Gelangweilt saß ich wieder alleine in unserem Apartment und überlegte was ich mit der freien Zeit anfangen sollte. Der Rest meiner Familie hatte sich nach Draußen verzogen, um die Gegend etwas zu erkunden, doch da für heute einige Schauer angesagt waren, hatte ich mich dazu entschieden Zuhause zu bleiben. Ein Blick nach Draußen zeigte, dass ich eine verdammt richtige Entscheidung getroffen hatte. Da ich mir bereits vor der Ankunft hier im Klaren gewesen war, dass es kein Paradies werden würde, hatte ich mir einige Schulsachen mitgenommen. Doch so öde es hier auch war, Hausaufgaben waren nun mal noch langweiliger. Also lag ich nur sinnlos auf meinem Bett herum und starrte die Decke an, während ich darüber nachdachte was dieser Junge wohl für ein Problem hatte.
Ich schreckte erst wieder hoch als es an der Tür klopfte.
„Herein“, murmelte ich kurz, richtete mich auf und strich meine verlegenden Haare zurecht. Die Tür öffnete sich und ein breites Grinsen stach mir entgegen. Es war der Kutschfahrer, der in seinen Händen zwei unserer Koffer hielt. Schnell sprang ich auf und nahm ihm die Ersten entgegen.
„Wie haben Sie die aus dem Auto bekommen?“, fragte ich verblüfft und hievte sie behutsam auf den knarrenden Boden.
„Ich habe deine Eltern unten getroffen und sie haben mir ihren Autoschlüssel gegeben, damit ich die Sachen schon mal nach oben tragen kann. Sie meinten ich könne dich damit beglücken.“ Ein wenig verwunderte es mich, dass meine Eltern so gutgläubig gewesen waren, doch ich bekam nicht genügend Zeit um das hinterfragen zu können, denn so schnell wie er gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden, um den Rest der Sachen herzubringen.
Nachdem alles von uns eingetroffen war, fing ich an zu sortieren und verteilte meine Sachen im ganzen Apartment. Dabei nutzte ich die Zeit und wischte gleich ein paar Ablagen ab, damit hier wieder etwas Hygiene reinkam. Nachdem ich mit meinem ganzen Kram fertig war, machte ich mich auch an den Sachen von den anderen zu schaffen und verteilte alles so, wie ich es am besten fand. Es kotzte mich zwar gewaltig an, dass ich ohne Zweifel zwei Wochen hier festsitzen würde, doch ich gestand mit langsam ein, dass ich daran nicht ändern konnte.
Schließlich war ich wieder müde geworden und so legte ich mich für einige Zeit hin, bis ich aufwachte und voller Erstaunen feststellte, dass es bereits 16 Uhr war. Meine Eltern hatten sich immer noch nicht blicken lassen und so langsam nervte es mich, in diesem modrigen Zimmer zu sitzen. Also beschloss ich mich doch umzusehen und über die Anlage zu schlendern. Da es draußen immer noch kalt war, schnappte ich mir meine Jacke, das Handy und verschwand. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen die Gemälde neben der Treppe zu ignorieren, doch als ich an ihnen vorbeilief konnte ich einfach nicht anders, als stehen zu bleiben und sie durchdringend anzustarren. Es war als würden sie mich magisch anziehen und es nicht dulden, dass ich ihnen keine Beachtung schenken würde.
Wie hypnotisiert lehnte ich mich immer mehr über das Geländer, um ihnen näher sein zu können. Eigentlich wollte ich nur dem Grafen näher kommen. Warum? Ich hatte keine Ahnung. Plötzlich berührte mich etwas Eiskaltes an der Schulter. Im ersten Moment wollte ich schreien, doch schon einen Augenblick später verschwand dieses Bedürfnis wieder und ich bekam das Gefühl, als würde diese kalte Berührung Schutz mit sich bringen.
„Hallo?“, drang es mir in die Ohren und weckte mich aus diesem eigenartigen Zustand. Meine Blicke wanderten zu meinem Handgelenk, an dem sich der Druck verstärkte. Als ich realisierte, dass er mich festhielt, begann ich mich loszureißen und entgegnete ihm mit vorwurfsvollen Blicken. Was bildete er sich ein mich festhalten zu können? Doch so ungeschickt wie ich auch war, trat ich neben die Treppenstufen und verlor das Gleichgewicht. Dabei kam es mir vor als würden aus Sekunden, Stunden werden, während ich immer langsamer ins Ungewisse fiel. Vor Schreck hatte ich bereits die Augen geschlossen und gerade als ich dachte gleich mit einem lauten Rums auf den harten Treppenstufen aufkommen zu müssen, spürte ich eiskalte Hände an meinem Rücken, die mich behutsam auffingen.
