Feiner Nieselregen legte sich auf sein und mein Gesicht nieder, der kalte Wind drang durch unsere leichte Kleidung und das leise Heulen eines Uhu´s über uns, erklang. Einen letzten Kuss erhaschte ich mir, ehe ich mich aus seiner Umarmung zwängte und ihn an der Hand näher zum Steg führte.
„Wo willst du hin?“
„Ich weiß dass wir etwas anderes vor uns haben, aber dieser Hunger lässt mich nicht klar denken.“
„Hm, ich verstehe. Ist es der Hunger auf Blut oder...“ Ein leichtes Grinsen legte sich auf meine Lippen. Nein, das war definitiv das Verlangen nach einem einfachen Brötchen. Irgendetwas bissfestes mit Geschmack.
„Nein keine Sorge, ich hoffe ich kann das noch eine Weile aufschieben, aber jetzt würde ich mich einfach über ein Brötchen freuen.“ Erleichtert schmunzelte er mir entgegen und trat näher an das Wasser heran. Noch bevor er einen Ruf nach diesen Mädchen ausstoßen oder erneut Zeichen in der Luft schweben lassen konnte, stand plötzlich Melonie unerwartet hinter ihm und legte ihre schmalen Finger auf seinen Rücken.
„Hast du mich gesucht?“ Nickend schloss er sie für einen Moment in die Arme, ehe er sie wieder losließ und mich zu sich winkte.
„Ja, führst du uns über die Brücke?“
„Habt ihr denn schon alles erledigt?“, fragte sie verwundert und zog aus ihrem langen Ärmel zwei dunkle Augenbinden hervor.
„Könnte man so sagen“, murmelte er vor sich hin, sodass wir beide Schwierigkeiten bekamen, ihm folgen zu können. Nickend hielt sie uns die schwarzen Masken hin und begann kontrollierend um mich herum zu laufen.
„Melonie, muss das wirklich sein? Jetzt wo der Graf tot ist? Wo es keine Bedrohung mehr da Draußen gibt?“
„Keine Ahnung, ich will das nicht alleine entscheiden, außerdem weißt du nicht was nach ihm kommen wird.“
„Du weist dass ich das sein werde.“ Was meinte er damit? Wollte er etwa andeuten, dass er an die Macht kommen würde? Gerade er? Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf, niemals könnte ich mir ihn als irgend so einen Politiker vorstellen. Wollte er sich das wirklich zumuten? Fast lächelnd stand er vor Melonie und musterte sie unauffällig.
„Bis dahin ist es noch ein Jahr.“
„Melonie bitte, wir werden uns den Weg sowieso nicht merken können, geschweige denn jemand anderen Einlass verschaffen.“
„Hm das stimmt wohl...“ Mitten im Überlegen wurde sie von Leandro unterbrochen, der erneut versuchte sie überzeugen zu können:
„Außerdem würde es uns Nicht´s nützen auch nur ein Sterbenswörtchen davon preiszugeben.“
„Na gut, du lässt ja eh nicht locker, aber ihr müsst schwören, dass es niemand erfahren wird. Weder von euren, noch von meinen Leuten.“ Grinsend schlug Leandro bei ihr ein und folgte schließlich ihren schnellen Schritten. In letzter Sekunde zog er mich mit sich, sodass mir keine andere Wahl blieb, als den beiden hinter herzutrotten.
Sie war die Erste gewesen die von uns sprach, nicht von ihm oder mir und meiner Familie. War sie die Erste die anerkannte, dass ich ebenfalls ein Vampir war? Auch wenn das immer noch völlig unerklärlich und untypisch war... selbst für diese äußerst eigenartige Welt. So richtig konnte ich es immer noch nicht glauben. Bis auf das etwas schnellere Rennen konnte ich nichts spüren, was sich verändert hatte. Sogar meinen Herzschlag hatte ich noch und so wie ich es mitbekommen hatte, gab es den bei Vampiren nicht.
Das gläserne Labyrinth begann und wir liefen Schlangenlinien über das reine Wasser. Links, rechts, im Kreis und wieder zurück. Nach einer kleinen Ewigkeit hatte ich längst vergessen, wie wir einmal gestartet waren. Dachte sie wirklich wir könnten uns das auf die Schnelle merken? Ich hatte mehr damit zu tun einen Fuß vor den Anderen zu setzten. Ohne Maske war es noch viel beängstigender diesen Weg hinter sich zu bringen. Unter uns schien das klare, giftige Wasser zu warten. Eine hauchdünne Scheibe trennte mich von ihm und verhinderte meinen Tod.
