Er hatte seine Erzählungen beendet und mit einem Mal lag eine ungewöhnlich, bedrückende Stille in der Luft. Niemand wagte es ein Wort von sich zu geben und wir drei mieden seine Blicke. Das was er getan hatte, war unverzeihbar. Er war ein grausamer Mann und ich wollte ihn zu tiefst verachten. Ich kenne das Gefühl von Rache. Ich kenne es gut, aber Rache bringt einen nicht weiter. Er hatte mir geliebte Menschen genommen, er hatte so viel Leid über diesen Ort gebracht und trotzdem war der Hass auf ihn verschwunden. Na gut, er war nicht vollkommen verschwunden, aber es hatte sich plötzlich ein weiteres Gefühl in meinen Kopf festgesetzt. Ich hatte auf einmal Verständnis für ihn. Ich hatte beinahe Mitleid.
Er hatte seine große Liebe verloren, er hatte zusehen müssen, wie sie starb. An seiner Wortwahl konnte ich mir annähernd vorstellen, wie sehr er sie geliebt haben musste. Doch diese einzigartigen Gefühle würde er für immer, nur alleine verstehen können. Niemand konnte wissen, wie sich Liebe für jemand anderen anfühlte. Niemand. Niemals.
Bei seinen Erzählungen hatte ich fast geglaubt, etwas Menschliches würde in ihm stecken. Etwas Gutes, etwas das ihn verletzen konnte. Ich war mir nur noch nicht so sicher, was es war. Ja sie hatte ihn verletzlich gemacht. Die Liebe hatte ihn schwach gemacht. Aber nun wusste er, wie er sich dagegen schützen konnte. Er wirkte eiskalt und unerreichbar. Doch ich war mir sicher, dass es einen Punkt gab, der ihn auch heute noch schwach machen würde. Etwas, das seine menschlichen Gefühle zurückholen würde.
„Eure Tochter, war ich das?“, fragte ich vorsichtig in das Schweigen hinein und machte einen Schritt auf ihn zu. Diese Frage brannte mir schon die ganze Zeit auf der Seele, nur hatte ich nicht den Mut gehabt sie auszusprechen. Ich fürchtete mich nun nicht mehr vor ihm. Ganz im Gegenteil, ich fühlte mich beinahe hingezogen zu ihm. Ich wollte ihn berühren, ich wollte ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass es mir leid tut.
„Ja, du bist meine Tochter und du bist ihre.“
„Also sind meine Mum und mein Dad, gar nicht meine richtigen Eltern?“, fragte ich zögernd und verstand kaum, was das zu bedeuten hatte.
„Nein, sie sind nicht deine Eltern“, antwortete er ruhig und schenkte mir ein eigenartiges Lächeln. Irgendwie entschuldigend und aufmunternd zu gleich. Ich schluckte. Hatte ich mein ganzes Leben bei Leuten verbracht, mit denen ich nicht einmal verwandt war? Wie sollte ich das meiner Mum erklären? Meinem Bruder? Ich hatte um meine Schwester und meinen Vater getrauert, obwohl sie gar nicht die waren, für die ich sie hielt?
„Und was ist dann mein richtiger Familienname? Lang ist es nicht, richtig?“ Er nickte.
„Evans. Alexandra Evans, wie deine Mum.“
„Was hast du mit mir gemacht? Wo hast du mich hingebracht?“
„Du bist besonders Alexandra. Und die Leute haben Angst vor Besonderen. Weil sie sie nicht verstehen. Sie durften nicht wissen wer du bist und was du bist. Hier war es nicht mehr sicher für dich. Also habe ich dich aus der Stadt rausgebracht. Irgendwohin, Hauptsache weg von hier. Ich wollte und musste stärker werden, ich musste die Herrschaft über diesen Ort an mich reißen und dabei hätte ich dich nicht beschützen können. Ob ich wollte oder nicht, ich musste dich abgeben und ich habe Tage und Nächte damit verbracht eine Familie zu finden, die es würdig war, sich um dich kümmern zu dürfen. Natürlich solltest du keine allzu starke Bindung zu ihnen aufbauen, weshalb du nur wenige Jahre bei der gleichen Familie verbrachtest. Immer wieder nahm ich dich nach spätestens zwei Jahren zurück, löschte deine Erinnerungen und brachte dich zu anderen Leuten.“ Er hatte mir meine Erinnerungen genommen? Ich war sprachlos. Ich war also nicht 16 Jahre alt? Ich hatte nicht 16 Jahre bei Mum und Dad gelebt? Hatte ich deswegen so wenige Erinnerungen an die letzten Jahre? Konnte ich damit diese eigenartigen Erinnerungen in diesem Portal erklären? Aber was noch viel wichtiger war, wer war ich dann eigentlich? Ich wusste plötzlich nichts mehr. Wie war ich? Wie sollte ich mich verhalten? War ich nett? War ich gut? War ich naiv oder hatten mir die Leute das nur eingeredet? Wer zur Hölle war ich, wenn ich mich nur an die letzten zwei Jahre erinnern konnte?
„Du hast meine Erinnerungen gelöscht? Wie konntest du nur?“, flüsterte ich, da meine Stimme plötzlich verschwunden war.
„Ich musste dich über hundert Jahre verstecken. Du gehörst nur zu mir und ich wusste, dass du irgendwann selbst zu dieser Einsicht kommen würdest. Das hatte ich wirklich geglaubt, nur hatte ich wohl nicht mitbekommen, dass du in deiner letzten Familie zu ziemlicher Sturheit erzogen wurdest.“
„Bitte was? Meine Sturheit gehört ganz mir, sie wurde mir nicht anerzogen, sie war schon immer in mir und ich schwöre bei Gott, sagst du auch nur noch ein Wort gegen sie, dann werde ich alles daran setzten, dich endlich tot sehen zu können!“ Mein Verständnis war mit einem Mal wie weggeblasen. Er hatte einfach entschieden mir meine Erinnerungen zu nehmen. Ich fühlte mich beraubt. Er hatte mir Erinnerungen an mein ganzes Leben genommen. Erfahrungen, Freundschaften. Eine Liebe?
„Alexandra, dieser Ton gefällt mir ganz und gar nicht. Weißt du eigentlich wer du wirklich bist? Was deine Bestimmung ist?“
„Natürlich weiß ich wer ich bin!“, sagte ich selbstsicher und versuchte ein Gesicht zu machen, das nicht verriet, dass ich mich plötzlich in einer völligen Selbstfindungskrise befand.
„An Bestimmungen glaube ich nicht.“
„Das solltest du aber. Wir Beide könnten die Welt beherrschen, ja vielleicht sogar das ganze Universum! Zusammen könnten unsere Kräfte grenzenlos werden! Deine Stärke wurde prophezeit, es wird Zeit, dass du sie zu nutzen weißt“, schwärmte er und legte seine Hand behutsam an meine Wange. Vorerst ließ ich sie dort liegen und versuchte den Grund, für das plötzliche Glitzern in seinen Augen, zu finden. Die Macht schien ihn besessen zu machen. Er wollte mit mir regieren? So wie bis her?
