Ich stieß einen lauten Schrei aus. Wie erfroren zitterte ich am ganzen Körper und schon wieder begann mein Herz viel zu schnell zu schlagen. Mein Atem stockte und noch im selben Moment verschwand die komplette Kälte um mich herum und unglaubliche Hitze stieg in mir auf.
Die Blätter wehten vom Kopf der Leiche und man sah ihr Gesicht. Ich hatte noch nie eine Leiche im wirklichen Leben gesehen. Bisher hatte ich so einige Verstümmlungen nur in irgendwelchen Horrorfilmen zu Gesicht bekommen, aber das war definitiv was anderes! Die Leiche hatte pechschwarzes Haar, eisblaue Augen und sie war kreidebleich... na gut sie war eine Leiche,... die sind für gewöhnlich bleich, aber diese erschien mir ungewöhnlich bleich. So gut ich das beurteilen konnte.
Sie war schlimm zugerichtet. Ihre Haare waren zerzaust und ihr Gesicht sah aus, als hätte sie jemand ohne Gnade zusammengeschlagen. Dann erblickte ich einen riesigen Einstich an ihrem Hals. Das Blut war den Hals hinunter geronnen und klebte nun fest. Ich spürte wie sich mein Frühstück im Magen umdrehte und kurz davor war „Hallo“ zu sagen. Meine Gedanken überschlugen sich und ich spürte wie sie zunehmend vernebelter wurden. Machte ich mir gerade wirklich Gedanken darüber, wie diese Leiche aussah?
Mir fiel nichts anderes ein, als schreien zu können und endlich die Aufmerksamkeit meiner Eltern auf mich zu ziehen. Doch sie drehten sich kein einziges Mal um, also rappelte ich mich schnell wieder auf und rannte ihnen hinterher.
Ein erschreckender Gedanke schoss mir in den Kopf, als ich meine Eltern fast eingeholt hatte. Grausamer Weise hatte sie dem Kutschfahrer verdammt ähnlich gesehen, was wenn...
„Pass auf, die Blätter sind rutschig“, riss mich die ruhige Stimme meines Vaters aus den Gedanken und brachte mich zum Anhalten. Keuchend stand ich vor ihnen und hatte endlich ihre Aufmerksamkeit bekommen.
„Ich weiß!“, keuchte ich und schnappte ein Mal tief nach Luft.
„Fuck,... da, da... hinten liegt eine Leiche!“, stotterte ich immer noch schwer atmend und zeigte in die Richtung aus der wir gekommen waren. Für einen Moment schwiegen sie und starrten mich gleichzeitig unbeeindruckt an. Dann aber zeigte meine Mum endlich eine Reaktion und antwortete völlig gefühlskalt:
„Na und was sollen wir da machen? Wir sind in einem anderen Land, sonst denken die noch dass wir das waren.“ Was zur Hölle? Das konnte nicht ihr verdammter Ernst sein! Nicht in diesem Leben, das war nicht meine Mutter!
„In England findet man an jeder Ecke eine Leiche“, fügte mein Dad schließlich hinzu und ging mit dem Rest der Familie weiter.
Zurückgelassen blieb ich stehen und weigerte mich, ihnen zu folgen. Stattdessen kämpfte ich eine Weile mit mir selbst und drehte schließlich unentschlossen um. Ich hatte Angst, dass es tatsächlich der Kutschfahrer war oder noch schlimmer...
In kleinen Schritten lief ich der Leiche entgegen. Schon vom Weiten konnte ich den leblosen Körper erkennen. Eigenartig glitzerte er in dem wenigen Tageslicht, was es hier gab und blendete mich beinahe. Nervös lief ich auf ihn zu und versucht das mulmige Gefühl in meinem Magen zu verdrängen. Ich bückte mich und sah in ihr kaltes und lebloses Gesicht. Gänsehaut legte sich auf meinen Körper und brachte mich zum Schütteln.
Nach einigen Blicken erkannte ich, dass es tatsächlich der Kutschafahrer sein musste. Ich schämte mich beinahe dafür, dass ich Erleichterung spürte, als ich nicht in das Gesicht des Jungen schauen musste. Dabei sollte er mich doch gar nicht interessieren!
Für einen Augenblick schloss ich meine Augen. Dann stand ich auf und lief davon. Woher kam diese Erleichterung nur? Hätte es mir nicht egal sein sollen? Das sollte es verdammt noch mal! Toni war so unheimlich nett zu uns gewesen, diese Hinrichtung hatte er einfach nicht verdient oder?
