Mein Atem stockte, als mein Körper in die tristen Farben eintauchte. Alte Erinnerungen zogen an mir vorbei und ließen mich unaufmerksam werden. Ich runzelte die Stirn, als unbekannte Gesichter an mir vorbeiflogen, die meiner angeblichen Vergangenheit entsprungen sein sollten. Mir blickte eine schwarzhaarige, dünne Frau entgegen, die ihre Hand mit der eines breiten Mannes verschränkte. Er trug einen Dreitagebart und tätschelte den Kopf eines Jungen.
Die Miene der Frau wurde finsterer und sie löste ihre schmalen Finger aus seiner Hand. Sie begann zu schreien und beleidigende Worte hallten durch die Gänge. Ich versuchte das Gesicht der Person ihr gegenüber zu erkennen, doch leider reichte mein Blickwinkel nicht bis dort aus.
Dumpfe Schritte ertönten und kurz darauf enthülle die Unbekannte ihr Gesicht. Langsam entfernte sie die Kapuze von ihren langen, roten und lockigen Haaren und grinste dem Paar entgegen.
Ich erschrak als ich sie erkannte. Ich war es, ich war die mysteriöse Person. Aber wie zur Hölle konnte das sein? Diese Gesichter riefen in mir nichts hervor. Keine Erinnerungen, Verbindungen oder Gefühle. Wer waren...
Meine Gedanken wurden von einem ziehenden Schmerz in meinen Knien unterbrochen. In meiner Abwesenheit musste ich die Landung verpasst haben und lag nun, die Hände nach vorne gestreckt, auf dem Boden. Stöhnend richtete ich mich wieder auf und stellte mich an die Seite, damit Leandro genügend Platz für seine Landung hatte. Warum konnte ich mich nicht an sie erinnern? Es fühlte sich an, als hätte jemand meine Erinnerungen an sie weg radiert. Aber warum war ich überhaupt dort gewesen?
Unruhe machte sich in mir breit, nachdem ich schon eine Weile im Gang stand und mich fragte, warum Leandro immer noch nicht aufgetaucht war. War er wirklich bei seiner Einstellung geblieben? Wollte er sich wirklich gegen diesen Sprung weigern? Zögernd warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. 14 Uhr. Hatte Leandro nicht erst vor ein paar Stunden gesagt es würde bald dunkel werden?
Die Zeit verging nur schleppend und ich hoffte eine Weile lang, er würde nur zweifeln und deswegen so lange brauchen. Doch nachdem sich zehn Minuten immer noch nichts getan hatte, beschloss ich zurück zu springen und nach ihm zu suchen.
Es war nicht meine Angst vor dem Grafen, es war meine Vernunft, die mir sagte, ich könnte es ohne ihn niemals mit ihm aufnehmen und sie hatte wohl oder übel recht.
Vielleicht würde ich mehr über die mysteriösen Gesichter in Erfahrung bringen können?
Ich drängte mich ganz weit in die linke Ecke, denn dort war das Geländer am niedrigsten. Außerdem hoffte ich auf diese Weise im Sprung nicht mit Leandro zusammenzustoßen.
Doch vor dem nächsten Sprung zögerte ich. Was wäre wenn er schon aufgegeben hatte? Wenn er einfach gegangen war? Oder wenn er vielleicht sogar im Nichts gelandet war, weil seine Gedanken unklar gewesen waren? Je mehr ich mir Gedanken über Eventualitäten machte, desto nervöser wurde ich. Obwohl ich mir im Moment nicht sicher war, ob er wirklich ehrlich zu mir gewesen war, so machte ich mir Sorgen, ihm könnte etwas Schlimmes passiert sein. Egal wie lange ich darüber nachdachte, hier würde ich keine Antwort finden. Also schloss ich die Augen und sprang zögerlich ab.
Während ich langsam durch die Luft glitt war mir bereits klar, dass ich es niemals über´s Geländer schaffen könnte. Dafür war ich viel zu zögerlich abgesprungen, doch jetzt war es zu spät. Panisch riss ich die Augen weit auf, streckte mich so gut es ging und hielt die Hände in die Höhe, um das Geländer fassen zu können.
Auch wenn ich mich nach diesen eigenartigen Erinnerungen sehnte, so war es in diesem Augenblick rettend, ihnen nicht begegnet zu sein. Auf diese Weise konnte ich mich auf den gewagten Sprung konzentrieren und hoffen, ich würde wenigstens ansatzweise an das Geländer rankommen.