Plötzlich war sein Gesicht so nah an meinem, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte, ohne das ich ihn berühren würde. Wieder setzte mein Herz aus und schlug danach viel zu schnell, als ich mich erneut in seinen strahlenden, eisblauen Augen verlor und ihn wieder mal nur regungslos anstarren konnte. Erst jetzt bemerkte ich, dass seine Sommersprossen fast symmetrisch um seine Nase herum verteilt waren und seine kleine Stupsnase perfekt zu seinem hübschen Gesicht passte.
Vorsichtig brachte er mich wieder in den Stand zurück und lächelte mir mit seinen spitzen Zähnen verführerisch entgegen, wobei sich kleine und niedliche Lachgrübchen in seinen Wangen bildeten.
„Halt dich bloß vom Grafen fern“, riss er mich kalt aus meiner Bewunderung und ließ das Grinsen verschwinden, was sich unbemerkter Weise in mein Gesicht verirrt hatte. Etwas verdattert stand ich da und war verwundert was ich darauf antworten sollte. Doch zugleich war ich erleichtert, dass er offensichtlich keine Sprachprobleme hatte.
„Was?“, konnte ich nur zögern zustande bringen.
„Ich werde dich jedenfalls nicht retten, wenn du blutüberströmt auf dem Boden liegst“, schnaufte er und fuhr sich durch die schwarzen Haare. Erschrocken glotzte ich ihn an und fragte mich, ob er die grauen Bilder aus meinen Träumen kannte. Waren sie etwa doch nicht nur in meinen Träumen real?
„Wie soll man denn wegen einem Bild sterben?“, hakte ich schnell nach, da er sich bereits auf dem Weg nach oben machte und ich die begonnene Konversation nicht aufgeben wollte.
„Vertrau mir einfach“, sagte er abwertend und zugleich herablassend.
„Ich soll jemanden vertrauen der mich vor einem Bild warnt und völlig ausflippt, wenn er einen Menschen sieht? Guter Plan, wirklich guter Plan!“, zischte ich, nachdem er so herablassend mit mir reden wollte. Für wen hielt er sich? Nur weil er umwerfend aussah konnte er sich doch nicht alles erlauben! Immerhin hatte er sich bis her ziemlich bescheuert verhalten. Daran versuchte ich mich jedenfalls immer wieder zu erinnern, doch nachdem er mir auch nur für einen Moment ein kleines Lächeln geschenkt hatte, war meine Wut wieder verschwunden und ich fing an dahinzuschmelzen. Meine Aussage ignorierte er gekonnt und auch bei weiteren, verzweifelten Nachfragen blieb er stur und verschwand ohne weitere Antworten. Gott, er dachte auch er wäre unwiderstehlich! Auch wenn ich diese Art von Menschen hasste, so ging er mir einfach nicht aus dem Kopf. Ob er wusste, dass ich die ganze Zeit über ihn nachdenken musste?
Ich schüttelte den Kopf. Was machte ich mir überhaupt Gedanken über ihn? Schließlich hatte ich einen Freund, den ich liebte oder? Das hatte ich ihm jedenfalls gesagt und außerdem hatte ich ihm geschworen bloß nicht fremd zu gehen. Das würde ich auch keineswegs tun, denn so etwas war unter meiner Würde. Außerdem hatte ich an diesem merkwürdigen Jungen nicht das geringste Interesse! Richtig?
Aus meinen Gedanken schreckte ich hoch, als der Rest meiner Familie mit einem lauten Türknall in die Empfangshalle platzte. Draußen musste es heftig geregnet haben, denn alle kamen sie mit triefend, nassen Kleidungsstücken wieder und beschwerten sich über das blöde Wetter. Kurz lauschte ich ihnen und als ich hörte, dass sie ein Gemeinschaftsspiel planten, durchflutete mich die pure Panik und so sprintete ich ins Badezimmer, um ihnen und der damit verbundenen Qual, aus dem Weg gehen zu können.