Ein unkontrollierter, falscher Schritt reichte und ich würde den Rest meiner Existenz im Licht verbringen... nun gut, wenn es so etwas überhaupt gab. Ich könnte genauso gut auch in diesem endlosen, einsamen und weißen Raum enden.
Mittlerweile gab ich mir keine Mühe mehr die Füße zu heben, stattdessen schleifte ich sie hinter mir her, um dem rutschigen Boden gar nicht erst die Gelegenheit zu geben, mein Gesicht aus näherer Betrachtung sehen zu dürfen.
Meine Hand klammerte sich fest an seine. Gezwungen versuchte ich in den Himmel zu starren, um das unter mir besten Falls ignorieren zu können.
„Alex, konzentriere dich“, fuhr er mich unfreundlich an und stupste seinen Ellenbogen leicht in meine Seite. Unzufrieden brummte ich kurz auf, während ich meine Augen wieder auf meine Füße richtete und hinter ihm her stolperte. Wie schaffte er es nur so ruhig zu sein? Er wusste worauf er sich einließ und jetzt sah er es zum ersten Mal selbst, doch nicht eine nervöse Bewegung ließ er zu. Warum konnte ich das nicht? Lag es daran, dass er älter sein musste? Lag es wirklich an der Lebenserfahrung oder konnte er sein Gesicht generell einfach besser versteinern als ich?
Meine Schritte wurden größer, als ich endlich ein Fetzen Wiese vor uns erkennen konnte. Auch wenn wir es noch nicht erreicht hatten, begann ich ruhiger zu werden. Schweigend verließen wir die Glasbrücke und standen schließlich vor einer der kleinen Hütten. Melonie öffnete die Tür und ließ uns als Erstes eintreten. Sie zögerte nicht lange, kniete sich auf den Boden und schob den Tisch zur Seite. Kaum auffällig entdeckte ich darunter eine kleine Holztür, die mich neugierig auf das dahinter werden ließ. War es die Gleiche durch die mich Laureen geführt hatte? Leandro eilte zu ihr und half die doch unerwartete, schwere Tür zu öffnen. Ich schluckte als mir schneeweiße Treppenstufen entgegen blitzten, die weit in die Tiefe führten. Sie wollte doch wohl nicht, dass wir dort runter gehen oder?
„Leandro gehst du vor? Ich muss die Tür wieder schließen und alles unauffällig hinterlassen.“
„Wie bitte? Du willst doch wohl nicht dass wir dort runter gehen? Wer weiß wer oder was in diesen Tiefen auf uns wartet“, antwortete ich an seiner Stelle und wagte mich noch einen Schritt näher an den Abgrund heran.
„Eigentlich wissen wir Beide was und wer sich dort unten befindet. Nichts Geringeres als meine Verwandten und Freunde.“
„Und warum können wir nicht den kleinen Weg nehmen? Den gleichen, den ich mit Laureen genommen habe?“
„Weil das der erste Stock war, ihr müsst in den letzten, der Rest ist momentan überwiegend von den Hexen besetzt. Außerdem ist es dort am Schönsten.“ Die Hexen wurden mir immer sympathischer...
Steile Treppen verliefen so weit in die Dunkelheit, dass man nicht einmal ihr Ende erkennen konnte. Wie eine Wendeltreppe waren sie rund und nach links immer kleiner werdend angeordnet.
„Komm schon Alex, du hast bereits weitaus schlimmere Dinge mitgemacht, als diese kleinen Stufen“, lachte Leandro und begann sich durch die kleine Tür auf die erste Stufe zu quetschen.
„Das ist völlig wahnsinnig und das weißt du!“ Zögernd nahm ich seine Hand an und ließ mich auf die Dunkelheit ein. Da der Gang viel zu schmal war, um sich an den Händen fassen zu können, versuchte ich vergebens ein Geländer finden zu können. Ein paar alte, rostige Rohre führten an der Wand entlang, die mir für ein paar Meter Sicherheit baten. Doch schon nach ein paar Treppenstufen verschwanden sie wieder und mir blieb nur noch die alte, abbröckelnde, gelbe Wand zum Schutz.