Meine Geschwindigkeit wurde langsamer, das Rauschen in meinen Ohren leiser und die Dunkelheit heller. Ich schaute blitzendem Licht entgegen und schon kurz darauf tauchte ich langsam aus den dunklen Farben wieder auf. Die Geschwindigkeit beschleunigte sich und noch bevor ich einen weiteren Atemzug nehmen konnte, knalle ich direkt gegen das Geländer. Gerade so konnte ich mit meiner rechten Hand das Geländer erreichen und mich für kurze Zeit retten.
Erst jetzt wo ich so erbärmlich dort hing, spürte ich den stechenden Schmerz in meinen Oberschenkeln, die brutal gegen das Holz gestoßen waren. Ich kniff die Augen zusammen und biss mir auf die Lippe, um den Schmerz bestmöglich weg atmen zu können.
Verzweifelt versuchte ich mit der anderen Hand ebenfalls nach dem Geländer greifen zu können, doch es war einfach zu weit entfernt. Vorsichtig wagte ich einen Blick nach unten und schaute in die Tiefe, die mich verschlingen wollte. Augenblicklich begann mein Herz schneller zu schlagen und ich spürte wie meine Hände rutschig und zittrig wurden.
Wenn ich jetzt in die Tiefe stürzen würde, könnte die Pflanze unter mir vielleicht etwas Schwung abfedern und ich würde mit viel Glück nur ein paar Knochenbrüche mitnehmen. Wenn ich die Pflanze andererseits aber verfehlen würde...
Nein, springen oder fallen war keine Option, dafür war es viel zu riskant. Wieder schloss ich die Augen, sammelte meine übrig gebliebenen Kräfte und zog meinen Körper mit der rechten Hand etwas weiter hoch. Endlich konnte ich auch mit der linken Hand nach dem Geländer greifen und spürte schon gleich wie ich ruhiger und sicherer wurde. Gut, jetzt musste ich nur noch meinen Fuß irgendwie auf etwas Standfestes bringen.
Für einen Moment verharrte ich in dieser Position und versuchte zu Kräften zu kommen, da meine knappen sechzig Kilo nicht gerade leicht zu halten waren. Allerdings spürte ich schon nach wenigen Sekunden wie meine Arme immer mehr zu zittern begannen und meine Hände dabei waren abzurutschen.
Jetzt oder nie. Angespannt zog ich mich nach oben und konnte endlich ein kleines Brett finden, auf das ich meinen Fuß stellen konnte. Von dort an war es ein Leichtes meinen Körper auf sicheren Boden zu hieven. Ich stemmte auch meinen anderen Fuß auf das Brett, warf mein linkes Bein zuerst übers Geländer und kletterte schließlich erleichtert zu den Treppenstufen.
Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen rutschte ich zu Boden und begann zu lachen. Ich hatte es geschafft. Ich hatte das Unmögliche, möglich gemacht und selbst eine Lösung gefunden. Es war mir fast peinlich, wie ich über beide Ohren strahlte und vor Erleichterung immer wieder aufschrie.
Jetzt hatte er mir zum ersten Mal nicht geholfen und trotzdem hatte ich es irgendwie geschafft. So sehr war ich gar nicht auf ihn angewiesen. Doch für das Befreien meiner Familie bräuchte ich seine Stärke und sein Wissen.
Moment mal wo war er eigentlich? Das fröhliche Lachen entwich meinem Gesicht und stattdessen kniff ich die Augen zusammen. Langsam stand ich auf und blickte mich um, doch ich konnte nirgends auch nur eine Spur von ihm sehen. Was wenn er wirklich Schiss bekommen hatte und mich mit meinen Problemen nun alleine ließ? Aber war er wirklich so feige?
Nein, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er mich alleine gelassen hatte. So verräterisch wäre er nicht, richtig? Aber woher will ich das überhaupt wissen, ich scheine immerhin nicht im Geringsten etwas über ihn zu wissen. Alles was er mir jemals erzählt hatte, könnten genauso Lügen gewesen sein. So wie seine angeblichen Gefühle für mich.
Egal was er getan oder nicht getan hatte, ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er mich gerade jetzt im Stich lassen würde. Das würde zu ihm einfach nicht passen. Immerhin wollte er mir in jeder Situation helfen und mich retten, um den Helden spielen zu können. Also konnte er bei dieser großen Aufgabe unmöglich Angst bekommen haben.
Aber wo war er dann gelandet?
