Helles Licht drang mir in die Augen und brachte mich zum Blinzeln. Meine Kopfschmerzen begannen heftiger zu werden, desto länger ich in das grelle Licht schaute. Ich fühlte mich als hätte ich einen Kater!
Ein stechender Schmerz zog sich plötzlich durch meine Schulter, als ich versuchte langsam aufzustehen. Vorsichtig entfernte ich die Stoffe über meiner Schulter und suchte nach der ausschlaggebenden Wunde. Zwei tiefe, blutige Risse erstreckten sich über meinen Arm und endeten erst am Anfang der Armbeuge. Zögernd richtete ich mich auf und kam endgültig in den Stand. Von dort aus verschaffte ich mir einen Überblick von meiner Umgebung. Völlige grelle Leere umgab mich und schien nicht enden zu wollen. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausgang oder einem Ende, doch dieser Ort schien endlos zu sein.
Die Oberflächen der Wände, der Decke und des Bodens waren glatt und strahlend weiß, als hätte es noch niemand gewagt, sie zu berühren.
Prüfend wollte ich meine Finger die Wände entlang streifen, doch umso mehr ich auf sie zuging, desto weiter entfernten sie sich von mir. Eine Weile lief ich ziellos durch diese Unendlichkeit und fragte mich, wie ich hier jemals wieder rausfinden sollte. Doch dann überkam mich ein Geistesblitz, der riesige Panik in mir auslöste.
Was wenn ich tot war? Wenn das hier der Ort zwischen Leben und Tod war? Aber konnte man sich beim Sterben überhaupt im Klaren darüber sein, dass man sich gerade in dieser Zwischenwelt befand? Als Kind hatte ich mir immer wieder vorgestellt, wie strahlendes Licht, voll von Sorglosigkeit, mich einholen würde. Irgendwann würde man spüren, dass man die Welt der Lebenden verlässt und sich dem hellen Licht hingeben. Was danach jedoch passiert, hatte ich mir nie vorstellen können. Es gab tausende von Erzählungen, in denen Leute von ihrem beinahe Tod erzählten. Alle erzählten sie von einem hellen Licht, dass einen einholen würde. Aber wo war es?
War ich noch nicht bereit um zu sterben? Es mag merkwürdig klingen, dass ich direkt über den Tod nachdachte, doch ich konnte mir einfach nicht erklären, was dieser Raum sonst für eine Bedeutung haben sollte. Es konnte kein Traum sein, denn während eines Traumes hatte ich nie so viel Bewusstsein, um darüber nachdenken zu können, ob ich mich wirklich in einem Traum befand.
Egal was für Gedanken in meinem Hirn herumspukten, sie entsprachen doch sowie so nicht der Realität. Außerdem was brachten mich Gedanken weiter? Sie waren nur theoretisch, praktisch tat sich da doch eh nichts.
Da ich auch keine Anleitung für diese äußerst seltsame Welt fand, beschloss ich es selbst in die Hand zu nehmen und machte mich auf den Weg, um etwas Brauchbares an diesem verlassenen Fleckchen zu finden. Neugierig lief ich weiter, bis ich plötzlich etwas dunkles auf dem Boden liegen sah. Meine Schritte wurden schneller und der Gedanke was mit mir passieren könnte verdrängt. Zielorientiert lief auf diese Gestalt zu und war auf einmal bereit alles dafür zu tun, um dort hinzu gelangen.
Es war wie ein Verlangen, das sich mehr und mehr in mir aufbaute und dem ich nicht so leicht entkommen konnte. Was wenn ich gerade jetzt die Grenze zum Tod überschritt? Wollte ich jetzt wirklich sterben? Schnell verdrängte ich diese Gedanken und wurde immer zielstrebiger. Ich bekam das Gefühl, als könnte mich niemand mehr umstimmen. Völlig frei von Ängsten und Verlusten rannte ich auf dieses Etwas zu und war bereit alle Erinnerungen hinter mir zu lassen.
Abrupt stoppte ich, als ich das zusammengekauerte Wesen auf dem Boden erkannte. Sie war es! Das Mädchen, das mich schon mehrere Tage verfolgte.
Vielleicht war sie ein Geist? Schoss es mir durch den Kopf, während ich mich ihr vorsichtig näherte. Natürlich, das war die einzige, wirklich logische Erklärung. Immerhin wäre es dann auch verständlich, warum sie niemand sah...
Die kurze Erleuchtung wurde jedoch schnell wieder getrübt, als ich bemerkte, dass sie nur unzählige weitere Fragen mit sich brachte. Warum konnte ausgerechnet ich sie sehen? Warum Leandro nicht, obwohl er so viel mehr übernatürlich war, als ich? Warum ich? Es gab so viele Leute auf diesem Planeten, warum ausgerechnet ich?
Moment mal, wenn sie ein Geist war und wir uns beide an diesem Ort befanden,... bedeutete das etwa ich wäre auch tot?
Erschrocken riss ich die Augen auf.
