Es war ein stürmischer und verregneter Vormittag, der viel Unheil mit sich brachte. Wir waren zu spät dran und rasten nur atemlos durch den Wald, auf die Trauergemeinschaft zu. Mitten im Wald erstreckte sich plötzlich ein Friedhof, mit unzähligen, trauernden Menschen. Es hatten sich schon längst alle Besucher um den schwarzen Sarg versammelt, als wir an ihnen vorbeiliefen und ihre strafenden Blicke ertragen mussten. Die Stimmung war angespannt und der sonst so beruhigende Klang des Regens, fühlte sich plötzlich drängend und strafend an. Und als würde das nicht schon reichen, hatten wir den ganzen Weg über diskutiert. Ich hatte es einfach nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können, ihm die Wahrheit zu verschweigen, doch natürlich wollte er davon nichts hören.
Umso energischer ich versuchte über dieses Missverständnis zu sprechen, desto unfreundlicher und schweigsamer wurde er. Wahrscheinlich war das keiner meiner besten Schachzüge, aber ich musste doch irgendwie versuchen ihn zu erklären, dass sein Vater einen Grund gehabt hatte. Wenigstens so viel müsste er wissen, doch natürlich wollte er mir gar nicht erst zuhören.
Die Blicke zu Boden gerichtet, liefen wir an den murmelnden Leuten vorbei und versuchten ihre bösartigen Wortfetzen zu ignorieren. Seine Blicke, die immer noch voller Hass waren und die keinen Platz für Vergebung boten, machten meine Schuldgefühle nur noch größer. Sowohl ihm gegenüber, als auch dem Mädchen. Meine Schritte wurden langsamer und meine Füße schwerer. Immer näher kamen wir dem Sarg. Am liebsten wäre ich umgedreht und davon gelaufen. Doch natürlich durfte ich das nicht. Es wurde anderes von mir erwartet.
„Aber es könnte doch sein“, fing ich wieder an und versuchte damit meine Angst vor dieser Zeremonie zu verdrängen.
„Alex lass es jetzt sein. Ich will nicht darüber reden. Wie oft denn noch?“
„Aber...“
„Nichts da!“, unterbrach er mich, griff nach meiner Hand und zog mich an einen freien Platz in der Nähe des Sarges. Ich ließ die Diskutiererei vorerst sein und verstummte. Alle Augen waren auf uns gerichtet, sodass ich mich nicht mehr zu bewegen wagte. Ich ließ meine Blicke über die Menge schweifen und erkannte schließlich vertraute Gesichter. Meine Familie stand etwas abseits von uns und starrte gebannt zu Boden. Meine Blicke und die meiner Mutter trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie wieder stur zu Boden starrte. Dieser Moment hatte gereicht, um zu verstehen was in ihrem Kopf vor sich ging. Sie konnte nicht nachvollziehen warum sie hier überhaupt stehen musste, immerhin hatte sie kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Das hatte ich auch nicht, aber ich tat es für Leandro und meinen Vater. Noch bevor der Pfarrer überhaupt mit der Rede anfangen konnte, wäre ich am liebsten in Tränen ausgebrochen, doch hier hatte ich kein Recht dazu.
Es war weder die Beerdigung meines Vaters, noch hatte ich Antonius gut genug gekannt. Wieder blieben meine Blicke an meiner Mutter und ihrem schwarzen Gewand kleben. Ich stellte mir vor wie wir irgendwann alle wieder hier stehen würden und meinen Vater unter die Erde bringen würden. In mir gefror alles bei diesem grausamen Gedanken.
„Nun sind alle da?“, fragte der Pfarrer vorsichtig und trat etwas näher an den Sarg heran. Ein unruhiges Tuscheln begann sich auszubreiten und hörte erst wieder auf, als eine dunkle Gestalt in den Kreis trat. Die Kapuze so weit ins Gesicht gezogen, dass man nichts außer seine strahlenden, blauen Augen erkennen konnte. Wüsste ich nicht ganz genau, dass Leandro gerade neben mir stand, wäre ich der Überzeugung gewesen, es müssten seine sein. Unbeteiligt stellte sich der Unbekannte neben Melonie und Laureen und nickte dem Pfarrer sachte zu. Ich löste meine Blicke von dem Mann und schenkte Laureen kurze Zeit Aufmerksamkeit. Als hätte sie einen Plan, grinste sie mir ganz eigenartig entgegen und schlüpfte dann unter den Regenschirm von Melonie. Erst jetzt bemerkte ich den kühlen Regen und drängte mich etwas enger an Leandro ran, damit auch ich den Schutz seines Regenschirmes bekommen könnte. Unaufmerksam griff ich nach seiner Hand und drückte diese so fest, dass er mir schließlich leicht in die Rippen stieß und mir verwirrt in die Augen schaute. Erschrocken löste ich meine Hand und biss mir auf die Lippe, um mir eine Entschuldigung verkneifen zu können.