Dass sich alle vor uns fürchten müssten? Dass wir sie alle kontrollieren könnten? Innerlich schüttelte es mich bei diesem Gedanken. Das war eine grausame Vorstellung. Aber es war nicht nur das, was mich zum Schütteln brachte. Es war auch das Gefühl für diese Position nicht gemacht zu sein. Ich fühlte mich unwissend und vor allem fühlte ich mich nicht bereit irgendetwas zu regieren. Das würde ich wohl nie. Und dann war da noch die Erschöpfung, die sich in mir niedergelassen hatte. Ich konnte nicht mehr, ich wollte endlich eine Pause, von allem. Ich wollte mein altes, doch so unbeschwertes Leben zurück.
Still stand ich einfach nur vor ihm und versuchte diese wirren Gedanken zu ordnen. Es sollte endlich alles ein Ende haben. Auch, wenn ich ihn dafür umbringen müsste. Das, was wir begonnen hatten, musste nun endlich beendet werden. Tief starrte ich ihm in die Augen und suchte nach dieser Schwäche. Er hatte sie, da war ich mir sicher! Es brauchte seine Zeit, bis ich sie endlich erkannte.
„Wenn ich mich dir anschließe, wirst du dann versprechen können das Leiden zu beenden?“
„Alex! Verflucht! Das ist doch nicht dein Ernst oder?“, zischte Leandro aufgebracht und trat einen Schritt näher an uns heran. Ja, ich hätte ihn aufklären können, ich hätte seine Gedanken dafür nutzen können, aber es musste perfekt sein und dafür brauchte ich ihn. Als unwissenden, besorgten Freund, sonst würde er doch gleich merken, dass etwas nicht stimmte.
„Sei still“, fuhr ich ihn an, wobei ich meine Blicke jedoch nicht vom Grafen abwenden konnte.
„Von welchem Leiden sprichst du?“
„Ich möchte nicht willkürlich morden. Ich möchte versuchen Frieden zwischen allen zu schaffen, aber vor allem möchte ich deine Garantie haben, dass meinen Leuten nichts passiert. Sie sollen deinen Schutz erhalten.“
„Du hast hohe Erwartungen.“
„Stimme zu oder lass es sein“, knurrte ich mit bitterer Stimme und sah ihm fordernd in die Augen. Seine Augen machten mir keine Angst mehr. Sie waren auch nur, irgendwelche Augen. Er war nur ein Vampir, so wie Leandro, Lucas und ich. Wir waren zu dritt, er allein. Wovor fürchteten wir uns also? Wieso hatten sich die Leute überhaupt so vor ihm gefürchtet? Er war doch nur ein Durchschnittsvampir, der einen Hang zu Visionen hatte, mehr nicht.
„Ich bin dein Vater, wie kannst du nur so herzlos zu mir sein? Ich dachte du würdest dich schon aus Liebe zu mir, meinen Plan mit mir verfolgen?“ Liebe? Wusste er überhaupt noch, wie sich das anfühlt? Oder hatte er sie bereits aufgegeben? Ja, vielleicht war er mein Vater, aber gewiss nur mein Leiblicher. Um mein Wohlergehen hatte er sich nie geschert, er hatte mir so viel genommen, mich so sehr verletzt. Mir gegenüber konnte er also unmöglich irgendetwas wie Liebe empfinden. Da waren so viele Worte und Gedanken, die ich mit ihm teilen wollte, die ihm an den Kopf werfen wollte, Vorwürfe, aber ich konnte nicht. Ob ich wollte oder nicht, ich musste sein Vertrauen bekommen, um ihn töten zu können. Also war ich gezwungen, das vorzugeben, wonach er sich sehnte. Und er sehnte sich nach Vergebung, er wollte mich für sich ganz alleine haben. Er wollte so tun, als wäre nichts vorgefallen, als wären wir ansatzweise so etwas, wie eine normale Familie... völlig absurd!
„Und ich deine Tochter.“
„Also willigst du ein?“, fragte er nun mit Nachdruck. Er versuchte diesen Deal möglichst locker zu nehmen und sich nicht anmerken zu lassen, dass es nicht nur ein Deal von Tausenden war. Doch mit seinen Augen flehte er mich beinahe an, ihm zuzustimmen.
„Ja.“ Meine Worte verstummten und mit ihnen entstanden in Leandro´s und Lucas Gesichtern, ein riesengroßes Fragezeichen.
„Das ist nicht dein Ernst oder?“, fragte Leandro erschrocken und blickte mir bittend entgegen, ich solle seine Befürchtungen nicht bestätigen.
„Ihr habt sie gehört und nun würde ich euch bitten mein Grundstück zu verlassen, wir haben einige private Dinge zu besprechen.“
„Keine zehn Pferde bringen mich hier weg!“, entgegnete Lucas unfreundlich, stellte sich aufrecht hin und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Vertraut mir, nachdem wir einige Dinge besprochen haben werde ich euch noch einmal aufsuchen und mich erklären.“ Ich spürte, wie ich die Wortwahl des Grafens langsam annahm.
„Alex, scheiße das ist verrückt, wir werden nicht gehen!“
„Ich verbitte mir diesen Ton und diese Ausdrucksweise!“, knurrte der Graf und funkelte Lucas böse an.
„Geht jetzt!“
„Und wartet vor seinem Grundstück“, flüsterte ich in Leandro´s Gedanken hinein, der endlich verstanden haben musste, dass ich nicht völlig übergeschnappt war. Zögernd zog er Lucas mit sich, der immer noch neben der Spur war. Nachdem die Beiden uns endlich verlassen hatten, lief ich zum Messer, hob es auf und deponierte es vorerst in meinen Stiefeln. So hatte ich es immerhin schon einmal bei mir und musste es nur noch unbemerkt einsetzen können.
„Ich habe dich vermisst, mein Schatz“, flüsterte er plötzlich in mein Ohr und stand mir mit einem Mal so nah, dass ich mich beherrschen musste, nicht zusammenzuzucken.
„Ich habe gerade in den letzten Jahren gespürt, dass mir etwas fehlt und jetzt habe ich es gefunden.“ Die Worte kamen nur schwer über meine Lippen und ich musste mich zusammenreißen, mich nicht übergeben zu müssen. Ich war mir nicht sicher, ob er mir Glauben schenkte, aber mein Plan ging auf und er kam mir nun so gefährlich nah, dass ich die Gelegenheit nutzen musste. Jetzt wo ich seinen Atem so sachte an meinem Hals spürte und mir seine ganze Aufmerksamkeit galt.
„Wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragte ich schnell und merkte, wie er bereits zu Beginn seiner Erzählungen, immer unaufmerksamer wurde. Nachdem er in Schwärmerei vollkommen versunken war und kaum noch etwas von seiner Umgebung mitzubekommen schien, entschloss ich mich dazu, es zu tun. Ich hatte einen Versuch, nicht mehr, nicht weniger und ich wusste, wenn ich versagen würde, dann würde er mich wohl bis zum Ende seines Lebens gefangen halten. Aber das ignorierte ich so gut es ging, wenn man so etwas überhaupt ignorieren konnte. Zunächst tat ich so, als würde ich nur an meinem Bein kratzen, dann aber packte ich das Messer, umklammerte den Griff fest und drängte ihn blitzschnell an eine Wand, wo ich ihm nun das Messer unter die Kehle presste und es für einen Moment genießen musste, die Macht über ihn zu haben. Diese Art von Macht, die er schon mein ganzes Leben lang, über mich gehabt hatte.