„Nein“, hauchte ich verzweifelt und sank fassungslos zu Boden. Als hätte ich geschrien, schreckte das goldhaarige Mädchen auf und stellte sich mir gegenüber. Ihre undefinierbaren Blicke lagen auf mir und ließen mich verzweifeln. Die Stirnessfalten ließen mich denken, sie würde über den Grund meines Aufenthaltes hier nachdenken. Zugleich wirkten ihren funkelnden Augen mitleidig, doch ihr fieses Grinsen war dabei mich Stück für Stück zu zerfressen. Sie richtete sich selbstbewusst auf und nahm ihre Schultern nach hinten.
Den Kopf hob sie hochnäsig in die Höhe und gab mir das Gefühl, als wolle sie über mich bestimmen.
Einige Minuten ließ ich es zu, wie sie mich von oben herab anstarrte, dann aber wurde es mir zu unangenehm und ich stand auf. Erst jetzt fielen mir ihre kindlichen Gesichtszüge auf und die Tatsache, dass ich einen guten Kopf größer als sie war. Warum verdammt noch mal hatte ich dann Angst vor ihr?
Mit einem schelmischen Lächeln schritt sie langsam um mich herum und begann in ihren lockigen Haaren herum zu spielen.
„Warum sind wir hier?“ Stille
„Wie sind wir hier her gekommen?“, fragte ich unsicher. Ihr Lachen hallte durch die Unendlichkeit und ließ mich zweifeln, ob ich jemals eine Antwort von ihr bekommen würde.
„Sind wir etwa tot?“
„Er scheint dich zu mögen“, hauchte sie mir plötzlich, völlig aus dem Zusammenhang gerissen, ins Ohr und blieb endlich vor mir stehen.
„Wer?“, fragte ich, obwohl ich mir sicher war, dass sie Leandro meinte.
„Leandro, wer sonst?“, rief sie verärgert und machte einen großen Schritt auf mich zu.
„Woher kennst du ihn? Und warum kann er dich nicht sehen? Außerdem warum...“, setzte ich an, doch schon wenige Augenblicke später, wurde ich von ihrer zarten Stimme unterbrochen, die mittlerweile fast einen genervten Tonfall bekommen hatte.
„Du fragst zu viel!“ Verdutzt von ihrer Aussage runzelte ich die Stirn und blickte ihr mit wissbegierigen Augen entgegen.
„Erinnerst du dich?“, fragte sie und ließ mit ihren Fingerspitzen blauen Staub zu Boden rieseln. Die Wände des Raumes liefen langsam in Farbe an. Immer mehr Farbe setzte legte sich an die Wände, bis sie schließlich richtige Bilder ergaben. Mit einem Wimpernschlag befanden wir uns plötzlich im Hotel.
Erneut begegnete ich dem unschuldig wirkenden Mädchen und sah wie sie unbeholfen den Ball aufhob und durch das Gemälde warf. Hatte sie die Zeit zurückgedreht oder was passierte hier?
Plötzlich tauchte ein rothaariges Mädchen, mit wilden Locken auf. Verwundert schaute ich sie an, als ich bemerkte, dass sie die gleichen Sachen trug wie ich. Doch erst als sie sich zu uns umdrehte, erkannte ich, dass ich das rothaarige Mädchen war.
„Warum zeigst du mir das? Ich weiß noch ganz genau was an diesem Tag passiert ist“, warf ich ungeduldig ein und hoffte eine vernünftige Antwort von ihr zu bekommen.
„Psst! Sei still, du nervst!“, fuhr sie mich wütend an, wobei sie ihre starre Blicke nicht vom Geschehen nehmen konnte. Peinlich berührt ließ ich es über mich ergehen und sah zu, wie ich den armen Mann zur Schnecke machte.
Nachdem er die Treppe runter und ich ins Bad verschwunden war, erkannte ich endlich, warum sie mir diesen Rückblick zeigte. Das Mädchen nahm Anlauf, sprang wagemutig über das Geländer und tauchte in das Bild hinein, als wolle sie gerade einen Köpper vom Zehnmeterbrett machen. Sanft fiel sie in eine kleine Gasse, die der Kanalisation sehr ähnelte. Die grauen Backsteine hingen schief in den Wänden und von der Decke tropfte es, sodass einige Pfützen auf dem Boden entstanden waren.
Unerbittliche Kälte legte sich auf meinen Körper und ließ mich frieren. Verwirrt warf ich dem Mädchen neben mir einen Blick zu und wunderte mich, warum sie nicht zu frieren anfing. Während ich sie so anstarrte, bewegte sie sich jedoch keinen Millimeter, weshalb ich schnell wieder auf die Wand starrte, an der sich alles ereignete.
Fröhlich hopste sie durch die Gänge und wich den Pfützen gekonnt aus, als würde sie diese Gänge in und auswendig kennen. Gebannt betrachtete ich das leichtsinnige Mädchen und wunderte mich über ihre Kleidung. Ihre Sachen waren wie bei dem Angriff auf mich, zerrissen und voll von Blut. Unter den Rissen lugten böse, blaue Flecke hervor und ihre Miene war plötzlich ganz finster geworden.