Ich schreckte zusammen, als die Tür über uns mit einem lauten Rums zu fiel und das letzte bisschen Licht nahm.
„Melonie?“, flüsterte ich schnell atmend und drehte mich nach oben um. Ich stieß einen leisen Schrei aus, als mir Nichts außer schwarzer Dunkelheit entgegenblickte.
„Komm Alex, es ist gar nicht so dunkel, irgendwann gewöhnen sich deine Augen schon dran.“ Irgendwann? Das war ja nicht besonders beruhigend. Ich atmete einmal schwer aus, wendete mich wieder den steilen Treppen zu und setzte unsicher einen Fuß vor den Anderen. Leandro scherte sich nicht lange um die Finsternis und lief die Treppen so schnell runter, dass ich ihn schon bald nicht mehr sehen und hören konnte.
„Leandro warte doch mal“, rief ich verärgert und bemühte mich meine Schritte zu beschleunigen. Meine Bewegungen wurden schneller und damit unvorsichtiger. Immer wieder trat ich fast auf das Ende der Stufen und konnte dann von Glück reden, dass ich mein Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Doch als ich mich gerade sicher zu fühlen begann, trat ich an die Kante einer Stufe und fiel mit dem bröckelnden Gestein in die Tiefe. Meine schwitzenden Hände versuchten etwas zu fassen zu bekommen, doch immer wieder rutschen sie von der Wand und dem Stein ab. Ich merkte wie ich unweigerlich schneller wurde und dem Ende der Dunkelheit entgegen raste. Gerade als ich aufgeben wollte und meine Augen schloss, fand meine Hand halt und jemand zog mich zu sich nach oben.
„Na na na langsam. Keiner hetzt uns“, entgegnete er grinsend und ließ meine Hand wieder behutsam los.
„Sehr witzig“, maulte ich und lief voran, damit er nicht wieder auf die glorreiche Idee kommen konnte, alles zu geben um mich abzuhängen.
Vorsichtig liefen wir weiter, wobei ich jede meiner Bewegungen zwei Mal kontrollierte. Ob diese Treppen überhaupt ein Ende hatten? Oder begaben wir uns gerade in die Unendlichkeit? Noch bevor ich die richtigen Worte für meine Vermutungen finden konnte, drang uns grelles Licht entgegen, das uns blendete und es nun noch schwerer machte, die Treppenstufen genauer inspizieren zu können. Ein hell erleuchteter Gang lag vor uns. Erleichtert verließen wir die Stufen und gingen auf den Gang zu. Die Decke reichte bis weit in die Höhe, dafür waren auch diese Wände so schmal aneinander, dass es unmöglich wäre nebeneinander laufen zu können.
„Weißt du eigentlich wo wir hier lang gehen?“
„Natürlich, ich bin hier als Kind fast jeden Tag gewesen. Mein Vater hatte viele Freundschaften hier und um diese pflegen zu können, schleppte er mich meistens mit.“
„Gibt es keinen anderen Weg als diesen? Einer der nicht von Hexen belegt ist? Der ist nämlich ziemlich mühsam.“
„Doch den gibt es.“
„Und warum quälen wir uns dann schon wieder durch das Unmögliche? Brauchst du irgendwie jeden Tag Nervenkitzel?“, lachte ich, während meine Finger die kalte Wand entlang schliffen. Mein Lachen verschwand als ich mir meinen Vater in Erinnerung rief. War es nicht völlig sinnlos was ich hier tat? Dieser Aufwand, alles nur für ein bisschen Essen? Dafür warf ich also so viel Zeit weg, Zeit die kostbar sein könnte.
„Oh wenn du diese Art bevorzugst können wir das nächste Mal auch gerne den Weg über´s Wasser nehmen. Vorausgesetzt du kannst fünfzehn Minuten lang die Luft anhalten.“
„Oh ja natürlich. Hätte ich gewusst welchen Weg wir hinter uns legen müssten, nur um etwas Brot zu bekommen, wäre ich eben ohne Essen zum Hotel zurück gegangen.“
„Warum das?“
„Warum? Weil das hier uns kostbare Zeit nimmt. Zeit die mein Vater vielleicht gar nicht mehr hat.“ Urplötzlich verschwand auch sein Lachen und seine gefühllose Miene kam zum Vorschein.