„Willst du etwa schon wieder versuchen deinen eigenen Vater umzubringen?“
„Wenn ich dann meine Lieben beschützen kann, ist es mir das wert“, antwortete ich kalt.
„Was haben sie nur aus dir gemacht? Wo ist meine Tochter nur hin?“
„Keine Sorge, ich stehe direkt vor dir. Ich frage mich nur, wie es sein kann, dass ich ausgerechnet so ein Monster als Vater habe!“, fluchte ich und striff mit der Spitze des Messers seinen Hals entlang. Ich konnte sein Blut förmlich durch seine Adern fließen hören, doch Angst spürte ich keine.
Seinen enttäuschten Augen konnte ich nicht länger entgegen schauen, weshalb ich endlich allen Mut zusammennahm und auf seine Halsschlagader einstach. Er währte sich nicht und sackte einfach nur mit einem breiten Lächeln auf den Lippen zu Boden. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich nicht währen konnte oder ob er es nicht wollte, denn jetzt, wo er so auf dem Boden hockte, spürte ich immer noch keine Angst. Er schien sich nicht vor dem Tod, vor seinem Ende, zu fürchten und das war etwas, was mich noch viel stutziger machte.
„Du musst noch so viel lernen“, lachte er und erstickte beinahe daran.
„Ich muss gar nichts!“
„Keine Sorge, ich werde wiederkommen. So, wie es die Prophezeiung verlangt.“
„Ich hoffe du schmorst in der Hölle!“
„Das werde ich, doch mit dem Teufel bin ich mittlerweile gut befreundet“, lachte er und sackte immer mehr in sich zusammen. Wie hypnotisiert sah ich ihm beim sterben zu und wartete, bis jegliches Leben seinen Körper verlassen hatte. Seine Augen wurden starr. Kälter, als je zuvor und glasig. Er verschwand von dieser Welt, aber sein Geist blieb bei mir. Seine Geheimnisse, die er vor allen hütete, die er vor mir gehütet hatte.
Nachdenklich lauschte ich dem beruhigenden Wasserrauschen und ließ meinen Blick langsam über die peitschenden Wellen gleiten. Wind strich über meine lockigen Haare und zog einige Strähnen aus meinem Zopf, die nun in meinem Gesicht hingen und störten. Einsam zog ich meine Knie an mich, schlang die Arme um sie und drückte sie immer dichter an mich. Meine Schuhe stellte ich auf die Kante der Bank und legte den Kopf seufzend auf auf meinen Beine ab.
Ja, ich hatte mich absichtlich rausgeschlichen und gehofft, niemand würde mir folgen. Ich wollte alleine sein und mit keinem reden, trotzdem fehlte etwas. Obwohl ich den Wunsch des Schweigens hegte, spürte ich die beißende Einsamkeit und den Wunsch einer geborgenen Schulter, an der ich mich anlehnen könnte.
Vielleicht sehnte ich mich sogar nach seiner Schulter, nach seiner Fürsorge, aber ich hatte das erdrückende Gefühl, ihn niemals so haben zu können, wie ich ihn brauchte. Sicher, wir hatten auch unsere guten Tage und tatsächlich gab es eine lange Zeit, in der ich dank ihm, fast unbeschwert gewesen war, aber ich konnte mir einfach nicht mehr vorstellen, dass es so wieder werden würde.
Immer wieder versprachen wir uns, dass wir es ändern mussten, dass wir Dinge anders angehen sollten und am Ende landeten wir wieder in dieser merkwürdigen Phase, wo ich plötzlich das Gefühl hatte, nichts mehr zu wissen. Ich wusste nicht mehr was ich wollte. Natürlich wollte ich ihn, aber mehr, als er mir meistens geben konnte. Ich war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob ich das so noch wollte. So, wie es jetzt war. Wie es die letzten Monate gewesen war.
All das, was mich immer an ihm gestört hatte, das veränderte er nicht. Er sollte sich ja nicht wegen mir ändern, also nicht seine Art, ich wollte einfach mehr von ihm. Mehr Fürsorge, mehr Verständnis und vor allem Treue. Und selbst, wenn er mir genau das geben würde, wie lange könnte er das durchhalten? Wie lange würde es dauern, bis wir uns streiten und er mich letztendlich doch belügen und betrügen würde? Klar, für den letzten, vorgefallenen Kuss konnte er nichts. Trotzdem gingen mir diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Es war nun mal passiert und ich weigerte mich glauben zu können, dass er wirklich keine andere Wahl gehabt hatte. Vielleicht unterstellte ich ihm wieder etwas, ja vielleicht waren meine Schlüsse zu voreilig, doch was wenn nicht?
So oft hatte ich über ihn nachgedacht, mich gefragt was gerade in seinem Kopf vor sich ging, wie er fühlte und so oft hatte ich mir vorgestellt, wie wir eines Tages einfach glücklich nebeneinander im Bett liegen würden. Ich hatte es satt darüber nachzudenken, über ihn nachzudenken und vor allem, mich für jede Tat rechtfertigen zu müssen. Nicht einmal jetzt wusste ich was wir waren und was er fühlte. So langsam fing ich an zu glauben, dass ich das noch nie gewusst hatte. Vielleicht funktionierten wir einfach nicht zusammen. Vielleicht musste endlich einer von uns sagen, dass wir zusammen keine Chance hatten. Vielleicht sollte ich es endgültig beenden? Ich hasste diesen Gedanken. Tränen kullerten meine Wangen hinunter. Ich hasste dieses erdrückende Gefühl, wenn mir dieser Gedanke in den Kopf schoss. Aber war die Sache mit ihm wirklich so falsch, wenn mich der Gedanke ans Schlussmachen beinahe umbrachte?
Wenn wir es weiter probieren würden, könnten wir überhaupt glücklich werden? Ich meine, wirklich glücklich? Könnte ich irgendwann sagen, ich würde ihn kennen? Wissen was er wirklich fühlt? Diese Fragen beschäftigten mich nun schon einige Tage und immer wieder kam ich zum gleichen Entschluss. Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Was hätte ich denn noch, wenn ich ihn gehen lassen würde? Ich wäre einsam und ich wüsste nicht weiter. Ich konnte mir nicht mal vorstellen, wie ich ohne ihn leben sollte. Eigentlich hatte ich gar keine andere Wahl, als an ihm festzuhalten oder? Über uns hatten wir schon lange nicht mehr gesprochen. Ich hatte viele seiner Versuche abgeblockt, aber langsam wurde mir klar, dass ich um ein weiteres Gespräch nicht drum rum kam. Aber vor diesem Gespräch hatte ich ganz besonders viel Angst. Was, wenn er es genauso sah wie ich? Und, wenn er dabei auch noch vernünftig wäre? Wenn er sich eingestehen könnte, dass wir zusammen einfach nicht funktionierten? Würde er mich alleine lassen? Sollte er das?