Müsste ich jetzt wirklich freiwillig in die Endlosigkeit zurückreisen? Gab es nicht noch einen anderen Ort, wo er sich verstecken könnte? Blitzartig erinnerte ich mich daran, dass er kurz vor unserem Sprung an den Werwolfangriff gedacht hatte. Er musste aus versehen dort gelandet sein.
Ich tat mich schwer darüber nachzudenken, erneut durch dieses Bild zu springen. Allein und mit dem Wissen, dass es nur eine Vermutung war, nichts Handfestes, dass mir versicherte, ich würde mein untotes Leben für etwas sinnvolles auf´s Spiel setzten. Untot, vielleicht war genau das der richtige Ansatz. Ich war ein Vampir, waren die nicht eigentlich unsterblich?
Eigentlich wollte ich ihn nicht mal wieder sehen und es ging mir gehörig gegen den Strich, wenn ich an den ganzen Aufwand dachte, der nur für ihn war. Nichts desto trotz brauchte ich ihn und seine Erfahrung, da kam ich wohl oder übel nicht drum rum und nur deswegen riss ich mich zusammen und sprang erneut. Doch ich sprang nicht halb so gut, wie bei meinem ersten Mal.
Das Adrenalin war längst verflogen und stattdessen hatte sich Erschöpfung in mir breit gemacht, die ich jetzt eigentlich gar nicht gebrachen konnte.
Eine Weile glitt ich durch kühle Dunkelheit, dann aber erstreckten sich Bilder vor mir. Wieder zeigten sie diese eigenartige Familie und mich. Aber wer war das neben mir? Dem ich gerade provokant die Zunge in den Hals steckte, während alle drei geschockt das Geschehen betrachteten.
Also das musste wirklich eine Geschmacksverirrung gewesen sein. Vielleicht hatte ich diese Erinnerungen mit einer großen menge Alkohol verdrängt, um diese grauenhaften Bilder aus meinen Kopf zu katapultieren. Der Typ mir gegenüber grapschte amüsiert an meinen Hintern und machte sich wie mein damaliges Ich nicht daraus, dass wir dabei von anderen Menschen angegafft wurden. Oh mein Gott was war los mit mir? Blaue Haare, wirklich? War nicht gerade ich diejenige gewesen, die sich über diesen neuen Trend ziemlich lustig gemacht hatte?
Wie konnte ich gerade dann mit einem blauhaarigen, gepiercten und von oben bis unten tätowierten Typen rumknutschen? Gerade ich? Die vor allem immer auf ihr Image geachtet hatte und dass dieser Ausrutscher alles zerstören würde, war glasklar.
Doch so lange konnte diese Erinnerung nicht her sein. Dort trug ich einen perfekten Eylinerstrich, den ich, zugegebener Maßen, erst seit einem halben Jahr so richtig drauf hatte.
„Das ist mein neuer Freund“, sagte ich den Dreien grinsend und hielt ihnen unsere verschränkten Finger unter die Nase.
„Es freut mich ihre Tochter vögeln zu dürfen“, rief er amüsiert und schlang seinen tätowierten Arm um meine Schulter. Tochter? Wie bitte? Niemals war ich deren Tochter gewesen, ich kannte meine Eltern ganz genau und das waren sie definitiv nicht! Das sollte doch wohl ein Scherz sein. Wie hätte ich mich jemals mit so einem ekelhaften Typen abgeben können? Aber ich muss sagen, der Eylinerstrich saß echt beeindruckend gut. Nicht zu dick, nicht zu dünn, mit einer perfekt, gerade gezogenen Linie.
Die beiden schauten genauso geschockt wie ich. Falten lagen auf ihren Stirnen und die Augen waren eng zusammengekniffen. Man sah ihnen ihre Mühen an, nicht gleich an die Decke zu gehen. Beide bissen sie sich auf die Lippen, um ihre Gedanken für sich behalten zu können.
„Lass uns hoch gehen, Babe“, lachte der Typ und begann die erst beste Treppe hoch zu torkeln. Bei diesem Anblick hätte ich am liebsten gekotzt!
Immer wieder fiel er fast die Stufen hinunter, hätte ich ihn nicht gehalten. Wie konnte das jemals mein Freund gewesen sein? Niemals hätte ich mich auf so etwas Widerliches eingelassen. Niemals! Seine ganze Art war zum kotzen. Die fettigen Haare, der ungepflegte Bart und die halb zerrissenen Klamotten.