„Die Zeit ist nicht wichtig.“
„Was?“
„Alex ich...also dein Vater, er...“
„Was ist mit ihm?“ Schweigend wich er meinen Blicken aus. Was war mit meinem Vater? War das der Grund für die Schwere in seiner Stimme? War es mein Vater gewesen über den er hatte nicht reden können?
„Leandro rück- raus mit der Sprache!“
„Nicht hier, nicht jetzt?“ Die Augen zu Boden gerichtet, lief er an mir vorbei und stürmte den Weg entlang.
„Was heißt nicht hier? Wo denn dann?“
„Leandro?“
„Antworte mir!“, stieß ich empört hervor und zog ihn an der Schulter zu mir.
„Du nervst.“
„Wie bitte? Hör auf so zu tun als wäre ich deine kleine Schwester, die dir mit ihren Fragen auf die Nerven geht.“
„Du bist schlimmer als meine Schwester es je gewesen ist, du bist ne echte Nervensäge.“
„Sag mal geht’s dir noch gut? Was weißt du über meinen Vater, dass dich aufzufressen
droht?“, fragte ich nun vorsichtig. Warum erzählte er es nicht einfach. Früher oder später müsste er es tun, also was spielte der Ort und Zeitraum für eine Rolle? Ich erinnerte mich daran, wie ich ihm gebeichtet hatte, dass sein Vater tot im Wald lag. Welche Schwierigkeiten ich damit gehabt hatte, überhaupt irgendwelche Worte über die Lippen zu bringen.
Ging es ihm genauso? Auch wenn er mich liebevoll behandelte, hatte ich das Gefühl, dass er nicht gerade der gefühlsvollste und offenste Vampir in diesem Universum war.
„Alex bitte lass uns weiter gehen, ich will nicht hier darüber reden.“
„Warum?“
„Du bist so eine Nervensäge!“
„Und du verdammt stur, sag es mir doch einfach.“
„Das kann man nicht einfach mal so nebenbei erzählen, lass uns einen ruhigen Ort suchen.“
„Nein was ändert der Ort schon an der Tatsache?“ Meine Worte interessierten ihn nicht besonders. Stattdessen erkannte er wohl, dass ich nicht nachgeben würde, riss sich von mir los und preschte auf den Ausgang des ewigen Tunnels zu.
Am liebsten wäre ich schon aus Prinzip stehen geblieben und umgekehrt, aber was hätte ich davon? Eine unsichtbare Brücke, die mich zwangsläufig ins Verderben stürzten würde. Also überlegte ich nicht lange und schloss mich seinem Rennen an. An einer Holztür angekommen stoppten wir und traten in ein bescheidenes Badezimmer. Die Einrichtung erinnerte an die des Hotels, was mich umso mehr verwunderte.
Bisher kannte ich nur wenige Räume dieses Komplexes, trotzdem wirkten sie alle sauber, ordentlich und vor Allem renoviert. Ich bekam nicht lange Zeit mir das Bad einprägen zu können, denn nach dem die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war, stürmte er weiter. Als nächstes kamen wir auf die grünen Flure, die in mir eigenartige Erinnerungen wachriefen. Erinnerungen die im Gegensatz zu dem hier, äußerst unwichtig erschienen. Wir liefen an einer Unzahl von Panuletas vorbei, die uns alle ermutigende Worte zuriefen. Auf Grund unseres Tempos und meinen ganz eigenen, beunruhigenden Gedanken verstand ich nur Wortfetzen. Es klang, als versuchten sie uns für den Tod des Grafen´s zu beglückwünschen. Diese Wünsche gingen jedoch getrost an mir vorbei. In mein Hirn passte für heute Nichts anderes als mein Vater hinein. Ich zerbrach mir den Kopf darüber was Leandro gesehen hatte. Was er gesehen hatte und was an mir vorbei gegangen war. Keine Sekunde hatte ich ihn aus den Augen gelassen, also welche versteckte Nachricht war bei mir auf Unaufmerksamkeit gestoßen? Es brachte alles nichts, ich wusste die Antworten auf meine Fragen nicht und ich könnte sie nur von ihm bekommen.