Ich hatte Angst vor seiner Entscheidung, ich hatte sogar Angst davor, ihm einfach nur in die Augen zu schauen. Die letzten Tage hatte ich ihm nicht richtig in die Augen sehen können. Wir waren alle mit wichtigeren Dingen beschäftigt gewesen und ich fragte mich nun, was passieren würde, wenn wir wieder diesen langen Blickkontakt hätten. Was würde ich fühlen? Sollte ich überhaupt noch etwas für ihn fühlen? Sollte ich? Was, wenn ich etwas fühlen, aber er es nicht tun würde?
Verzweiflung machte sich in mir breit und brachte mich seufzen. Die Tränen wurden stärker.
Immer enger zog ich die Knie an mich heran und versuchte mich an sie zu kuscheln. Wir waren gerade dem Tod von der Schippe gesprungen und schon wieder konnte ich nur über ihn nachdenken. Als wäre er der Protagonist in meinem Leben. Wie konnte es sein, dass er einfach nicht aus meinen Gedanken verschwand, obwohl ich die Befürchtung hatte, nicht einmal mehr etwas für ihn zu empfinden?
Das Knacken einiger Äste ließ mich aufschrecken. Schnell drehte ich mich um, doch es war nur Lucas, der mit müden Augen hinter mir stand. Erleichtert atmete ich aus und drehte mich wieder zum Meer um. Schnell wischte ich die Tränen weg und vergrub das Gesicht wieder hinter meinen Knien. Stumm setzte sich Lucas neben mich und starrte eine Weile nur die peitschenden Wellen an. Zwischen uns war es eigenartig still geworden. Nur das Rauschen des Windes und der Wellen war zu hören. Sonst war es angenehm ruhig. Meine Augen brannten von den Tränen, also schloss ich sie für einen Moment und versuchte die tausend Gedanken in meinem Kopf zu vergessen.
„Geht es dir gut?“, fragte Lucas besorgt und rutschte ein Stück näher an mich ran. Widerwillig versuchte ich mich zusammenzureißen und nahm meinen Kopf wieder von den Knien.
„Ja“, antwortete ich knapp.
„Wie hast du mich gefunden?“
„Melonie hat gesehen, wie du dich rausgeschlichen hast.“
„Und warum bist du mir gefolgt?“
„Ich war mir nicht sicher, ob alles in Ordnung ist bei dir.“ Müde sah ich auf und lächelte ihn an. Immerhin er sorgte sich um mich.
„Das ist lieb von dir.“
„Hast du ne Ahnung, wie lange wir hier bleiben werden?“ Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte keinen blassen Schimmer.
„Leandro meinte, dass es gut für mich wäre, wenn ich hier zur Schule gehen würde, zu ihrer Schule.“
„Und willst du das auch?“, fragte er kritisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Wieder konnte ich nur mit den Achseln zucken.
„Ich meine in Hamburg sind all unsere Freunde.“
„Ich weiß, ich hab nur keine Ahnung was gerade die beste Entscheidung wäre.“
„Und was willst du? Unabhängig davon, was vielleicht gut oder sicher für dich ist?“
„Keine Ahnung.“
„Weißt du überhaupt irgendetwas?“, lachte Lucas und legte sein linkes Bein angewinkelt auf das Andere. Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste gar nichts.
„Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?“, fragte er wieder.
„Weiß nicht. Ich hab das Gefühl ich weiß gar nichts mehr. Ich weiß nicht mal mehr wer ich bin.“
„Du weißt nicht wer du bist? Wie meinst du das?“
„Na ja, ich kann mich anscheinend gerade mal an meine letzten zwei Lebensjahre erinnern. Vielleicht bin ich ja doch ganz anders, als ich dachte. Ich hab das Gefühl, ich kenne meine eigene Persönlichkeit nicht.“
„Ach quatsch. Dir fehlen vielleicht ein paar Jahre.“
„Mir fehlen 114 Jahre meines Lebens!“, unterbrach ich ihn abrupt und sah ihm erschrocken in die Augen, als ich begriff, wie viel das eigentlich wirklich war. 114 Jahre, so alt wurde nicht mal der Großteil der Menschen. Vielleicht war ich ja dieses abgefuckte Mädchen, aus diesen merkwürdigen Erinnerungen in diesem Portal?
„Jaaa, das ist schon viel, aber du bist eben das Mädchen, dass du all die letzten Monate auch warst.“
„Und, wenn ich das nicht mehr sein will?“
„Wieso solltest du? Du bist schlau, du bist witzig, du bist freundlich. Du bist eine super gute Freundin, auf die ich mich immer verlassen kann. Du brauchst doch nichts an dir zu ändern!“
„Das ist süß, aber ich hab keine Ahnung, ob ich das wirklich bin. Ob mir das reicht, nur das zu sein. Verstehst du?“
„Nur das? Ich finde das ist eine Menge. Du bist unheimlich mutig. Du hast dich durch diese ganze Scheiße gekämpft, obwohl du eigentlich gar keine Ahnung von dieser abgedrehten Welt hast. Und du hast den gefürchteten Grafen umgebracht, also wenn das nicht außergewöhnlich ist, dann weiß ich auch nicht.“ Ich musste schmunzeln. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht sollte ich gar nicht darüber nachdenken, wie ich eigentlich war. Vielleicht sollte ich einfach das weitermachen, was ich eben machen wollte. Einfach die Dinge auf mich zukommen lassen?
„Ich denke das mit dem Grafen zählt gar nicht richtig. Er hat sich ja beinahe freiwillig umbringen lassen. Wenn er mich wirklich hätte besiegen wollen, hätte er das längst getan.“
„Na und? Du hast ihn trotzdem umgebracht.“ Ich lachte. Ja, das hatte ich wohl.
„Seltsam ist es trotzdem“, antwortete ich.
„Das stimmt.“
„Es war, als wäre er bereit gewesen zu sterben. Als hätte er fast darauf gewartet. Und dann hat er auch noch was von einer Bestimmung erzählt.“
„Einer Bestimmung?“
„Ja, irgendwas von wegen, dass ich irgendeine Bestimmung hätte und, dass wir zusammen regieren könnten. Es klang beinahe so, als wäre alles längst geregelt, als würden wir zwangsläufig wieder zueinander finden und die Welt regieren.“
„Unheimliche Vorstellung“, murmelte Lucas mit finsterer Miene. Er sah nachdenklich aus. Mit tiefen Falten auf der Stirn starrte er den Boden an und kratzte sich am Hinterkopf.
„Weißt du was ich mich frage?“
„Nein, was?“
„Wieso hattest du zwei unterschiedliche Flügelfarben?“
„Wie meinst du das?“, fragte ich verwundert. Endlich erwachte er aus seiner Starre und musterte mich plötzlich ganz eigenartig. Ich konnte diesen Blick nicht ganz einordnen und so bildeten sich auch tiefe Falten auf meiner Stirn.