Gedankenversunken starrte ich an den Leuten vorbei. Wir hatten Mitte Herbst und die meisten Blätter hatten sich bereits bunt gefärbt. Doch der triste Regen und die grauen Wolken ließen den Farben keine Gelegenheit Strahlen zu können. Die Spitzen der Baumkronen wogen sich schwer im stürmenden Wind und ab und zu fiel ein Blatt zu Boden und legte sich leicht auf das nasse Moos.
Die meisten Gräber standen ganz ordnungsgemäß gerade und hielten sich an die vorgegebene Linie. Fein säuberlich sortiert war jegliches Unkraut entfernt worden und einzig strahlende Blumen ragten empor. Doch nach genauerer Betrachtung stachen vereinzelt verwilderte Gräber ins Auge, deren Steine völlig schief lagen und die Blumen darunter schon längst vertrocknet waren.
Ein Grab zog dabei ganz besonders meine Aufmerksamkeit auf sich. Der Grabstein lag fast quer auf den Boden und die Ecken waren ganz eigenartig angeschlagen, als hätte ihn jemand zu zerstören versucht. Die Gravur war zerkratzt worden und die Blumen und Sträucher rund um, mussten herausgerissen worden sein. Unachtsam hatte sie jemand zu Boden fallen lassen und musste mit seinen riesigen Füßen großzügig drauf rumgetrampelt sein. Plötzlich ging mir ein Licht auf. Ich schätzte den Abstand zwischen diesem Grab und dem Schloss nebenan ein. Dann erkannte ich das Fenster meines Zimmers. Es war das Grab, auf das vor einer guten Woche Licht geschienen hatte. Es war dieses merkwürdige Grab, das meinen Namen trug. Meinen Vorname. Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, dass wir uns gar nicht an einem anderen Friedhof befanden. Wir standen nur von einer anderen Position aus, sodass ich das Schloss erst nicht erkannt hatte. Mein fassungsloser Gesichtsausdruck verschwand, als mich die ruhige und tiefe Stimme des Pfarrers wieder an die Gegenwart erinnerte.
„Nun gut. Wir haben uns alle hier versammelt, um dem Menschen, den wir alle liebten, die letzte Ehre zu erweisen...” Die ersten Worte waren gefallen und schon jetzt schossen mir die Tränen in die Augen. Für mich sprach der Pfarrer nicht von Leandros Vater, sondern von meinem. Ein fetter Kloß bildete sich in meinem Hals und ich spürte wie mich erst jetzt die wirklichen Auswirkungen seines Todes überkamen. Wie ein Wasserfall rannen die Tränen meine Wangen hinunter. Ich war viel zu schwach und in meiner Trauer versunken, als dass ich mich darum gekümmert hätte sie zurückzuhalten. Wieder konnte ich niemanden in die Augen blicken und starrte an ihnen vorbei. Durch die ganzen Tränen wurde meine Sicht verschwommen, doch das kümmerte mich nicht länger. Eigentlich war es besser so, dann musste ich nicht die herablassenden Blicke der Leute um uns herum ertragen, die wohl möglich dachten, ich würde mit meiner Reaktion übertreiben.
Vielleicht hatte es aber auch noch niemand bemerkt. Ich weinte leise und unterdrückte das Schluchzen, sodass man nur an meinen feuchten Augen erkennen könnte, dass es mir schlecht ging. Die Worte des Pfarrers zogen an mir vorbei, ohne dass ich ihren Sinn verstand. Es waren vielleicht zwei Minuten vergangen, bis ich es nicht mehr in diesem Getümmel aushalten konnte. Mit mir selbst kämpfend ließ Leandro`s Hand los und drängte mich ohne jegliche Entschuldigung an der Trauergemeinde vorbei. Ich sah die musternden Blicke des Unbekannten und beschleunigte meine Schritte immer mehr. Entschlossen zwang ich mich niemanden in die Augen zu schauen. Und erst erst recht nicht Leandro. Ich wollte gar nicht wissen, was er in diesem Moment von mir dachte. Es lag auf der Hand, dass sie über mein verschwinden empört waren und mir am liebsten tötende Blicke zugeworfen hätten.