Unaufgeklärt rannte ich hinter ihm her. Doch irgendwann kam mir ein Teil dieses ewig, langen Flures bekannt vor. Ich erinnerte mich an die Tür, die mich in den Wald geführt hatte, an das Zimmer, in dem ich meine Tasche gefunden hatte und schließlich standen wir direkt vor dem Zimmer in dem ich aufgewacht war. Hatte sie nicht gesagt wir müssten in einen anderen Stock?Unvorsichtig drückte er die Klinke runter, öffnete die Tür und trat mit einem Mal in das bereits besetzte Zimmer ein. Zwei Mädchen die nur in Unterwäsche gekleidet vor uns standen, machten große Augen als sie sahen, wer unangekündigt in ihre Privatsphäre eingedrungen war.
Als hätten wir sie bei wer weiß was gestört, sprangen sie erschrocken zur Seite und begannen hysterisch zu schreien. Verdutzt gingen wir wenige Schritte rückwärts, bis wir die Türschwelle überschritten.
„Was fällt euch ein!“, beklagte sich die Größere von beiden, streckte ihre Hand in unsere Richtung und begann mit ihren Fingern Funken auf uns zu zu werfen, die sich schließlich an die Tür hafteten und sie direkt vor unseren Nasen zufallen ließ. Nach dem der Knall verflogen war, hörte man nur noch leises Gekicher hinter der Tür. Der kurze Blick in das Zimmer hatte mich verwirrt. Auch wenn der Flur dem Anderen sehr ähnelte, war das nicht mein Zimmer gewesen. Es war noch viel kleiner und die Wandfarbe ähnelte in keinster Weise meiner.
Vielleicht aber war es auch gar nicht so verwirrend, immerhin hatte Melonie von verschiedenen Stockwerken gefaselt.
„Idiotische Hexen“, murmelte er und lief nach rechts.
„Weißt du überhaupt welche Zimmer von denen frei sind?“
„Nein“, gab er genervt zu und beschleunigte seine eh schon schnellen Schritte.
„Dann sprich doch endlich. Hier und jetzt!“
„Na gut Alex, wenn du unbedingt willst. Wenn du willst dass ich durch die Flure schreie und jeder hier weiß, dass dein Vater..“ Seine Hände verkrampften sich und er verstummte als Melonie´s Hände, sich beruhigend auf seine linke Schulter niederließen.
„Ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Das dreizehnte Zimmer ist noch frei“, entgegnete sie leise und ließ ihren Schlüssel, mit einem rosarotem Anhänger, vor seiner Nase baumeln.
„Danke“, schnaufte er wütend, griff nach dem Schlüssel und preschte in die andere Richtung. Ich warf Melonie einen dankenden Blick zu, ehe auch ich mich wieder in ein schnelles Tempo fallen ließ und hinter ihm her raste.
An der zwölften Zimmernummer verlangsamte ich meine Schritte, sodass ich ohne große Anstrengungen direkt vor dem dreizehnten Zimmer stehen blieb. Die Zahl machte mich stutzig, doch dann beschäftigte ich mich wieder mit den wichtigen Dingen, immerhin war es nur ein Aberglaube, wie Flaschengeister und Feen.
Bevor er uns wieder blamieren konnte, drängte ich mich vor ihn und klopfte höflicher Weise an die Tür. Als sich nach wenigen Augenblicken immer noch niemand meldete, drückte ich die Klinke runter. Doch ich stieß auf Widerstand und konnte die Tür nicht öffnen. Leandro zückte den Schlüssel und schloss sie auf. Zielstrebig traten wir ein und setzten uns auf eine braune Couch, die in der linken Ecke des Zimmers stand. Seine Lässigkeit war verschwunden und nun sah man ihm seine Unsicherheit und Besorgnis förmlich an. Nervös klopften seine Finger auf die eigenen Beine und sein rechter Fuß begann sich schnell auf und ab zu bewegen. Ich wusste nicht wie ich das Gespräch anfangen sollte, daher suchte ich nach Blickkontakt der mir helfen würde. Doch statt mich auch nur eines Blickes zu würdigen, starrte er weiterhin gebannt zu Boden und hoffte wohl möglich, dass ich seine Worte vergessen hatte.