„Du hattest einen weißen und einen schwarzen Flügel.“
„Ähm, okay. Das ist mir nicht aufgefallen. Ich habe meine Flügel noch nie zuvor benutzt. Aber, was ist daran so ungewöhnlich? Leandro hat zwei schwarze Flügel und du zwei Weiße. Na und?“
„War ja klar, dass Leandro schwarze Flügel hat.“
„Wieso?“
„Die Farbe der Flügel sagt eigentlich etwas über die Seele aus. Es gibt dunkle und helle Seelen. Dunkle Seelen neigen eher zur Verdammnis. Sie landen nach ihrem Tod also eher in der Hölle, als Vampire mit einer helle Seele.“
„Warte was? Es gibt die Hölle? Gibt es auch einen Himmel?“, fragte ich verdutzt und machte große Augen. Also ich hatte mit vielem gerechnet, aber das der Mythos über Himmel und Hölle stimmen sollte, war mir nicht in den Sinn gekommen.
„Na ja nicht so, wie du jetzt denkst. Mit einem Teufel und Gott. Aber ja, es gibt einen, sagen wir mal, guten und schlechten Ort. Wie die allerdings aussehen, weiß niemand. Es gibt tausend Legenden darüber. Auch über die Wächter dieser Welten, aber was wirklich stimmt, weiß auch in dieser Welt niemand. Vielleicht ist es besser so. Aber an der Sache, mit den Seelen ist auf jeden Fall etwas Wahres dran.“
„Das heißt jemand mit einer schwarzen Seele ist automatisch schlecht?“
„Nein. Nicht schlecht, er lässt sich nur schneller zu schlechten Entscheidungen hinreißen. Das Schlechte ist in ihm, das heißt aber nicht, dass er es ausleben wird. Du musst dir das vorstellen, wie mit Süchtigen. Es gibt Leute, die haben ein Suchtpotential vererbt bekommen. Sie sind also anfälliger dafür und haben die Sucht für bestimmte Dinge in sich. Es ist aber ihre Entscheidung, ob sie sich von dieser Sucht leiten lassen oder ob sie unabhängig bleiben. Verstehst du?“ Unsicher nickte ich.
„Das heißt Leandro hat irgendwo in sich eine schlechte Seele? Also kann ich ihm eigentlich noch weniger vertrauen?“
„Na ja, ich würde ihm auch so nicht vertrauen. Aber ja, die schwarzen Flügel machen ihn nicht gerade vertrauenerweckend. Aber ich glaube du misst dieser Seelensache zu viel Bedeutung bei. Ich habe eine helle Seele und trotzdem kann ich schlechte Entscheidungen treffen. Ich habe auch getötet und schlechte Dinge getan, trotzdem ist meine Seele hell. Verstehst du?“
„Hm, ich denke. Es ist also eine Tendenz?“
„Ja, ich glaube das trifft es ganz gut.“
„Und ich habe eine helle und dunkle Seele?“ Lucas Augen fingen plötzlich an zu glitzern. Seine Augen waren wissbegierig. Die Ungewöhnlichkeit in mir schien ihn anzustacheln. Er wollte mehr über mich herausfinden. Über so einige Dinge, die wir uns alle nicht erklären konnten.
„Anscheinend. Ich wusste nur nicht, dass so etwas möglich ist. Und ich hätte dich auch ehrlich gesagt nicht so eingeschätzt. Für mich war klar gewesen, dass du eine völlig reine, helle Seele hast.“
„Ich bin doch aber auch kein Unschuldslamm“, lachte ich, doch verstummte noch im selben Augenblick. Ich musste an die Zeit, vor der Begegnung mit Leandro denken. Wie oberflächlich und gemein ich gewesen war. Ich hatte Leute nach ihrem Aussehen beurteilt. Ich hatte sie ausgeschlossen, weil sie nicht die gleichen Markensachen trugen, wie ich. Und jetzt hatte ich sogar mehrmals gemordet. Ich hatte eine halbe, dunkle Seele wohl wirklich verdient.
„Jeder macht Fehler, deswegen bekommt man ja nicht gleich eine dunkle Seele. Aber davon mal ganz abgesehen, ist die eh seit der Geburt festgelegt. Und du hast anscheinend eine gespaltene Seele.“
„Hmm, die Frage ist nur, ob das gut oder schlecht ist“, entgegnete ich zögernd und hatte das nächste Thema in meinem Kopf, über das ich mir nächtelang den Kopf zerbrechen konnte.
„Was ist eigentlich mit Emma?“, fragte ich vorsichtig und wechselte endlich das Thema. Ich hatte keine Lust mehr über meine ungewöhnlichen Besonderheiten zu sprechen, auf die sich doch sowieso niemand einen Reim machen konnte. Und meine leiblichen Eltern, die vielleicht so einiges hätten erklären können, waren längst tot.
„Was soll schon mit ihr sein?“
„Hast du ihr gesagt, dass du für ein paar Tage weg sein wirst?“ Verlegen schüttelte er den Kopf. Nun riss ich meine Augen auf uns sah ihn ernst an.
„Was? Du hast ihr nichts gesagt? Wenn wir wieder zurückgehen, wirst du dich dann bei ihr melden?“ Gleichgültig zuckte er nur mit den Achseln und warf mir einen entschuldigenden Blick zu.
„Lucas! Du kannst das arme Mädchen doch nicht einfach im Unwissen lassen! Also, ich kann sie echt auf den Tod nicht ausstehen, aber du hättest ihr wenigstens sagen können, dass du gehen musst“, sagte ich vorwurfsvoll und musterte ihn mit einem empörten Blick. Das hatte ich von ihm nun gar nicht erwartet. Ich dachte er mochte sie wirklich und vor allem hatte ich geglaubt, dass er nicht so ein elendiger Feigling, wie die meisten anderen Typen war.
„Ich weiß, aber das hätte die Sache doch nur unnötig in die Länge gezogen. Und die Zeit hatten wir nicht. Sie hätte tausend Fragen gestellt, die ich ihr nicht hätte beantworten können. Außerdem war das zwischen uns nicht so ernst, wie ich vielleicht zu Anfang geglaubt hatte“, gab er murmelnd zu und lehnte sich an die Bank. Kopfschüttelnd tat ich es ihm gleich und ließ meine Füße endlich von der Bank gleiten.
„Wie meinst du das? Ich dachte du mochtest sie?“
„Ja, ich mochte sie auch, aber es war eben nicht so, wie ich zu Anfang gedacht hatte.“
„Das verstehe ich nicht. Du musst doch wissen, ob du dir eine Beziehung mit jemanden vorstellen kannst oder nicht. Dir kann doch nicht in der Beziehung plötzlich auffallen, dass das eigentlich doch gar nicht so passt“, antwortete ich aufgebracht, als versuchte ich für Emma einen Sinn in Lucas Handeln zu finden. Ich hatte in Lucas irgendwie immer einen Heiligen gesehen. Jemanden, der gut war. Der Leute nicht verarschte und ihnen keine falschen Hoffnungen machte. Ich konnte diese blöde Emma echt nicht leiden und eigentlich sollte ich froh sein, dass er sie los war, aber sie tat mir fast leid. Sie musste sich doch jetzt tausend Fragen stellen. Sie musste doch denken, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Vielleicht machte sie sich ja sogar Sorgen um ihn, dachte ihm wäre etwas zugestoßen. Also so konnte er das echt nicht lassen!