Selbst der schlimmste Alkoholrausch, hätte so etwas niemals zugelassen, zumal ich zu diesem Zeitpunkt doch äußerst nüchtern wirkte.
„Babe? Wirklich“, rief ich verstört den Bildern entgegen und noch im selben Moment rollte ich aus dem Funken sprühenden Bild und landete nicht besonders grazil auf meinem, schon ohnehin schmerzenden, Hinterteil.
„Aua“, war alles was ich hervorbrachte, als ich in das grinsende Gesicht Leandro´s blickte.
Was grinste der so blöd? Für ihn hatte ich eine halbe Weltreise auf mich genommen, nur weil der wehrte Herr sich nicht richtig konzentriert hatte.
„Babe?“, lachte er und stand vom Baumstamm auf, um mir auf zu helfen.
„Erinnerungen.“
„Aha, na ja wenn du meinst.“
„Weißt du eigentlich dass ich mir gerade wirklich den Arsch für dich aufgerissen habe?“, fragte ich empört, griff nach seiner Hand und zog mich energisch an ihr hoch.
„Wie hast du mich überhaupt gefunden?“
„Ich habe nicht umsonst nach deinen Gedanken gefragt.“
„Hm“, brummte er gleichgültig und setzte sich wieder auf den Baumstamm. Er konnte wirklich nicht wertschätzen was ich getan hatte, um ihn zu finden.
„Ich bin wegen dir extra zurück gesprungen, wobei ich fast in die Tiefe gestürzt wäre und um dich zu finden, musste ich noch mal einen Sprung auf mich nehmen und alles was du dazu sagst ist hm?“
„Was soll ich dazu noch sagen? Danke oder was? Wofür?“
„Was?“, rief ich ungläubig und warf dabei wild gestikulierend meine Hände in die Luft.
„Das ist nicht dein Ernst oder? Oh Gott was ist nur mit dem Jungen passiert, den ich mal gut fand?“
„Du hast ihn vergrault. Wie auch immer, wir sollten uns ausruhen und uns bei Nacht anschleichen“, schlug er entschlossen vor und stand vom Baumstamm auf, um schon vor zu laufen.
„Warte mal“, rief ich verwundert, joggte ihm hinter her und schlug vorsichtig auf seine Schulter. Abrupt blieb er stehen, schob meine Hand arrogant von seiner Schulter und sah mich fast genervt an. Er ließ aber auch keine Gelegenheit aus, seinen verletzten Stolz mir unter die Nase zu reiben. Ich wusste ich war Diejenige gewesen, die ihm, aus guten Gründen natürlich, nicht mehr vertraute, aber sein riesiger, verletzter Stolz, ging mir langsam gehörig auf die Nerven. Irgendwann könnte man sich auch wieder zusammenreißen, dass konnte ich schließlich auch!
„Bist du verrückt? Er hält meine Familie gefangen, was ist daran nicht zu verstehen? Ich habe keine Ahnung wie lange er sie überhaupt noch leben lässt, so grausam wie er beschrieben wird.“
„Es ist klüger, wenn wir uns Nachts reinschleichen, dann schläft er vielleicht und wir haben bessere Chancen sie unbemerkt zu befreien.“
„Das stimmt schon. Aber jemand hat mir gesagt, dass uns die Zeit davonläuft.“
„Jemand ja? Entweder du wartest mit mir oder du kannst alleine gehen“, zischte er beleidigt und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
„Du bist ja ein echter Held.“
„Wer weiß, vielleicht sind unsere Mühen auch umsonst? Vielleicht leben sie ja schon gar nicht mehr?“ Bitte? Okay jetzt hatte er definitiv eine Grenze überschritten!
„Was? Hörst du dir überhaupt noch zu? Das hat jetzt langsam echt nichts mehr mit dem zu tun, was zwischen uns war! Das ist einfach nur unfair und das weißt du!“, schrie ich wütend und verschwand. Wie konnte er so etwas überhaupt sagen? Ich konnte nicht glauben, dass das immer noch der gleiche Junge war, in den ich mich verliebt hatte. Seine ruppige Art und die harten Worte ließen mich glauben, ein völlig anderer Mensch würde vor mir stehen.
Aber was weiß ich schon? Ich wusste nichts über ihn und so eigenartig das auch klingen mochte, ich wünschte mir, ich würde ihn so richtig kennen. Alles über ihn wissen. Obwohl er sich wie der letzte Idiot verhielt.