„Es tut mir Leid, ich hätte nicht so wütend werden dürfen“, entschuldigte er sich und legte seine kalte Hand auf meinen rechten Oberschenkel.
„Ist schon okay.“
„Eigentlich bin ich nicht wütend auf dich, sondern auf den Grafen. Jetzt hat er uns beiden das gleiche Schicksal gegeben.“ Er verstummte und griff nach meiner Hand. Die Laute hatten gerade seinen Mund verlassen, da schossen mir schon die ersten Tränen in die Augen. Ich versuchte etwas an seiner Aussage zu finden, das meine schlimmsten Befürchtungen widersprechen würde. Doch da gab es nichts, egal wie krampfhaft ich versuchte mir etwas anderes einzureden, es war klar was mit ihm passiert war.
„Muss ich weiter reden?“, brachte er vorsichtig über die Lippen und blickte mir nun in die Augen. Seine Augen waren voller Mitgefühl. Traurig schaute er mir entgegen und wusste nicht so recht was er sagen sollte. Die Tränen in meinen Augen wurden immer mehr und langsam rannen sie über meine Wangen. Es war mir bei ihm nicht mehr unangenehm zu weinen. Klar, es war irgendwie ein Zeichen von Schwäche, aber bei dieser Nachricht hätte wohl jeder geweint. Obwohl die Tränen flossen, war ich mir sicher, dass ich es eigentlich noch gar nicht so richtig verstanden hatte. Unsicher nickte ich und legte meinen schweren Kopf auf seiner Schulter ab.
„Der Graf war ein Schattenwandler. Das bedeutet er kann die Gestalt eines jeden Unterwürfigen annehmen. Der Haken dabei ist nur, dass er seine komplette Energie und... einfach seinen Körper braucht. Er kann nur in seinen Körper schlüpfen, wenn sein Wirt schwach ist und wenn er seinen Körper wieder verlässt und seine Seele freigibt, stirbt er.“ Er verstummte und alles was nun noch zu hören war, waren die kindlichen Schreie auf den Fluren und mein Geschluchze. Die Augen starr zu Boden gerichtet, legte ich mich in seine Arme und schwieg für einen Moment.
„War es schmerzhaft?“, hauchte ich schließlich und ließ den Tränen freien Lauf.
„Ich will dich nicht mehr anlügen.“
„Dann war es das.“
„Ja, leider. Hör zu, wenn du deine Ruhe willst kann ich auch gehen.“
„Nein was soll ich damit? In Selbstmitleid versinken?“, zischte ich und bereute meine ruppige Art in der selben Sekunde. Er gab sich Mühe und an seinen Worten konnte ich erkennen, dass er sich nicht sicher war, wie er mir helfen konnte.
„Willst du über ihn reden? Ich kenne,... also ich kannte ihn nicht.“ Stumm schüttelte ich den Kopf. Vielleicht irgendwann, aber nicht jetzt. Ich versuchte ihn dafür zu hassen, dass er sich neu verliebt hatte, dass er meine Mutter betrogen hatte. Aber dann traten seine verletzlichen und liebevollen Augen vor mir auf und ich begann mich dafür zu hassen, dass ich ihn verachten wollte.
„Glaubst du an Schicksal?“, fragte ich stattdessen und seufzte.
„Wie kommst du darauf?“
„Nur weil du meintest, dass der Graf uns beiden das selbe Schicksal gegeben hat.“
„Ach so, nein ich glaube nicht an Schicksal. Ich glaube an Karma. Der Graf hat so vielen Leuten grausames angetan. Und jetzt? Jetzt ist er selbst auf eine so widerliche Art und Weise gestorben.“
„Karma also. Klingt vielleicht plausibler als Schicksal.“
„Ich will daran glauben, aber ob es wirklich stimmt kann ich nicht sagen. Versuchen wir nicht alle den Sinn zu finden?“
„Karma würde zumindest so einiges erklären und auch warum ausgerechnet er stirbt... also ist.“
„Ja?“, fragte er vorsichtig und biss sich noch im selben Moment auf die Lippe. Ich war mir selbst nicht einmal sicher, ob ich schon jetzt über ihn reden wollte. War es nicht zu früh? Leandro hatte kein Sterbenswörtchen über den Tod seines Vater´s verloren.