„Fuck!“, fluchte ich, als mir auffiel, dass ich meine Eltern verloren hatte. Mein Herz rutschte mir in die Hose, als ich mich in diesem düsteren Wald umsah und plötzlich nicht ein mal mehr wusste, aus welcher Richtung ich überhaupt gekommen war.
Ich war gefangen mit einer Leiche! Irgendwo im Nirgendwo, In England!
„Verdammte Scheiße!“
„Hör endlich auf mit dem Fluchen, Alexandra!“, ertönte die Stimme meiner Mum, die ich in diesem Moment einfach zu lieben anfing. Schnell sprintete ich in die Richtung aus der sie gekommen war und erblickte schließlich erleichtert alle. Zufrieden saßen sie auf einem Baumstamm und aßen ihre Brote, die sie heute morgen beim Frühstück geschmiert hatten. Erleichtert setzte ich mich neben Tomi und nahm ein trockenes Käsebrötchen entgegen.
Wir aßen zusammen im vollem Schweigen. Keiner Sprach auch nur ein Wort oder machte eine Geste, ein Wort aussprechen zu wollen. Was war nur los mit ihnen? Was war passiert, was ich nicht mitbekommen hatte?
Meine Mutter war Polizistin. Sie wäre doch unter normalen Umständen direkt dort hingegangen und hätte ihre Kollegen angerufen. War das nicht auch irgendwie ihre Pflicht? Und mein Vater, er war der liebevollste Mensch den ich kannte und nun? Nun war er so abweisend. Was hatte ich nur verpasst? Selbst Tomi und Mia waren still, Für gewöhnlich hatten sie sich immer in den Haaren und provozierten mich mit Freude. Hatte sie jemand einer Gehirnwäsche unterzogen? Nein, quatsch was dachte ich nur für einen Unsinn? Oder bildete ich mir das alles langsam wirklich nur ein? Vielleicht war ich wirklich verrückt?
Nein! Nein, das kann nicht sein! Wie konnte ich das nur denken? Ich war perfekt! Perfektes Haus, perfektes Aussehen, perfekte Freunde,... obwohl sie waren nicht so perfekt wie ich! Ich hatte keine Probleme, ich hatte einen Freund, mein Leben war perfekt! Und genau so musste es bleiben! Wenn ich hier wieder weg wäre, dann wären das nur noch verschwommene, alte Erinnerungen.
Mein Image war schließlich perfekt, ich war einfach perfekt, wie konnte ich dran auch nur eine Sekunde zweifeln? Was auch immer dieser Urlaub mir mir anstellte, es war definitiv nicht gut für mich!
Auch wenn ich es immer noch nicht so richtig wahr haben wollte, so mussten diese ganzen Dinge hier einfach echt sein. Ich bildete mir das alles nicht ein und genau das machte mir langsam Angst. Schon die Tatsache, in einem Wald, gemütlich auf einem Baumstamm zu sitzen und zu futtern, während eine Leiche, ein paar Meter weg von hier, vor sich hin verwest, ließ mir den Appetit vergehen. Meine Familie erschien mir plötzlich fremd und ich hatte beinahe Angst sie zu fragen, ob wir wieder zurück gehen könnten. Doch schließlich nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und... ach das ist doch albern. Mut zusammen nehmen? Das ist meine Familie, was sollten die schon mit mir anstellen? Sie können mir schließlich nicht den Kopf abreißen.
„Können wir, ähm wieder nach Hause fahren?“
„Klar können wir gehen, ich glaube das war genug für heute. Kommt wir laufen zur Straße und gehen von dort aus nach Hause, das sollte kürzer sein“, erklärte mein Dad. Ich war überrascht, aber ich hinterfragte ihr Entgegenkommen nicht und freute mich stattdessen, bald wieder in diesem Schloss zu sein und raus aus diesem Wald zu kommen. Das ich in dieses Schloss mal freiwillig flüchten würde, hätte ich im Leben nicht gedacht. Entschlossen standen wir auf und folgten meiner Mum. Jeder ohne das geringste Wort. Zusammen liefen wir die breite Straße entlang. Erneut waren wir in ein peinliches Schweigen gehüllt, dass ich mit aller Kraft versuchte zu brechen:
„Mum?“
„Was?“
„Können wir ganz nach Hause fahren? Ich finde den Ort gruselig.“
Innerlich wurde ich immer nervöser. Es erschien mir wie eine Frage für´s Leben. Eine Frage die nicht nur den Moment, sondern mein, unser ganzes Leben beeinflussen würde.