Trotz meines sturen Starrens zu Boden, war die Enttäuschung meiner Mutter nicht an mir vorbei gegangen. Am liebsten hätte sie mich direkt wieder zurück gezogen, doch natürlich wollte sie hier keinen Aufstand machen. Ich konnte mir schon jetzt gewiss sein, dass ich mir nachher eine saftige Standpauke anhören durfte, aber das war mir jetzt egal. Immer noch versuchte ich der Masse zu entkommen. Die wenigen Minuten wo alle Blicke auf mich gerichtet waren, fühlten sich wie Stunden an.
Endlich hatte ich die kleine Holztreppe des Restaurants gegenüber erreicht und stürmte in das große Gebäude. Ich spürte wie ich gleich viel ruhiger wurde und lehnte mich zum Durchatmen an die kalte Wand. Erleichtert schloss ich die Augen und blendete damit die grelle Beleuchtung aus.
Leise, melodische Musik drang in meine Ohren und ließ meine schnelle Atmung wieder langsamer werden. Es war ein ruhiges Lied aus den 80-zieger Jahren, das ich Dank meiner unfortschrittlichen Familie fast auswendig konnte. Unaufmerksam summte ich die Melodie mit und wippte mit meinem linken Fuß im Takt.
„Was darf es sein?“, riss mich eine helle Stimme aus dem Träumen und beförderte mich direkt in die Realität. Langsam öffnete ich meine schweren Augen und wurde vom grellen Licht geblendet. Die Tränen waren getrocknet und nun begannen meine Augen zu brennen. Seufzend richtete ich mich auf und schritt an die Theke heran. Außer mir und einem alten Ehepaar, in der letzten Reihe, war es leer. Die gut gebaute Frau lächelte mir freundlich entgegen und zog ganz aufmerksam ihre Augenbraue hoch. Hatte sie mir wirklich zu gelächelt? Schief schaute ich sie an und fragte mich warum sie so freundlich war.
„Einen Kaffee.“
„Mit Milch?“
„Ja und Zucker.“
„Kommt sofort“, murmelte sie leise und verschwand hinter einem den weißen Vorhänge. Unsicher drehte ich mich zu den großen Fenstern und betrachtete die Trauergemeinde. Verwirrt spähte ich zu Melonie rüber, neben der sich eine Lücke gebildet hatte. Wohin war Laureen verschwunden? War sie mir gefolgt?
Ich ließ meine Blicke weiter wandern, bis sie plötzlich bei Leandro stehen blieben. Sie hatte sich neben ihn gestellt und verschränkte nun ihre Hand in seine. Unschuldig legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und lächelte ihm aufmunternd zu. Das durfte doch nicht wahr sein! Was hatte ich auch erwartet? Natürlich war sie bei ihm, sie konnte doch keine Gelegenheit auslassen sich an ihn ranzuschmeißen. Aber wirklich auf einer Beerdigung? Wie konnte man nur so dreist sein?Ich sollte dort stehen! Ich sollte ihn aufmuntern und sagen, dass alles gut werden würde! Nur ich und sonst niemand. Wie ich diese giftige Schlange hasste!
„Bitte“, riss mich ihre ruhige Stimme aus meinen Überlegungen.
„Was?“
„Ihr Kaffee, Zucker gibt es dort drüben.“
„Vergessen Sie´s“, flüsterte ich abwesend und verließ mit einem Mal den Laden. Ich hörte ihre empörte Stimme hinter mir, aber das war mir sonderlich egal. Immerhin wäre ich hier in ein paar Stunden weg. Erneut starrte ich nur stur zu Boden, während ich auf das schwarze Getümmel zu lief. Ohne länger zu zögern, stellte ich mich neben Melonie und sah dem Rest der Feier zu. Ich konzentrierte mich jedoch nicht einen Moment auf die Feier und die Worte des Pfarrers, sondern widmete meine komplette Aufmerksamkeit den verrückten Gedanken in meinem Kopf. Sie wurden immer irrsinniger und ich malte mir förmlich aus, wie sie sich gleich in die Arme fallen würden und leidenschaftlich küssen würden. Ich hätte mich eingemischt und wäre es nur ein Flüstern gewesen, aber gerade hier fiel jedes Wort auf das nicht vom Pfarrer kam.