Er hatte nicht einmal nachgefragt wie ich ihn genau gefunden hatte oder wie er ausgesehen hatte. Vielleicht war ich sogar daran Schuld. Hätte ich ihn nicht nach seinem Vater fragen müssen? Natürlich hätte ich das, bei wem konnte er sich schon ausheulen? Seine Mutter war längst tot.
„Wenn ich daran denke wie er meine Mutter belogen hat. Geschieht es ihm wohl recht.“ Am liebsten hätte ich mich übergeben als ich realisierte, welche Worte gerade meinen Mund verlassen hatten. Viel hatte ich ihm gewünscht, doch bei Weitem nicht den Tod.
„Sag so etwas nicht. Egal was er getan hat, den Tod verdienen nur die Wenigsten.“
„Er hat meine Mutter betrogen, er hat fast ein Doppelleben geführt und er hat mich darum gebeten für ihn zu schweigen. Im Nachhinein bereue ich es. Natürlich hätte ich es ihr sagen müssen. “
„Warum denkst du überhaupt darüber nach? Hat sie nicht ein Recht darauf es zu erfahren?“
„Das hat sie wohl. Aber dann müsste ich jetzt nicht darüber nachdenken, ob ich überhaupt von seinem Tod erzählen sollte. Sie würde um ihn trauern, mit dem Glauben er wäre von Grund auf gut gewesen.“
„Ich weiß was du meist.“
„Und ich will nicht, dass sie leidet und das würde sie. Sie liebt ihn so sehr, auch wenn sie sich oft über ihn aufgeregt hat.“
„Ich könnte sie hypnotisieren, nur wenn du willst natürlich“, sagte er ruhig und machte mich aufmerksam. Nachdenklich richtete ich mich ein wenig auf und schaute ihm in die Augen.
„Danke, aber darüber denke ich lieber noch eine Weile nach. Ich will auf jeden Fall nicht, dass sie seine guten Seiten vergisst, denn das würde sie tun, wenn ich ihr die ganze Wahrheit erzählen würde.“
„Jeder hat das Recht die Wahrheit zu erfahren, andererseits ist jetzt vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“ Schweigend lehnte ich mich wieder an ihn und starrte vor mich hin. Ich würde ihn nie wieder sehen, würde er jemals eine Beerdigung haben? Nein, wie denn auch, wenn meine Mutter die Wahrheit nie erfahren würde? Wie, wenn niemand weiß wo seine Leiche ist? Oh Gott bei diesem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken runter.
Wie abwertend und abweisend ich nur von meinem eigenen Vater gedacht hatte. Ihn nur als irgendeine Leiche bezeichnete. Er war mein Vater gewesen! In mir zersprang immer mehr, wenn ich über ihn und meine ignoranten Blicke nachdachte. Warum hatte ich ihm nicht einmal sagen können, dass ich ihn liebte? Das ich froh war so einen Vater zu haben? Mit der Zeit wurde mir immer bewusster, dass ich ihn verloren hatte. Ohne eine letzte Umarmung, ohne seine Stimme mit netten Worten, ein letztes Mal gehört zu haben.
Meine Blicke fielen in Leandro´s versteinertes Gesicht, das jegliche Gefühle und Gedanken verbarg, aber ich war mir fast sicher, dass er selbst auch an seinen Vater dachte. War das nicht naheliegend? Machte er sich vielleicht auch Vorwürfe ihn falsch behandelt zu haben?
„Was war eigentlich zwischen dir und deinem Vater? Warum habt ihr euch gestritten?“, fragte ich plötzlich unsicher und richtete mich auf.
Vielleicht war genau jetzt der richtige Zeitpunkt, um ihn reden zu lassen. Über das was ihn beschäftigte und bedrückte.
„Ich will nicht darüber reden.“
„Was?“ Verdutzt rutschte ich weg von ihm und blickte vorwurfsvoll ins seine Augen.