„Das ging halt ziemlich schnell mir ihr. Ich hatte schon Interesse an ihr. Auch mehr, als nur rein freundschaftlich und mehr, als nur den Gedanken sie hübsch zu finden, aber irgendwie ist das mit der Zeit verflogen. Mir ging das vielleicht einfach zu schnell. Sie hat immer wieder von Beziehungen gesprochen und sich mir ganz schön aufgedrängt. Ich schätze das war mir wohl einfach zu viel.“
„Und warum hast du ihr das nicht gesagt? Du hättest ihr doch sagen können, dass du das Ganze langsam angehen willst und dich nicht direkt in eine Beziehung stürzen willst“, erklärte ich immer noch fassungslos und seufzte.
„Hm“, brummte er unsicher und dachte wieder nach.
„Ja schon, ach keine Ahnung. Ich habe vielleicht einfach nicht so darüber nachgedacht.“ Er hatte nicht darüber nachgedacht? Na toll, das arme Mädchen. Jetzt liegt sie bestimmt heulend in ihrem Bett und hat keine Ahnung was passiert ist. Wenn ich Lucas nicht so unheimlich gern hätte, dann würde ihn diese Aktion ziemlich unsympathisch machen. Aber aus irgendeinem Grund konnte ich ihm das schnell verzeihen. Vielleicht, weil ich selbst nicht wirklich betroffen war.
„Das arme Mädchen. Sie weiß bestimmt gar nicht was los ist. Du weißt schon, dass das echt gemein ist oder?“
„Ist ja gut, ich hab schon ein schlechtes Gewissen. Du hast Recht, ich hätte das vielleicht anders beenden sollen. Aber so war es eben einfacherer.“
„Einfacherer? Willst du mich verarschen? Denk doch mal an sie. Hast du sie wirklich gemocht?“
„Ja natürlich, das habe ich dir doch eben schon gesagt“, zischte er genervt und verdrehte die Augen. Offensichtlich hatte er keine Ahnung was er ihr angetan hatte. Er sollte echt mal an seiner Empathie arbeiten. Da könnte er sich ja mit Leandro zusammentun.
„Und warum hast du ihr dann kein Wort gesagt? Sie ist bestimmt total fertig deswegen und versteht die Welt nicht mehr. Ich meine du bist einfach vom einem, auf den anderen Tag verschwunden. Ohne ihr irgendetwas zu erklären!“
„Ja, ich weiß. Ist ja gut, ich habs verstanden“, knurrte er.
„Ach hast du das? Kannst du dir überhaupt vorstellen wie das für sie ist? Sie war bestimmt richtig verliebt in dich und du hast sie einfach abgeschossen, ohne ein Wort mit ihr zu sprechen. Also ich wäre ziemlich verletzt. Auch, wenn ihr noch nicht so lange zusammen ward.“
„Ach quatsch. Die war bestimmt noch nicht so doll verliebt. So was dauert doch“, versuchte er die Sache runterzuspielen. Okay, er hatte immer noch keine Ahnung was er ihr eigentlich angetan hatte. Dachten Typen wirklich so einfach? Ich hatte das Gefühl ich hinterfragte jede einzelne Silbe, die ich von mir gab. Und er hatte nicht darüber nachgedacht, wie es ihr gehen würde, wenn er einfach verschwand? Ein Typ zu sein, musste ja furchtbar einfach sein.
„Ja bei euch Typen vielleicht. Wir Mädchen verlieben uns ziemlich schnell. Ich rede jetzt nicht von Liebe, aber wir verlieben uns schnell und das kann ganz schön wehtun. Glaub mir, ich weiß wovon ich rede. Ich meine ihr ward sogar zusammen, ist ja wohl klar, dass sie davon ausgegangen ist, dass ihr noch ne Weile zusammen sein werdet. Sie wird sich schon die Zukunft mit dir ausgemalt haben und du lässt sie einfach sitzen.“
„Ist ja gut, können wir das jetzt bitte lassen? Ich hab ja verstanden, dass das nicht meine beste Aktion war, aber ich kann daran nichts mehr ändern, klar?“, entgegnete er nun energischer und atmete schwer aus. Ich verstummte. Nachdenklich musterte ich ihn. Auch er sah irgendwie müde aus. Nicht nur müde, weil er vielleicht wenig geschlafen hatte, sondern müde von den letzten Ereignissen. Vielleicht war sie noch schlimmer gewesen, als ich es angenommen hatte? Vielleicht verurteilte ich ihn zu Unrecht. Sein Blick war plötzlich traurig. Er schien es auf einmal zu bereuen. Seine Augen waren trüb geworden und er schien endlich zu verstehen, wie weh so eine Abweisung tun konnte. Kein Ahnung, ob er jemals Liebeskummer gehabt hatte, darüber hatten wir nie gesprochen, doch in seinen Augen konnte ich erkennen, dass er langsam begriff, wie es für Emma sein musste.
„Ich will dich ja nicht runtermachen oder so. Ich hatte das einfach nicht erwartet“, stammelte ich in die Stille hinein.
„Schon gut, du hast ja Recht. Ich habe ehrlich gesagt nicht darüber nachgedacht. Ich habe an diesem Tag irgendwie nur an dich gedacht. Und daran, dass wir schnell die Stadt verlassen müssen.“ Er hatte an mich gedacht? Irgendwie klang das eigenartig. Wir waren beste Freunde und ich mochte ihn sehr, aber dieser Satz klang mir irgendwie zu sehr nach einem Satz, den ich gerne von Leandro gehört hätte. Vielleicht lag es nicht unbedingt an diesem Satz. Sondern daran, wie er ihn ausgesprochen und mich dabei angesehen hatte. Merkwürdig...
„Aber wenn du nicht darüber nachgedacht hast, dann hast du sie doch auch nicht so richtig gemocht oder? Also ich meine mehr gemocht“, antwortete ich vorsichtig.
„Kann sein, vielleicht habe ich sie nicht so gemocht, wie sie mich?“, fragte er unsicher und sah mich unentschlossen an. Ich bemerkte, dass ihm dieses Thema unangenehm war. Also ließ ich ihn vorerst damit in Ruhe und schwieg. Er musste vielleicht selbst erst mal drüber nachdenken. Komisch, gerade bei Lucas hatte ich geglaubt, er wäre nicht die Art Typ, der so etwas abziehen würde. Ich glaubte immer noch nicht, dass er verlogen war und sich die Dinge einfach nur so schob, wie er sie brauchte, ohne Rücksicht auf Verluste, aber ich sah ihn nun mit kritischeren Augen. Er war nicht mehr ganz so unschuldig und lieb, wie ich zu Beginn unserer Freundschaft gedacht hatte. Aber vielleicht war diese Einsicht ganz gut. Niemand war von Grund auf gut. Auch nicht meine leibliche Mutter, so wie es der Graf, mein Vater, geglaubt hatte. Aber diesen Irrtum würde er mit Sicherheit noch erkennen.
„Und was ist nun mit Leandro?“, riss er mich aus den Gedanken und ließ mich wieder aufmerksamer werden. Tja, wenn ich das nur wüsste...
„Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr, was ihn angeht.“
„Hm na ja, nach der letzten Sache solltest du definitiv Schluss machen oder denkst du nicht?“
„Nein, für diesen Kuss konnte er nichts“, versuchte ich ihn zu verteidigen, obwohl ich selbst nicht mal davon überzeugt war.