Wut kam langsam in mir auf und ich verspürte das Bedürfnis ihr eine reinhauen zu wollen. Diese miesen, verlogenen Schlampe. So wie sie ihn anstarrte musste irgendwann einfach etwas zwischen ihnen gelaufen sein.
Nachdem das ganze Szenario hinter uns lag, verabschiedete ich mich brav von den, mir unbekannten, Gästen und lief schließlich mit meiner Mutter, Tom und Mia zurück. Es war rein formell von beiden Seiten gewesen, lediglich eine Frau, mittleren Alters, hatte den Anstand gehabt mir aufmunternd zu zu lächeln. Der Rest zerfetzte sich doch nur die Münder über mich und hetze über unsere Anwesenheit hier her. Ob sie überhaupt wussten wer ich war?
Mit dem Versuch mich von Laureen`s Vorhaben ablenken zu können hatte mich nach dem Unbekannten, mit diesen wunderschönen Augen umgesehen, doch er war längst verschwunden. Schon nachdem ich aus das Restaurant verlassen hatte, war er mir nicht mehr über den Weg gelaufen.
Schweigend lief ich mit meiner Familie hinter Leandro und Laureen her. Jedes Knacken eines Astes, unter unseren Füßen, war zu hören und gar jeder Atemzug drang mir in die Ohren. Ich stellte mich bereits auf eine Ansage von meiner Muttern ein, aber anscheinend wollte sie damit warten, bis wir alleine waren. Schließlich musste sie einen guten Ruf wahren.
Irgendwann wurde das zahlreiche Knacken unter unseren Füßen leiser und plötzlich waren Laureen und Leandro verschwunden.
Ich konnte mir sehr gut vorstellen was sie mir ihm anstellen wollte. Wieso konnte sie nicht einfach akzeptieren, dass er sich nun mal für mich entschieden hatte? Er würde sich sowieso nicht auf sie einlassen, dafür waren ihren Tricks doch viel zu billig. Außerdem war er ja nicht ohne Grund mit mir zusammen. Ihm vertraute ich blind, aber meine Neugierde war viel zu groß, um die beiden alleine zu lassen. Zudem wollte ich sehen wie er sie zurückstoßen würde und wie sie danach völlig empört sein würde.
Unbemerkt kapselte ich mich also von meiner Familie ab und folgte den Spuren tiefer in den Wald hinein. Eine Weile folgte ich dem Knacken vor mir und dann endlich sah ich sie. Zusammen setzten sie sich auf einen Baumstamm, auf unseren Baumstamm. Warum nahm er sie hier her mit? Es war doch unser Baumstamm!
Oder war doch etwas an den Geschichten über diese Mädchen dran? War das der Ort an dem er sie alle rumbekommen hatte? Dafür wäre er jedenfalls perfekt. Um den Baumstamm war genügend Platz, der es ermöglichte völlig vom Mondlicht eingehüllt zu werden, wenn der Mond natürlich günstig stand. Trotzdem fühlte man sich eingekuschelt, da die Sträucher um einen das Gefühl von Geborgenheit und Wärme vermittelten.
Am liebsten hätte ich sie schon jetzt zur Schnecke gemacht, doch ich wollte dass es so richtig eskalieren würde. Ich wollte verdammt noch mal, dass er sie wegstößt! Also wartete ich geduldig. Sie redeten, sie redeten lange, aber irgendwann rückte sie immer näher an ihn heran, legte ihren schlanken Arm um ihn und platzierte ihren Kopf sachte auf seiner Schulter. Sie redeten nur leise miteinander, sodass ich die meisten Worte nicht verstehen konnte. Doch das störte mich nicht besonders, ich war viel mehr daran interessiert endlich sehen zu können, wie er sie abblitzen lassen würde.
Und dann endlich war es so weit. Sie hob ihren Kopf leicht an und schaute plötzlich zu mir. Siegessicher grinste sie mir entgegen, warf Leandro dann einen verführerischen Blick zu, dem er widerstehen musste und lächelte. So böse und hinterhältig, dass ich mir sicher war er würde verstehen, was sie wirklich vorhatte. Obwohl ich mir unheimlich sicher war, dass er niemals auf sie reinfallen würde und mich nie betrügen könnte, spürte ich die aufkommende Aufregung und Nervosität. Langsam brachte sie ihren Kopf immer näher zu seinem und schließlich berührten sich ihre Lippen ganz sachte. Erschrocken hielt ich die Luft an und fieberte den Moment entgegen, wo er ihr endlich eine Abfuhr geben würde. Das würde er tun, richtig?