„Alex, versteh das nicht falsch.“
„Wie soll ich es dann verstehen?“
„Es ist nicht, dass ich es dir nicht erzählen möchte. Ich will nur generell nicht drüber nachdenken und reden. Denn wenn ich das tue, dann erinnere ich mich an den ganzen Scheiß den er veranstaltet hat und hasse ihn dafür.“
„Hast du überhaupt schon mit jemanden darüber geredet?“
„Nein.“
„Es ist nicht gut Dinge in sich reinzufressen.“
„Das ist mir egal. Nur wenn ich über ihn und seine Taten nachdenke, dann wird der Hass in mir immer größer. Erst nach der Beerdigung kann ich darüber nachdenken. Ich will ihm dort ein letztes Mal mit Respekt begegnen und das kann ich sonst nicht.“ Schwer atmend erhob er sich von der Couch und lief auf die Tür zu.
„Soll ich dir etwas zu essen holen?“
„Nein, ich will einfach nur noch schlafen“, murmelte ich gähnend und legte mich in das Doppelbett. Schlaf würde mir echt gut tun. Für eine kurze Zeit könnte ich die Sorgen vergessen und mich endlich ausruhen. Nickend schaltete er das Licht aus, kam zu mir und legte sich neben mich ins Bett. Erschöpft schloss ich die Augen und kuschelte mich in seine warmen Arme. Ich legte meinen Kopf auf seinen Brustkorb und genoss seine Nähe. Doch egal wie nah wir uns waren, ich fühlte mich trotzdem einsam.
„Schläfst du schon?“, flüsterte ich leise, nachdem ich Ewigkeiten nicht hatte einschlafen können. Mit einem Mal schlug er die Augen auf und schaute mir erschrocken entgegen. Ja er hatte definitiv geschlafen.
„Bis eben schon.“
„Entschuldige.“
„Schon gut“, brummte er halb verschlafen.
„Ich habe mich nur gerade gefragt, also... denkst du es wäre wirklich nötig die Erinnerungen meiner Mum zu löschen?“ Noch etwas benommen richtete er sich auf und versuchte meine Frage zu verstehen.
„Ich schätze wir haben keine große Auswahl. Melonie und Laureen werden darauf bestehen, immerhin kennen sie dich und deine Familie nicht.“
„Hm, du aber?“ Einen Moment lang hatte ich überlegt, ob ich ihn das wirklich fragen konnte, aber ich hatte ja Recht. Was wusste er wirklich über mich?
„So wirklich kennen tue ich dich nicht, aber ich vertraue dir und wenn du es für das Beste hältst ihnen davon zu erzählen, dann würde ich dir zustimmen.“
„Meine Geschwister müssten auch vergessen oder?“ Nickend warf er sich wieder in die Kissen und begann gebannt gegen die Decke zu starren.
„Also wenn ich ihre Erinnerungen lösche, soll ich dann die an deinen...Vater auch löschen?“ Tja wenn ich das nur wüsste. Warum musste ausgerechnet ich schon wieder so eine Entscheidung treffen? Konnten sie das nicht einfach selbst entscheiden, nun gut dafür müsste man voraussetzen, dass sie überhaupt eine Ahnung von seinem Tod hatten.
„Darf ich das überhaupt entscheiden? Sollten sie nicht selbst darüber entscheiden können?“
„Vielleicht, aber du weißt dass sie das nicht können.“
„Was würdest du denn tun?“
„Ich? Keine Ahnung ich kenne sie nicht. Vermutlich würde ich mich für das Einfachere entscheiden und wenn ich irgendwann so weit wäre, würde ich eventuell in Erwägung ziehen sie aufzuklären.“
„Dann tu es, aber mach mich nicht dafür verantwortlich, wenn das nach Hinten los geht.“ Für einen Moment blitzten seine Zähne in der Dunkelheit auf. Bis er sie wieder versteckte und sich mühsam aus dem Bett quälte.
„Werde ich nicht“, murmelte er am Türrahmen und verschwand schließlich ohne weitere Worte aus dem Zimmer. Nun war ich wieder alleine und die Tränen begannen meine Wangen hinunter zu rinnen. Jetzt spürte ich diese Einsamkeit noch viel stärker. Ich fühlte mich sogar alleine gelassen, obwohl er gerade mal vor ein paar Minuten gegangen war. Wie sollte ich nur ohne ihn klarkommen? Wenn ich in Berlin wäre und er hier in England?
Keine Ahnung wie lange ich Zeit damit verbrachte die Decke anzustarren und mich nach dem Warum zu fragte. Doch irgendwann wurde ich ruhiger, bis ich mich schließlich in den Schlaf geweint hatte.