„Wie, dafür konnte er nichts? Ist das dein Ernst? Hat er das gesagt? Ich nehme an es ist ein Missverständnis?“, entgegnete er spöttisch.
„Ja, so ungefähr“, antwortete ich knapp.
„Ach komm schon Alex, das kann doch unmöglich dein Ernst sein! Dieser Typ hat dich echt um den Finger gewickelt.“
„Ja, ich weiß. Aber dieses Mal konnte er echt nichts dafür, denke ich.“
„Du klingst nicht gerade überzeugt“, sagte Lucas fast euphorisch und starrte mir durchdringend in die Augen. Er schien sich zu freuen, dass ich langsam zu begreifen begann, wie Leandro wirklich war. Die Frage war nur, ob ich das wirklich begriff und ob Leandro wirklich so schlecht war, wie es seine dunkle Seele vermuten ließ.
„Bin ich auch nicht. Das Ding ist, die Hexe, die mich entführt hat, hat ihn mit einem Liebeszauber belegt, der natürlich nicht mir galt. Er war also für kurze Zeit unsterblich in dieses eine Mädchen, auf dem Schulhof, verliebt. Sie hat mir erklärt, dass er keine andere Wahl hatte, dass es eigentlich nicht seine Schuld war, aber ich weiß nicht, ob ich ihr das glauben kann.“
„Ne Hexe hat ihn verzaubert?“, fragte er ungläubig. Ich nickte.
„Und das glaubst du ihm?“
„Er weiß es selbst noch nicht. Die Hexe hat es mir erzählt und wieso sollte sie mich anlügen?“ Okay, sie hatte mich entführt. Sie war also nicht gerade vertrauenswürdig, aber ich wusste nicht was es ihr bringen sollte, mich in diesem Punkt anzulügen.
„Hm na okay. Ich weiß ja nicht. Also, wenn diese Geschichte stimmen sollte, dann war es tatsächlich nicht seine Schuld, auch wenn ich das nicht wirklich zugeben mag.“
„Wieso?“
„Weil ich ihn nicht leiden kann und, weil er nicht gut für dich ist. Ich weiß, dass das in deinen naiven, verliebten Kopf nicht reingehen will, aber ich habe das ungute Gefühl, dass dich dieser Typ kaputt macht.“ Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Nur brachten sie immer noch keine Klarheit, was ich nun tun sollte. Er sprach das aus, was ich unterbewusst die ganze Zeit gedacht hatte. Was ich vermutet hatte. Und was ich trotzdem erfolgreich verdrängt hatte. Nur war ich immer noch nicht breit für diesen Gedanken. Lucas konnte ihn nicht leiden, dass war nichts Neues, aber es beunruhigte mich, wie Recht er zu haben schien, mit dem, was er sagte. Nur konnte ich mir einfach kein Leben ohne Leandro vorstellen. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen.
„Diese Geschichte stimmt. Was weißt du über diese Zauber? Hatte er wirklich keine andere Wahl?“
„Nein, die hatte er dann nicht. Dieser Zauber lässt ihn alles um ihn herum vergessen. Er hat dich einfach vergessen und das wäre jedem anderen genauso passiert. Egal, wie sehr er dich liebt...“ Ich seufzte. Jetzt stand ich wieder vor dieser gruseligen, großen Frage. Was um Himmels Willen sollte ich tun?
„Ich fasse es nicht, dass ich das gerade gesagt habe.“ Ich schmunzelte, auch wenn mir gerade ganz und gar nicht zum Lachen zu Mute war. Mir war kotzübel. Es fühlte sich an, als müsste ich die Entscheidung meines Lebens treffen. Und gleichzeitig war ich mir sicher, dass ich diese Entscheidung nicht mal treffen konnte. Leandro würde sie wohl oder übel treffen müssen. Ich war viel zu feige dafür. Ich konnte nicht ohne ihn leben. Ich konnte es einfach nicht! Wenn das enden musste, dann war Leandro derjenige, der es beenden würde.
„Ich hab Angst“, brachte ich schließlich über meine zitternden Lippen und warf Lucas einen unsicheren Blick zu.
„Wovor?“
„Vor ihm, vor seiner Entscheidung. Ich muss mit ihm reden, aber ich hab Angst davor“, antwortete ich und versuchte meine bebende Unterlippe wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mein ganzer Körper zitterte vor Aufregung, dabei war Leandro noch nicht mal in der Nähe. Mir war so übel, dass ich mir sicher war, kein Wort über die Lippen zu bekommen, wenn er vor mir stehen würde. Was konnte dieser Typ nur mit mir anstellen? War er sich dessen überhaupt bewusst? Hatte er auch nur ansatzweise eine Ahnung, wie nervös er mich machte? Selbst dann, wenn er nicht mal in meiner Nähe war? Ich hasste dieses Gefühl der Unsicherheit. Er machte mich immer wieder unsicher. Und immer wieder zerbrach ich mir den Kopf über ihn und seine Eigenheiten. Das musste eigentlich endlich aufhören. Nur hatte ich keine Ahnung, wie wir das hinbekommen sollten.
„Du kennst meine Meinung zu ihm. Aber von welcher Entscheidung sprichst du?“
„Ob das so überhaupt noch funktioniert. Ich meine immer wieder landen wir am gleichen Punkt. Plötzlich sind wir uns so fremd, dass keiner weiß, wie er mit dem anderen reden soll. Ich halte das so nicht mehr länger aus“, erklärte ich heiser. Die letzten Worte hatte ich nur noch geflüstert, während ich versucht hatte die aufkommenden Tränen runterzuschlucken. Lucas seufzte. Er warf mir einen bemitleiden Blick zu und legte seinen Arm um mich. Vorsichtig kam er mir näher und umarmte mich schließlich herzlich. Ich erwiderte seine Umarmung und hatte für einen kurzen Moment wieder das Gefühl, atmen zu können.
„Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie schwer diese Entscheidung für dich sein muss, aber alles was ich dir raten kann ist, dass du es endlich beendest“, antwortete er leise. Langsam lösten wir uns wieder von einander. Schniefend wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Seine Worte machten mir Angst. Ich hatte Angst, dass sie die Wahrheit waren.
„Aber das kann ich nicht. Ich meine es funktioniert ja zwischendurch auch und ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ich ohne ihn leben soll. Ich meine das ernst. Ich kann es nicht!“
„Ach Alex, wieso kann das nicht einfach sein mit euch?“ Ich zuckte mit den Schultern. Wie oft ich mir diese Frage schon gestellt hatte.
„Ich weiß nicht was ich dir sagen soll. Wie oft wollt ihr das denn noch versuchen?“ Wieder zuckte ich mit den Schultern.
„Na ja eigentlich war der letzte Streit nur durch ein Missverständnis entstanden. Er war mir nicht wirklich fremdgegangen. Und die Zeit vor diesem Kuss, war unbeschreiblich schön gewesen. Er hat sich wirklich Mühe gegeben und ich hab die Zeit mit ihm genossen. Ich musste mir nicht mehr so viele Gedanken machen. Ich war glücklich mit ihm. Ist das nicht eigentlich Grund genug, um es weiter zu versuchen?“ Dieses Mal zuckte Lucas mit den Achseln. Er war anscheinend auch ratlos.