„Natürlich nicht. Wir haben dafür bezahlt, nur weil das Hotel etwas beschädigt ist, werden wir garantiert nicht nach Hause fahren, also spar dir das!“
Ihre Schritte beschleunigten sich und damit hängte sie mich und Tomi schnell ab. Etwas beschädigt? Witzig. Sie tat als hätte ich sie beleidigt, dabei war das nur eine ganz berechtigte Frage gewesen. Kann ja keiner wissen, dass sie so sehr an diesem Ort hängt.
Als wir endlich ankamen wollte ich nach dem Jungen. Ich musste endlich wissen wie er heißt und ich musste ihm von der Leiche erzählen. Er war der Einzige der mir hier zuhörte. Es konnte mir egal sein, was er von mir dachte. Blöder Weise hatte ich ihm schon so einige ungewöhnliche Sachen erzählt und geweint hatte ich auch schon vor ihm. Also hatte ich nichts mehr zu verlieren. Was hatte ich mir auch dabei gedacht? Wie konnte ich so naiv sein und ihm meine Tränen, meine Schwäche zeigen? Irgendwann würde er es mit Sicherheit gegen mich verwenden. Nicht einmal meine beste Freundin hatte mich je weinen sehen und ich war der festen Überzeugung, dass das bei dieser Gesellschaft auch der beste Weg war.
Es passte mir gar nicht in den Kragen, dass sich mein perfektes Ich beim ihm aufzulösen drohte. Aber genau das war wohl auch der Grund, dass ich an ihm so einen Gefallen gefunden hatte.
Endlich hatten wir die Empfangshalle erreicht und sofort spürte ich, wie mein Gesicht langsam wieder auftaute. Zusammen liefen wir in die erste Etage. Doch ich war die einzige die dort alleine zurückblieb, als der Rest von uns auf unser Zimmer verschwand. Er war schon einmal die Treppen runter gekommen, warum sollte er sich also jetzt nicht mehr dort aufhalten? Zudem reizte mich dieses Verbotsschild unheimlich. Daher ignorierte ich es kurzerhand und lief die Treppen nach oben, in den zweiten Stock.
Wie erwartet quietschten die Treppenstufen und hinterließen bei mir Adrenalinschübe. Das Gefühl zu wissen, dass mich jemand sehen könnte, zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen.
Ich wurde ganz hibbelig, als ich der weißen Tür immer näher kam. Schließlich stand ich vor ihr und starrte sie mit riesiger Neugierde an. Was sich wohl dahinter befinden mochte? Kurz zögerte ich, biss nervös auf meiner Unterlippe herum und überlegte ob ich sie wirklich öffnen sollte.
Doch dann griff ich fest entschlossen nach dem Knauf und begann ihn zu drehen. Enttäuscht ließ ich meine Hand vom Knauf gleiten, als ich bemerkte, dass sie verschlossen war und blickte ihr sehnsuchtsvoll entgegen.
Zögerns sah ich mich um, suchte vergebens nach einem Schlüssel, nach jemanden der sie mir öffnen könnte. Ich weiß nicht was mich so neugierig gemacht hat, aber ich wollte um jeden Preis wissen, was diese Tür vor mir zu verstecken versuchte. Doch plötzlich, als hätte in mir jemand einen Schalter umgedreht, verließ mich das neugierige Gefühl.
Etwas in mir schien mich auf halten zu wollen.
Es hinderte mich daran, sie einzuschlagen, nach ihr zu fragen oder etwas zu tun, was im Zusammenhang mit dieser Tür stand. Ich senkte meine Blicke als ich begriff, nicht in Erfahrung bringen zu können was sie mir vorenthielt.
Mein Körper drehte sich um und begann langsam die Treppenstufen wieder hinunter zu schreiten. Ich versuchte mich gegen meinen Körper zu wehren, aber die unsichtbare Kraft in mir war stärker.
Mein rechter Fuß wollte die nächste Stufe erklimmen, aber ich konzentrierte mich zu sehr auf meinen linken, sodass diese nicht definierbare Kraft an Stärke verlor. Ein durch dringlicher Schrei kam in meine Ohre und riss mich aus meiner Konzentration. Der Schrei ließ meinen ganzen Körper erzittern und verschleierte meine Sicht. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte die restlichen Stufen hinunter.
Unten angekommen übernahm die Kraft schnell die Kontrolle und schleppte mich bis zum dem Ende des Flures. Bisher hatte ich es noch nie zu Gesicht bekommen und gerade deswegen schüchterte mich diese gruselige Ungewissheit und Dunkelheit ein. Der Schrei hatte mich so überwältigt, dass ich erst wieder zu mir fand, als ich am Ende des Flures stand und die Kraft langsam aus meinem Körper geflossen war.