Vom Baumstamm aus war es nicht mehr so weit, bis zum Treffpunkt dieser eigenartigen Wesen. Warum war ich nur auf ihn angewiesen? Könnte ich nicht irgendjemanden um Hilfe bitten? Jeden außer ihn? Er hielt es ja nicht mal für nötig mir hinterher zu rennen. Das dürfte ihm jedenfalls jetzt nicht mehr so schwer fallen. Meinen superspeed hatte ich verloren und stolperte nun, nur noch über die vereinzelten Wurzeln. Ich lief den Tränen nah, eine Weile durch den dunklen Wald und hoffte endlich die Stege sehen zu können.
Meine Mühen blieben nicht lange unbelohnt und so sah ich kurze Zeit später die kleinen Hütten. Laureen empfing mich stumm und begleitete mich bis in eins der Hütten. Mir war gar nicht aufgefallen, dass sich unter dem Tisch eine kleine Tür befunden hatte, mit dessen Hilfe wir in die Tiefen gelangten. Eine Weile führte sie mich durch unbekannte Gänge, bis wir schließlich zu dem Zimmer kamen, in dem ich nach dem Werwolf Angriff gelegen hatte. Obwohl wir uns unter der Erde befanden, konnte ich aus dem Fenster blicken. Wie das funktionierte machte für mich keinen Sinn, aber das war in diesem Moment mein geringstes Problem.
Ohne ein Wort verschwand sie aus dem Zimmer und ließ mich allein zurück. Gedankenversunken ließ ich mich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Wie konnte er jetzt ans Schlafen denken? Na ja es war nicht seine Familie, vielleicht war er einfach nicht emphatisch genug, um verstehen zu können, dass es mich völlig aufwühlte. Ach was redete ich mir ein? Der Brief hatte alles gesagt. Nun brauchte er nicht mehr freundlich sein und schon gar nicht vorgeben, etwas für mich zu empfinden. Aber warum half er mir dann? Konnte er etwa alles andere nicht mit seinem Gewissen vereinbaren? Und warum hatte er mich kurz vor dem Sprung an der Hüfte gepackt? Das machte doch niemand, der einen nicht mochte oder?
Meine Gedanken wurden von einem energischen Klopfen an der Tür gestört. Schnell richtete ich mich wieder auf und rief freundlich:
„Herein.“ Meine Freundlichkeit verschwand auf einen Schlag, als ich in Leandro´s stures Gesicht sah.
„Was willst du?“
„Ich wollte nur sehen ob du angekommen bist.“
„Dann kannst du ja jetzt wieder gehen.“
„Außerdem müssen wir noch besprechen wann wir aufbrechen wollen“, sagte er leise und schloss die Tür hinter sich.
„Ist mir egal, sie sind ja wahrscheinlich sowieso schon tot, nicht war?“, zischte ich ihm entgegen, stand auf und lief zur Tür, um sie wieder zu schließen.
„Was hältst du von 23 Uhr?“
„Wie gesagt ist mir egal, meine Meinung zählt hier doch sowieso nicht.“ Meine Worte hallten durch den Raum und als sie verstummten, wurden wir in verbittertes Schweigen gehüllt. Zögerlich stellte ich mich in den Türrahmen und wollte ihm zeigen, dass er endlich verschwinden sollte.
„Gehst du jetzt bitte?“ Nickend brummte er etwas vor sich hin und trat aus dem Raum. Stumm trat ich wieder in das Zimmer und wollte die Tür schließen. Doch an der Türschwelle drehte er sich noch einmal um und hielt seine Handfläche gegen die Tür, damit ich ihn nicht ausschließen konnte.
„Alexandra?“
„Was?“
„Es tut mir leid.“ Es tut ihm leid? Wollte er mich jetzt komplett verarschen?
„Was?“
„Ich meinte das mit deiner Familie nicht so, es ist mir raus gerutscht.“
„Wenn du meinst.“
„Alex, bitte ich... es tut mir leid, wirklich. Es war unbedacht von mir.“
„Unbedacht? So was sagt man nicht aus Spaß. “
„Ich weiß, aber was soll ich tun? Ich kann mich nur entschuldigen.“
„Was erwartest du jetzt von mir? Soll ich vergessen und mir denken, dass du es doch nur gut mit mir meinst und die Sache realistisch angehst?“
„Nein, aber...“
„Gut denn das kann ich nicht. Also lass mich jetzt bitte einfach alleine. Ich will dich nicht sehen“, unterbracht ich ihn hastig und wollte die Tür endgültig schließen. Doch immer noch hielt er seine Hand dagegen und hielt mich von meinem Vorhaben ab.
