinander, bis ich die Hälfte der Treppe erreicht hatte. Dann blieb ich stehen, denn meine Aufmerksamkeit wurde von ein paar, wohl unbedeutenden Gemälden angezogen. Eigentlich waren sie trist und verstaubt, trotzdem hatten sie etwas Interessantes und Fesselndes an sich. Eins von ihnen interessierte mich ganz besonders und so richtete ich meine Blicke ausschließlich auf das Bild, mit dem unsympathisch wirkenden Mann. Angeberisch hockte er auf einem goldenen Thron und umklammerte mit seinen langen, dürren Fingern einen vergoldeten Stock. Das es sone Protzkerle auch schon damals gegeben hatte, brachte mich fast zum schmunzeln.
Doch mittlerweile galt meine ungeteilte Aufmerksamkeit nicht mehr ihm, sondern dem ungewöhnlich wertvollem Amulett um seinen Hals. Obwohl es nur ein Bild war, so war ich der festen Entschlossenheit, dass dieses Amulett zu glitzern schien. Nicht so als hätte jemand Glitzer auf das Bild gestreut, sondern als würde es in sich glitzern. Machte das Sinn? Nein, wahrscheinlich nicht, meine vernebelten Gedanken entsprangen wohl meiner ausgeprägten Müdigkeit.
Gerade als ich meinen eigentlichen Weg fortsetzten wollte, bewegte sich plötzlich die Hand des Mannes. Als würde er mich zu sich rufen, streckte er seine dürren Finger gierig nach mir aus. Ich spürte wie meine Kehle immer enger wurde, während seine Miene immer finsterer und verhängnisvoller wurde. Als würde er mir die Luft zum Atmen nehmen. Natürlich wagte ich es nicht zu blinzeln. Seine Augen wurden immer dunkler, sein fieses Grinsen dreckiger und mein Verstand immer verwirrter.