Außer Atem stand ich einer weiteren weißen Tür gegenüber, die versuchte meine Aufmerksamkeit zu ergattern. Als wäre diese Tür ein Ersatz! Ein Trostpreis.
Das durfte ich mir nicht gefallen lassen. Was auch immer das für eine unsichtbare Kraft gewesen war, ich war stärker! Ich drehte um und versuchte erneut zu der mir verborgenen Tür zu gelangen. Die ersten drei Schritte waren erfolgreich, dann aber begann ich erneut kämpfen zu müssen.
Angestrengt schloss ich die Augen und versuchte um jeden Preis vorwärts zu kommen. Einen Schritt! Einen Schritt musste ich gewinnen. Ich musste sie brechen. Das war alles, was in diesem Moment vor sich ging.
Schnell atmend richtete ich meine komplette Kraft auf mein linkes Bein. Einen Schritt! Ich war kurz davor zu gewinnen, da ertönte der Schrei erneut. Reflexartig griffen meine Hände an meine Ohren und ich fiel zu Boden.
Zusammengekauert lag ich auf dem Boden und schrie:
„Hör auf!“ Doch umso mehr ich bettelte, desto lauter wurde der Schrei. Beide wurden wir immer lauter und energischer. Irgendwann konnte ich es nicht mehr aushalten, gab auf und verstummte. Es dauerte keine Minute, da war auch der Schrei verschwunden und ich konnte mich allmählich wieder aufrichten. Kurz überlegte ich. Sollte ich es erneut versuchen? Oder sollte ich mich mit der anderen Tür zufrieden geben? So rebellisch wie ich war, entschied ich mich für die erste Variante. Die weiße Tür auf der ersten Etage musste eine Falle sein.
Doch erneut landete ich nur vergebens auf dem Boden. Ich spürte wie die Kraft an Stärke verlor, doch zugleich schwanden auch meine Kräfte. Nichts desto trotz versuchte ich es ein drittes Mal. Wie zu erwarten blieb ich auch dieses Mal erfolglos.
Keuchend stand ich auf und begann nach Luft zu schnappen. Erschöpft lehnte ich mich gegen die Wand und ruhte mich aus. Eine Weile blieb ich regungslos dort stehen und betrachtete die weiße Decke. Schließlich aber wandte ich mich der anderen weißen Tür zu. Sie schien schon förmlich nach meiner Aufmerksamkeit zu schreien, sie zu verlangen. Schwer atmend trat ich auf.
„Na gut, wenn du unbedingt willst“, flüsterte ich und schob meine langen Ärmel ein wenig weiter nach oben. Auch sie trug ein Schild, was mich neugierig werden ließ:
„NICHT ÖFFNEN!!! Das schaffst du sowie so nicht!“ Wär` doch gelacht, wenn ich da nicht reinkomme. Hinter den Buchstaben hatte noch jemand einen hässlichen Smiley eingeritzt, der mich frech angrinste und den Anschein erweckte, als würde er mich auslachen wollen. Meine Neugierde stieg und schließlich wagte ich den Griff an die Türklinke.
Mit einem lauten Knarren sprang sie auf und zeigte mir das Geheimnis was sie bewahrte. Ich stand noch etwas verschüchtert am Rahmen der Tür und schaute skeptisch in den hell erleuchteten Raum, als ein kleines, süßes und schwarzes Kätzchen heraus gerannt kam. Sie hatte riesengroße Augen, mit denen sie mich unschuldig anschaute und mir ein kleines, süßes Miauen schenkte.
Ihre Augen waren leer, aber zugleich glasklar. Es kam mir so vor als könne ich in sie hinein sehen. Nein, nicht ich blickte in sie hinein, sondern sie war es, die meine Seele auffressen wollte. Ihre Blicke durchdrangen meinen Körper und machten mich durchsichtig. Plötzlich fühlte ich mich nackt. Als hätte mir jemand meine Fassade genommen, mit der ich meine Geheimnisse beschützt hatte. Als gäbe es dort draußen jemanden, der nun alles über mich wusste. Ich hasste diese Schutzlosigkeit und Schwäche. Ich wollte mich dagegen wehren und so zischte ich dem kleinen Biest entgegen und verscheuchte sie somit.
Einen Moment verharrte ich noch im Türrahmen, bis ich mich endlich den Geheimnissen stellte und herausfand, was diese mysteriöse Tür vor mir verbarg.