Nachdem ich einige Zeit auf dem Gruselklo verbracht und mich auf Instagram rumgetrieben hatte, hielt ich diese stinkige Luft nicht mehr aus und begab mich daher nach Draußen. Endlich hatte es aufgehört zu regnen und so lief ich ziellos über das Gelände. Dabei landete ich schnell auf dem Friedhof, denn das umliegende Gelände bestand nur aus dunklen Wäldern. Und den Wald würde ich mit Sicherheit nicht alleine betreten, ich war ja nicht von allen guten Geistern verlassen. Am Ende würde ich mich dort noch verlaufen und gekidnappt werden.
Vielleicht war es ein eigenartiges Merkmal von mir, aber ich mochte die gruselige Stimmung, die Friedhöfe mit sich brachten und so lief ich einige Zeit an unzähligen Gräbern vorbei ohne mir darüber Sorgen zu machen, dass es besonders abends, im Dunklen, verdammt gruselig sein konnte. Eine Weile trottete ich durch die Gegend bis ich zu einer kleinen, grauen Mauerwand kam, die mitten auf dem Friedhof stand. Als wäre sie dort vergessen worden, stand sie ohne Funktion einfach nur da und wartete darauf, dass sie jemand zerschlagen würde. Da der Regen sehr schräg gefallen war, hatte die eine Seite nichts abbekommen.
So konnte ich mich also entspannt gegen sie lehnen und für einen Moment in dieser Ruhe verharren. Hier, wo niemand auf mich einredete und niemand etwas von mir erwartete. Auf das Gemeinschaftsspiel hatte ich getrost keine Lust gehabt und so genoss ich es noch mehr, drum rumgekommen zu sein und jetzt einfach hier stehen zu können. Als hätte sie es geahnt, rief mich plötzlich meine Mutter an und wollte mich wohl möglich dazu überreden, mit der selben gespielten Begeisterung wie sie und Dad, mitzuspielen. Doch stur wie ich war, ignorierte ich sie und stellte mein Handy auf stumm.
Neugierig wanderten meine Blicke über den zerfallenen Friedhof und musterten so einige Gräber. Von allen las ich mir die Namen durch und stellte mir vor, wie die Person wohl gelebt haben mussten.
„James Newman“ las ich und stellte mir dabei einen alten, verschrumpelten Mann vor, der jeden Abend mit seiner Flasche Bier nach Hause gekommen war und von seiner grimmigen Frau angeschnauzt wurde, warum er den Müll schon wieder nicht mit nach draußen genommen hatte. Er hatte in ärmlichen Verhältnissen gelebt, doch da er sein ganzes Leben lang nichts anderes gewohnt war, hatte er damit nie ein Problem gehabt. Solange er sich ein Bier am Abend und eine Zeitung pro Woche leisten konnte. Gestorben war er an einem Herzinfarkt, was keinen in seinem Umfeld und auch ihn selbst, nicht wirklich gewundert hatte. Schließlich hatte er sich nur von fettigen Sachen ernährt und nie Obst zu sich genommen.
„Victoria Simons“ Sie musste mittleren Alters gewesen sein, als sie bei einem Autounfall ums Leben kam. Vor lauter Aufregung und Ablenkung hatte sie die Kurve auf der dunklen Landstraße nicht gesehen. Sie war von der Bahn abgekommen und mit voller Wucht in einen der umstehenden Bäume gebrettert. Wirklich vermissen tut sie jedoch keiner, da sie aufgrund ihres zwanghaften Perfektionismus dazu geneigt hatte, alles und jeden zu verbessern und sie auf ihre Unfähigkeiten hinzuweisen. Um es kurz zu fassen, sie musste eine gehasste Frau gewesen sein.
Gerade als ich immer mehr Gefallen an meinen ausgedachten Geschichten fand, wurde meine Aufmerksamkeit auf ein ganz besonderes Grab gelenkt, was von dem Licht aus meinem Zimmer angestrahlt wurde. Vielleicht interpretierte ich in das Ganze zu viel hinein, aber als ich meinen Vornamen auf dem Grab entdeckte, lief mir ein eiskalter Schauder über den Rücken.
„Alexandra Tiberius“, flüsterte ich erstaunt und folgte dem Licht bis zu meinem Fenster hin.