„Wenn ihr eigentlich kein Problem habt momentan, warum denkst du dann darüber nach, ob es nicht besser wäre, wenn ihr es beenden würdet?“ Tja, das war eine verdammt gute Frage, auf die ich keine Antwort hatte. Warum zerbrach ich mir den Kopf über ein Problem, das eigentlich gar kein Problem war?
„Denkst du ich bin kompliziert?“, fragte ich stattdessen. Vielleicht war dieses Mal gar nicht er das Problem, sondern ich?
„Ja du bist schon kompliziert und er eben auch. Ihr seid es beide und deswegen ist es wohl auch so schwierig zwischen euch.“ Ich seufzte. Ich konnte die Sache anscheinend drehen, wie ich wollte, am Ende hatte ich trotzdem keine Ahnung.
„Aber was wäre denn das Problem, wenn du ihm erklärst, wie es wirklich war und ihr versucht dort weiterzumachen, wo ihr aufgehört habt?“ Eigentlich war das gar kein Problem.
Dafür, dass Lucas ihn nicht ausstehen konnte, gab er trotzdem gute Ratschläge. Zumindest machte er ihn nicht ständig runter und versuchte mir einzureden, dass ich ihn bloß loswerden sollte. Ich konnte nur dankbar sein, jemanden wie Lucas an meiner Seite zu haben.
„Ich schätze ich weiß nicht, wie ich ihm noch vertrauen soll. Ich meine es war zwar nicht wirklich seine Schuld dieses Mal, aber mein Vertrauen ist irgendwie nur noch weniger geworden. Ich habe das Bedürfnis die ganze Zeit wissen zu wollen was er macht. Ob er sich mit Laureen trifft, was sie machen. Und ich habe keine Ahnung, wie ich das wieder loswerden soll. Ich weiß nicht, wie ich ihm wieder vertrauen kann.“
„Ich glaube ich weiß was du meinst. Versuch ihm das doch zu erklären. Wenn ihm wirklich etwas an dir liegt, dann wird er versuchen dein Vertrauen wieder zu gewinnen. Ich kann den Typen nicht leiden, aber vielleicht hat er ja aus seinen Fehlern gelernt.“
„Ja vielleicht“, flüsterte ich und spürte wie mich ein Funken Hoffnung überkam.
„Ich denke jedenfalls, dass du ihm wieder vertrauen könntest, wenn er sich darum bemüht. Er muss dir das Gefühl geben, dass du keinen Grund mehr hast, ihm nicht zu vertrauen oder eifersüchtig zu sein. Gerade hier ist das wohl wichtig. Hier, wo auch Laureen ist und wir im selben Haus mit ihr wohnen. Wenn er dir jetzt nicht dieses Gefühl geben kann, dann habt ihr nur immer wieder Streit deswegen. Er muss sich darum sorgen, dass es dir gut geht und vor allem muss dieser Vogel endlich mal anfangen zu 100 Prozent ehrlich zu dir zu sein. Das klingt viel, aber die meistens Dinge kann man schon durch Kleinigkeiten erreichen.“ Lucas klang plötzlich weise und erfahren, wenn er so sprach. Umso rätselhafter war es, wie er mit Emma umgegangen war. Neben Lucas hatte ich mich nie so unwissend gefühlt, wie ich es bei Leandro getan hatte. Ich dachte immer, dass Lucas und ich auf dem gleichen Stand waren, doch jetzt machte er diese Annahme langsam zunichte. Er wirkte so erwachsen was dieses Thema anging und er sah die Sache ganz neutral, obwohl er Leandro nicht leiden konnte. Dafür bewunderte ich ihn.
„Ja vielleicht könnte das so funktionieren. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er das überhaupt umsetzen könnte.“
„Das müsst ihr eben ausprobieren. Redet einfach mit einander.“ Lucas hatte gut reden. Wenn es so einfach wäre, dann hätte ich schon längst mit ihm geredet. Aber immer, wenn es um diese Themen ging, dann bekam ich kaum ein Wort raus. Ich hatte einfach Angst vor seiner Reaktion.
„Wahrscheinlich hast du Recht, ich werde morgen wohl mal mit ihm reden müssen. Danke“, antwortete leise.
„Na klar, wofür hat man denn Freunde. Erzähl mir dann, wies gelaufen ist okay?“ Ich nickte.
„Du könntest einen Brief schreiben.“
„Was?“, fragte Lucas verwirrt.
„Für Emma. Schreib ihr einen Brief und versuch einige Dinge zu erklären. Ich denke das könnte ihr helfen. Auch, wenn du vielleicht nicht alle Fragen beantworten kannst. Es ist besser, als nichts.“ Lucas starrte einen Moment in die Ferne, ehe er aufstand und mir schließlich zunickte.
„Ja, das sollte ich vielleicht tun. Ich werde morgen noch mal drüber nachdenken. Aber jetzt gehe ich schlafen. Ich bin hundemüde. Kommst du mit?“
„Nein, ich würde gerne noch eine Weile hierbleiben.“
„Bist du sicher? Es ist kalt und mitten in der Nacht. Hast du für heute nicht genügend nachgedacht?“ Ich lächelte. Ja, viel hatte ich nachgedacht, aber ich musste immer noch einige Dinge mit mir selbst klären. Lucas hatte mir zwar geholfen, aber ich war mir immer noch nicht sicher, was das Beste für uns wäre. Vielleicht würde ich das auch erst herausfinden, wenn ich mit Leandro sprechen würde, aber vorerst wollte ich selbst darüber nachdenken. Alleine.
Lucas ließ mich schließlich allein und ich hatte wieder diese Ruhe, nach der ich mich gesehnt hatte. Diese Einsamkeit, auch wenn ich sie eigentlich hasste. Ich fürchtete die Einsamkeit sogar.
Ich liebte diesen Ort. Er war perfekt zum nachdenken. Eigentlich hatte ich tausend Dinge im Kopf. Tausend fragwürdige Ereignisse über die ich hätte nachdenken sollen, doch heute Abend konnte ich mich nur noch auf ihn konzentrieren. Ich hatte überhaupt den Eindruck, dass ich mich erst wieder auf andere Sachen konzentrieren konnte, wenn wir das zwischen uns geklärt hatten. So war doch immer wieder gewesen.
Ich saß mindestens eine Stunde in der Kälte und starrte einfach nur den wolkenlosen Himmel über mir an. Vereinzelt fielen Sternschnuppen vom Himmel. Das Rauschen der Wellen war etwas ruhiger geworden und auch der stürmische Wind hatte sich gelegt. Die Nacht war ruhig und das war gut so. Denn ich war nur umso aufgeregter.
Leandro riss mich aus einem tiefen Gedankengang und stand plötzlich unverhofft vor mir. Erschrocken starrte ich ihn an, doch einen Blick in seine blauen Augen wagte ich immer noch nicht. Ich hatte Angst vor dem, was ich fühlen würde, vor dem, was er fühlen würde und vor der Entscheidung, die wir endlich treffen mussten. Eine Entscheidung, die endgültig sein sollte.