„Warum müssen wir überhaupt nachts zu ihm? Schlafen Vampire nicht am Tag?“, fragte ich unsicher und brachte damit das Gespräch wieder ins Rollen.
„Theoretisch ja, aber nur weil sie von der Sonne gezwungen werden. Doch dieser Ort ist anders. Hier scheint die Sonne nur drei Tage im Monat. An den anderen Tagen ist es immer bewölkt, also können alle Vampire sich dem eigentlichen Rhythmus anpassen. Die Dunkelheit gefällt uns sowieso nicht. Außerdem besitzt er das Amulett, dass ihn zusätzlich vor der Sonne schützt.“
„Okay“, antwortete ich knapp und ließ von der Tür ab. Was zur Hölle war sein Problem? Wie er jetzt vor mir stand, konnte ich fast denken, es würde ihm leid tun. Alles würde ihm leid tun. Seine ruppige Art, die Lügen, die Geheimnisse, einfach alles. Wollte er sich etwa mit mir vertragen? So, dass es wie vor ein paar Tagen werden würde?
„Was hast du eigentlich für ein Problem mit mir?“, fragte ich sanft und hoffte er würde mich einfach in den Arm nehmen. Wie sehr ich mich nach dem Gefühl von Geborgenheit sehnte. Mich in seinen Armen sicher fühlen zu können. Obwohl ich immer noch wütend auf ihn war und die Dinge, die zwischen uns standen, nicht vergessen wollte, wollte ich mich wieder vertragen. Es war eine dunkle Zeit und bis auf ihn kannte ich niemanden und hatte niemanden, der mir beistehen würde.
Ich war alleine und nur er könnte mir jetzt diese Geborgenheit geben. Ein eigenartiges Gefühl umgab mich, dass mir sagte, dass nur noch er mir diese Art von Geborgenheit geben konnte. Dass ich mich nur noch bei ihm so wohl und sicher fühlen würde. Nur bei ihm und bei keinem anderen Jungen. Das waren keine Guten Voraussichten, wenn man bedachte, wie er mit mir umgesprungen war. Aber das konnte ich gut ignorieren und mir einreden, dass es so nicht bleiben würde.
„Mein Problem ist dass du diese Scheiße wirklich glaubst!“
„Was dachtest du denn? Ich kenne dich gerade mal ein paar Tage. Hast du wirklich geglaubt ich hätte so großes Vertrauen in dich, dass mir alles andere egal wäre?“
„Vielleicht. Zumindest dachte ich du wärst anders. Du hast mir dein wahres Ich gezeigt. Nicht deine Maske, deine Fassade mit der du dich vor allem Schlechten zu schützen versuchtest. Das Mädchen dass sich für den Menschen interessierte, für sein Inneres. Aber wahrscheinlich habe ich mich auch da getäuscht. Ich dachte du wüsstest wo sich Wahrheit und Lügen trennen, aber auch dort lag ich falsch.
Alexandra ich dachte du wärst sie, die die anders ist.“ Mit diesen gigantischen Worten ließ er die Tür ins Schloss fallen und ging. Es bereitete mir Angst, dass er mich nach so wenig Zeit, so gut kannte und ich ihn nach dieser Zeit kein Stück kannte. Ich kann ihn ja nicht ein mal so gut, dass ich wissen würde, was er als nächstes tut. Und genau das machte mir Angst. Er wusste zu viel über mich und das machte ihn gefährlich.
Weinend legte ich mich ins Bett und dachte über seine Worte nach. Ich wäre anders, als wer? Die Mädchen? All die toten Mädchen? Oh Gott seine schweren Worte hatten in mir richtige Schuldgefühle hervorgerufen, die mich fast zum Ersticken brachten. Hatte ich ihn bezüglich des Briefes wirklich zu schnell verurteilt?
Ich fühlte mich so schlecht, dass ich langsam daran glaubte, ich hätte grundlegend alles falsch gemacht. Ich glaubte daran, dass er mir die Wahrheit sagte. Langsam erkannte ich, dass meine Angst verletzt zu werden, mich daran hinderte ihm zu glauben und mich wieder auf ihn einzulassen. Konnte man mit solchen Worten überhaupt lügen? Konnte man jemanden wirklich so ansehen und küssen, ihm das Gefühl geben etwas ganz besonderes zu sein ohne etwas zu fühlen? Konnte man das wirklich?