Wieder erschrak ich, als ich das Mädchen dort oben erkannte und ihre glühenden, unheilverkündenden Augen schaute. Doch meine Aufmerksamkeit sollte nicht länger ihr gelten, denn plötzlich vernahm ich seichte Schritte im nassen Gras und sah wie der Junge aus der Empfangshalle erwartungsvoll auf mich zu kam. Wieder spürte ich die Nervosität rasend in mir hochkommen. Verlegen richtete ich meine Augen zu Boden und wagte es nicht aufzusehen. Wie selbstverständlich stellte er sich neben mich und starrte in den wolkenverhangenen Himmel. Trotz seiner Anwesenheit lag Stille in der Luft und wenn mein rasendes Herz mich nicht ständig an seine Anwesenheit erinnert hätte, hätte ich ihn beinahe vergessen können. Langsam wurde mir die Stille unangenehm und ich löste meine Blicke vom Boden und starrte wieder zu meinem Fenster nach oben. Immer noch stand sie dort oben und blickte auf uns herab. Doch jetzt konnte sie mir keine Angst mehr machen. Er war neben mir und auch wenn ich ihn nicht kannte, so war ich felsenfest davon überzeugt, dass er mir im Zweifelsfall helfen würde.
„Wieso starrst du schon die ganze Zeit so gebannt auf dein Zimmer, fragte er plötzlich in die Stile hinein. Ich runzelte die Stirn.
„Siehst du sie nicht? Sie beobachtet mich schon die ganze Zeit wie ich hi e,...“ Schnell verschluckte ich die letzten Worte und verfiel wieder dem Schweigen. Was war das für eine blöde Frage? Natürlich sah er sie nicht, das hatte der glatzköpfige Typ schließlich auch nicht gekonnt.
„ Wen?“
„Egal, ich rede manchmal einfach zu viel, weißt du“, versuche ich ihn abzuwimmeln und prüfte, ob sie sich immer noch dort oben befand. Doch wie ich es mir hätte denken können, war sie längst verschwunden. Ich glaubte nicht an Geister, aber ich glaubte auch nicht daran, dass ich den Verstand verloren hatte. Also war ich ratlos.
„Ist ja auch egal, vergiss es einfach“, forderte ich schnell, als er mir keine Antwort gab und die Stille zwischen uns langsam erdrückend wurde.
„Wie ich soll´s vergessen? Du wirst dir das nicht ausgedacht haben“, sagte er plötzlich ganz aufgeregt und bettelte förmlich darum, dass ich den Blickkontakt zu ihm nicht abbrach. Seine Augen begannen zu funkeln und er schien seine ganze Hoffnung in meine folgende Antwort zu legen. Doch was um alles in der Welt erhoffte er sich? Es war mir unangenehm ihn so lange in die Augen zu sehen, doch egal wo ich versuchte hinzuschauen, sein Blick lag auf mir.
„Nein das nicht, aber warum,... warum willst du das überhaupt wissen? Du kennst mich doch gar nicht, ich könnte dir wer weiß was erzählen. Und woher weißt du eigentlich, dass es mein Zimmer ist, das ich die ganze Zeit angestarrt habe?“, fragte ich kritisch und war ein wenig erleichtert, von der eigentlichen Konversation ablenken zu können.
Draußen war es kälter als ich es vermutet hatte und so begann ich langsam zu frösteln. Der Junge neben mir musste es mitbekommen haben, denn schnell zog er seine Jacke aus und legte sie mir über die Schulter. Eigentlich wollte ich sie nicht annehmen, trotzdem konnte ich es nicht verwehren. An ihr haftete unheimlich gutes Parfum. Eine Mischung aus süß und frisch, dabei jedoch nicht zu süß. Einfach perfekt. Unauffällig nahm ich tiefe Atemzüge, saugte diesen angenehmen Geruch förmlich in mir auf und wollte ihn am liebsten nicht mehr gehen lassen.
„Du hast recht, es ist egal. Mal was anderes, wolltest du nicht eigentlich schon wieder verschwunden sein?“, versuchte er dem eigentlichen Thema aus dem Weg zu gehen und musterte mich neugierig.
„Jetzt ist es dir wieder egal, also verstehen muss ich das nicht oder?“ Ja vielleicht fing ich an ihn etwas ärgern zu wollen und versuchte seiner Frage aus dem Weg zu gehen, immerhin hatte er das vorhin auf der Treppe auch getan.
„Nein musst du wohl nicht, also warum bist du noch hier?“, hakte er nun energischer nach und machte auf mich den Eindruck, als hätte er es plötzlich eilig.
„Warum bist du heute Morgen eigentlich so abgedreht? Nur weil du einen Menschen gesehen hast?“ Wieder vermied ich eine konkrete Antwort und rief damit ein wenig Ungeduld in ihm hervor.