Was war nur während des Sprunges mit ihr passiert? Davor hatte sie noch so schöne, niedliche Kleidung getragen und plötzlich war alles Liebevolle an ihr verschwunden. Diesen merkwürdigen Style legte sie in der Gegenwart oder wo auch immer wir uns befanden, immer noch an den Tag. Vorerst verwarf ich diesen Gedanken und widmete meine Aufmerksamkeit wieder den tanzenden Bildern vor mir.
Plötzlich hörten wir Schritte und dem Mädchen sah man auf einmal ihre Angst an. Sie zögerte nicht lange und verschnellerte ihre seichten Schritte. Abrupt blieb sie an einer Abzweigung stehen, kontrollierte noch einmal wie weit die verfolgende Person war und bog dann fest entschlossen nach rechts ab. Mit ihrem Blickfeld, wanderte auch Unseres und wir kamen auf einen langen Flur.
Interessiert schlich sie durch den Gang und wirkte nun so ruhig, als hätte sie ihren Verfolger längst vergessen. Neugierig drückte sie die erste Türklinke herunter. Enttäuscht blickte sie uns entgegen, als sich nichts tat. Sie ließ sich nicht von ihrem Ziel abhalten und versuchte auch die zweite Tür zu öffnen.
Ein stolzes Grinsen huschte über ihre Lippen, als die Tür knackte und sie sie mit einem lauten Quietschen öffnete.
Ihr entglitten fast alle Gesichtszüge, als sie zwei gefesselte Menschen erblickte. Ich konnte mir gerade so einen Schrei verkneifen als ich verstand, dass es meine Eltern waren, die dort gefesselt saßen. Aufgeregt versuchte ich die Aufmerksamkeit des Mädchens zu erhaschen, doch anstatt sich für meine Sorgen zu interessieren, winkte sie mich genervt zurück und starrte wieder gebannt auf die Bilder.
Mit weit aufgerissenen Augen schlich sie weiter, um eine kleine Ecke und kam schließlich in einen zusätzlichen Raum, der ebenfalls mit gefesselten Menschen belegt war.
Die meisten von ihnen hatten mehrere blaue Veilchen im Gesicht und waren mit blauen Flecken übersät. Mitten in diesen Menschenmassen entdeckte ich meinen Bruder und meine keine Schwester.
Tränen sammelten sich in meinen Augen. Wer konnte nur so grausam sein und all diese Menschen gefangen nehmen? Sie schlagen und quälen? Wut und Besorgnis machten sich in mir breit und ließen mich ungeduldig werden. Wie sollte ich ihnen nur von hier aus helfen? Wie?
„Das kann nicht sein, ich hab sie heute erst gesehen!“, brachte ich aufgelöst hervor und versuchte endlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen.
„Du bist schon nicht die Hellste oder? Ich bin dort heute erneut gewesen und habe sie entdeckt“, lachte sie übertrieben und versuchte es so gut es ging ins Lächerliche zu ziehen.
„Findest du das etwa witzig“, stieß ich empört hervor und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.
Verlegen wanderten ihre Blicke zu Boden und sie begann erneut in ihren Haaren herum zu spielen.
„Warum zeigst du mir das, wenn du dich doch eh nur lustig über mich machen willst.
„... Vi.. vielleicht wollte ich dir helfen?“, stammelte sie herum und plötzlich war ihr komplettes Selbstbewusstsein verschwunden. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen musterte ich sie wütend und fragte mich was für ein geschmackloses Spiel sie mit mir trieb. Das war verdammt noch mal nicht witzig! Es ging um meine Familie!
„Kannst du mir mal sagen was das soll? Erst kannst du deine Klappe kaum halten und jetzt tust du so, als hätte ich dir wer weiß was angetan!“
Daraufhin schaute sie mir etwas entsetzt entgegen und schwieg. Ich konnte nicht weiter zusehen, wie sie dort saßen und niemand ihnen helfen wollte. Langsam ging ich ein paar Schritte vorwärts. Erst sehr unsicher, aber dann immer entschlossener. Ruhig stellte ich mich beiden Kindern gegenüber und schaute in ihre glasigen Augen. Völlig leblos starrten sie mir entgegen, als wären sie nur irgendwelche Puppen, die an der Fantasie einiger gestörter Kinder hatten leiden müssen.
Gefesselt saßen sie schweigend da und rührten sich nicht. Ich konnte dem nicht einfach zusehen, ich musste ihnen helfen! Ohne länger drüber nachzudenken griff ich nach ihren Fesseln und wollte sie befreien. Doch als hätte ich einen heftigen Stromschlag bekommen, wurde ich plötzlich kräftig nach hinten gestoßen und fiel in dunkle, schwarze Tiefe. Eisiger Wind sauste an meinem Kopf vorbei und gab mir das Gefühl, ich würde in einem Affenstempo in die Tiefe stürzen. Ich fiel so schnell, dass der Boden nicht mehr lange entfernt sein konnte und so stellte ich mich schon jetzt darauf ein, mit schmerzendem Rücken auf steinernden Boden aufzuprallen. Es war nicht nur das ängstigende Gefühl zu fallen, sondern auch diese schräge Einbildung, jemand hätte mich fallen gelassen. Jemand dem ich vertraut hatte.