„Ähm... na ja es ist eine Weile her, dass Leute zu Besuch kamen. Sollte eigentlich ein Scherz sein, um die Stimmung etwas aufzulockern. Hab ich wohl ziemlich verkackt“, gestand er sich selbst ein und lächelte mir dabei zuckersüß entgegen. Trotzdem verschwand die Ungeduld in seinen Augen nicht.
„Antwortest du mir jetzt auf meine Frage?“
„Warum willst du mich loswerden?“, entgegnete ich knapp.
„Natürlich nicht, ich verstehe nur nicht warum du so ein Geheimnis daraus machen musst?“
„Weil es dich nervt, vielleicht“, flüsterte ich, da er mir auf ein mal so nah gekommen war, dass ich mich etwas anderes nicht getraut hätte. So langsam hatte sich mein Herz an seine Gegenwart gewöhnt, doch als er mir nun so nah war, dass ich die Befürchtung bekam, er würde mich gleich küssen wollte, eskalierte es wieder und war kurz davor aus meinem Brustkorb zu springen. Tief schauten wir uns in die Augen und für einen Moment vergaß ich, wie eigenartig er und diese ganze Situation war. Doch als ein Rabe sich mit einem Ruck wieder in die Luft bewegte und dabei ein raschelndes Geräusch des Zweiges unter ihm hinterließ, schreckte ich hoch und zog etwas empört meinen Kopf zurück.
„Also?“, fragte er ungeduldig und grinste mir entgegen, als hätte er sich gerade auf das Spiel eingelassen.
„Weil ich nicht gehen darf, meine Eltern halten mich hier fest.“
„Oh, aber so schlimm wird es hier schon nicht werden. Ich könnte dich rumführen und dir einige schöne Plätze zeigen.“
„Gerne“, entgegnete ich und musste mich zusammenreißen ihm nicht überschwänglich in die Arme zu fallen. Es war unheimlich krass, wie ein gutes Parfum einen Menschen direkt sympathischer machen konnte.
„Wie darf ich dich denn ansprechen?“, fragte er und rutschte ein kleines bisschen näher an mich heran. Ich hasste diese Frage. Es war nicht, dass ich meinen Namen nicht mochte, aber ich konnte diese Frage einfach nicht leiden. Es gehörte zu diesem typischen Smalltalk und den hatte ich gezwungener Maßen schon unzählige Male geführt. Außerdem kam ich mir bei der Antwort immer so vor, als hätte ich sie auswendig gelernt.
„Alexandra.“ Er schluckte. Unerwarteter Weise riss er seine Augen weit auf und starrte mich an, als wäre ich die Queen persönlich.
„Du?“, fragte ich, um ihn aus dieser beängstigenden Starre wieder lösen zu können.
„Ich bin... warte nein, das geht nicht. Das ist echt unmögl...“ gerade als er seine verstreuten Gedanken zu sammeln versuchte, wurde das schwarze Tor des Friedhofes aufgeschlagen und der Kutschfahrer kam zu uns. Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. An ihn hatte mich der Junge die ganze Zeit erinnert. Er war dem Kutschfahrer wie aus dem Gesicht geschnitten, nur mit weniger Falten und Augenringen. Sie mussten verwandt sein und er musste es gewesen sein, von dem er bei unserer Ankunft gesprochen hatte.
„Kommst du? Bring deine Freundin auf ihr Zimmer und komm dann rein, es ist doch viel zu kalt hier draußen“, sagte er mit Nachdruck. Sein Blick war ernst und er schaute mir misstrauisch entgegen.
„Sie ist nicht meine Freundin“, antwortete er empört und riss mir die Jacke von den Schultern, als hätte ich ihn gerade hintergangen. Energisch stand er auf und lief in schnellen Schritten davon. Nicht einmal eine Verabschiedung hatte er mir entgegnen können. Stattdessen hatte er so getan, als wäre ich ihm nur auf die Nerven gegangen und als würde er sich dafür schämen mit mir gesehen worden zu sein.
Stimmt, ist auch unheimlich peinlich, wenn man mit einem Mädchen, unter einem Baum, bei Nacht gesehen wird. Okay... vielleicht ist es ein wenig schräg, trotzdem rechtfertigte es seine Reaktion nicht. Etwas irritiert blieb ich zurück. Kurz starrte ich ihm noch hinter her, bis auch ich mich aufrappelte und beschloss nach drinnen zu gehen. Zwar hatte ich wirklich keine Lust mich wieder mit meinen Eltern auseinander setzten zu müssen, aber hier draußen wollte ich auch nicht länger alleine rumsitzen.
„Was ist das für ein Scheiß?“, beklagte ich mich wütend und warf mich gegen die Eingangstür, da sie wieder klemmte und mich aussperren wollte. Doch dieses Mal hatte ich mehr Glück und sie öffnete sich einen Spalt, durch den ich schnell huschte und mich dann auf den Weg nach oben machte. Während ich die Treppe hoch lief, hörte ich plötzlich bekannte Stimmen und blieb stehen. Eigentlich wollte ich nicht lauschen, aber ich konnte nicht anders. Der Junge und der Kutschfahrer waren beide so mysteriös, wie dieser Ort hier. Es war also theoretisch Eigenschutz, wenn ich ein wenig lauschte und versuchte mehr über sie rauszubekommen.
„Bist du völlig verrückt geworden? Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du aufhören sollst dich mit jedem Mädchen zu treffen. Du bringst dich damit in Gefahr!“
„Schwachsinn“, zischte der Junge.
„Du weißt was er mit ihnen vor hat und du weißt, dass er es nicht leiden kann, wenn sich jemand in seine Geschäfte einmischt!“ Die Stimme des Kutschfahrers hatte einen noch ernsteren Ton angenommen und fing an, mich langsam zu beunruhigen. Wer zur Hölle sollte „er“ sein? Und was könnte er nur von mir wollen?
„Meine Angelegenheiten gehen dich einen feuchten Dreck an! Außerdem mache ich selber Geschäfte mit ihm, ich kenne ihn gut genug! Wie lange ist es her, dass ich mich mit einem Mädchen getroffen habe? Wie lange ist das mit Melodie und Laureen her?“ Was hatte er nur dagegen, wenn sich sein Sohn mit Mädchen traf? Das war doch nichts Verbotenes, außerdem hatten wir nur geredet.
„Verkauf mich bloß nicht für blöd! Glaubst du wirklich ich hätte deine ganzen Liebschaften nicht mitbekommen?“
„Du kannst mich mal!“
„Rede nicht so mit mir!“
„Ich rede, wie es mir passt. Anscheinend brauchst du auch mal ein Abenteuer, dann wirst du vielleicht lockerer. Außerdem werden mir Laureen und Melodie langsam zu anstrengend.“
„Was willst du mir damit sagen? He?“, fragte der Kutschfahrer wütend und nachdenklich zugleich.
„Vergiss es. Ich mach was mir gefällt, verstanden?“
„Eigentlich ist es mir egal mit wem du dich rumtreibst. Sorge bloß dafür, dass er und sie keinen Wind von deinen Affären bekommen! Es wäre unklug unseren Ruf jetzt zu zerstören, wo sie alle unter Spannung stehen. Ich glaube er hat besonders auf sie ein Auge geworfen, also halt dich wenigstens dieses eine Mal an meine Anweisungen und meide sie!“
„Denkst du echt immer nur an unseren Ruf? Sie ist anders! Sie sieht ständig ein Mädchen, vielleicht ist das ja Emy?“, erklärte der Junge mit einem leichten Schwung von Euphorie.
„Jetzt sei nicht albern, weißt du wie man solche Leute nennt? Geistlich gestört, verrückt, irre. Emy lebt nicht mehr! Gib es endlich auf.“
Klasse, jetzt war ich offiziell, die Verrückte, geistlich Gestörte und Irre. Aber von was für einer Emy sprachen sie nur, meinte sie vielleicht das Mädchen?
„Stimmt, selbst wenn es so wäre, selbst dann... würde es dich nicht interessieren. Dann hätte ich nur die Bestätigung für meinen Verdacht, nicht wahr?“
„Geh jetzt und triff dich nicht mehr mit ihr!“, fluchte der Kutscher außer sich vor Wut.
„Du kannst mir nichts vorschreiben ich bin schließlich alt genug. Du bist nicht mein Vater, sondern ein Monster.“
„Oh da sieht du etwas aber gewaltig falsch. Ich habe immer noch das Sorgerecht für dich und alt genug bist du beim Weitem noch nicht!“
„Doch in Menschenjahren schon.“ Was? Menschenjahre, was sollte das denn schon wieder bedeuten?
„Triff dich nicht mit ihr und hau bloß ab! Für heute kannst du die Nacht draußen verbringen!“, fluchte er ein letztes Mal, bis die Tür aufgeschlagen wurde und der Junge verärgert auf mich zu gestürmt kam. Verdammt hatte er gesehen, dass ich sie belauscht hatte?