Schnell löste ich mich aus seiner Umarmung und verabschiedete mich knapp, ehe ich verschwand.
„Nicht hier!“, murmelte ich und fing nun an zu rennen. Verzweifelt versuchte ich gegen die Tränen anzukommen, doch sie waren viel zu stark. Alles eine Lüge. Wahrscheinlich hatte er bei jedem Wort an sie gedacht und nichts davon ernst gemeint.
Endlich hatte ich unsere Zimmertür erreicht. Schleunigst verschwand ich im Raum, schlug die Tür hinter mir zu und schloss sie ab. Schluchzend rutschte ich am Holz zu Boden und vergrub mein Gesicht auf meinen angewinkelten Knien. Verzweifelt fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare und schlug mit der flachen Hand auf den Boden. Ich konnte diese Gedanken nicht loswerden. Die Gedanken, die Bilder die mich so tief trafen. Die Gedanken an seine Augen, die mich so ausdrucksstark angefunkelt hatten, dieses Lachen, das mich gleich beim ersten Mal verzaubert hatte. Alle Worte die wir miteinander gewechselt hatten. Jeden Kuss, der mich auf Wolke sieben befördert hatte und der es geschafft hatte das ganze Drama um mich herum zu vergessen.
Ohne ihn fühlte ich mich so leer, nutzlos und einfach schrecklich.
War das wirklich alles gelogen? Alles um mein Vertrauen zu gewinnen? Wie er mir Komplimente gemacht hatte, mir seine Jacke gegeben hatte und mich mit völliger Überzeugung angestrahlt hatte?
Ich hasste ihn, nein ich wollte ihn hassen. Doch so oft ich mir all seine schlechten Taten auch vor Augen hielt, die Guten gewannen und wollten mich dazu zwingen, erneut einfach zu vergeben. Warum konnte ich dieses Mal nicht so naiv sein? Behaupten es war nicht so gewesen? Mir vorgaukeln, es wäre nur ein Ausrutscher und hoffen es würde nie wieder passieren? Es würde alles so einfach machen, für den Moment. Obwohl er mir so wehtat wünschte ich mir, dass er einfach zu mir kommen würde und mich in den Arm schließen könnte. So wie er es getan hatte, als seine Geisterschwester mich umbringen wollte. Wie konnte ein Mensch nur so gut und überzeugend lügen? Wie? Wie? Verdammt noch mal wie? Meine Wut war verschwunden und stattdessen füllte mich nur noch Leere, Enttäuschung und das Gefühl der Einsamkeit. Und all das war so viel schlimmer, als die Wut auf ihn, die eigentlich viel angebrachter gewesen wäre.
„Warum?“, schrie ich verzweifelt, nicht wissend wie es weiter gehen sollte. Ich wusste nicht wie ich mich wieder zusammenreißen könnte. Wie ich hier ohne ihn verschwinden sollte, obwohl es das einzig Richtige gewesen wäre. Ich wusste nicht wie es weiter gehen sollte und diese Ungewissheit machte mir Angst. Die Tränen rannen unermüdlich meine Wangen hinunter und ließen mich glauben, sie würde nie wieder damit aufhören.
„Alex?“ Erschrocken zuckte ich zusammen und hielt für einen Moment die Luft an. Warum war er hier? Konnte er nicht einfach verschwinden? Er musste verschwinden, bevor ich irgendetwas tat was ich bereuen würde.
„Alex öffne die Tür bitte. Ich weiß, dass es schrecklich sein muss so etwas zu sehen. Aber ich kann doch nichts dafür so ein Monster sein zu müssen. Am liebsten würde ich nie wieder Blut trinken.” Ich seufzte und versuchte mich zu fangen. Dachte er wirklich ich wäre so geknickt, weil ich seine Verwandlung mit angesehen hatte? Lächerlich. Einige Minuten saß ich regungslos da und starrte vor mich hin. So lange, bis die Tränen endlich aufhörten zu fließen und ich mir einreden konnte, nicht direkt wieder zu weinen anzufangen. Unsicher wischte ich die Tränen weg, strich mir die Haare aus dem Gesicht und öffnete die Tür.
Die Augen starr zu Boden gerichtet, stand er vor mir und lehnte mit dem rechten Arm an der Wand. Fragend musterte ich ihn und fragte mich, ob er den Vorfall mit Laureen wieder vergessen hatte.
„Darf ich?“, murmelte er und trat ein, nachdem ich ihm zugenickt hatte. Leise schloss ich die Tür wieder hinter uns und starrte ihm mutig in die Augen. Sie waren kalt, abweisend und leer und sie nahmen mir jegliche Hoffnungen auf eine Versöhnung, auch wenn ich auf diese nicht hätte hoffen dürfen. Er ließ seine Schultern schlaff hängen, steckte seine Hände lässig in die Hosentaschen und wagte schließlich einen kurzen, bedeutungslosen Blick in meine Augen.
„Verstehst du jetzt warum ich nicht wollte, dass du bleibst?“ Stumm sah ich ihn an und brauchte einen Moment, ehe ich eine Antwort auf seine Frage fand.
„Schwachsinn. Egal wie grausam du aussehen würdest, meine Gefühle oder Meinungen über dich würden sich doch deswegen nicht ändern.“
„Wirklich?“, fragte er hoffnungsvoll und schaute mir endlich in die Augen. Diese wunderschönen Augen, wie könnte ich ihnen jemals widerstehen? Hoffnungsvoll blitzten sie mich an und versuchten alles zwischen uns wieder gerade zu biegen.
Schnell wendete ich meine Augen wieder von ihm ab. Nein, es war völlig falsch auch nur einen kurzen Gedanken daran zu verschwenden, mich mit ihm zu versöhnen. Nicht nachdem er mich so fies hintergangen hatte. Ich durfte doch jetzt nicht nachgeben!
„Also hast kein Problem damit zu wissen wie ich wirklich bin?“, fragte er fast glücklich, als wäre das unser größtes Problem gewesen.
„Nein.“
„Wow, die anderen Mädchen waren verzweifelt.“
„Die Anderen? Ich bin nicht wie die Anderen, das solltest du langsam begriffen haben. Vergleich mich nicht ständig mit ihnen“, zischte ich kopfschüttelnd um von meinen eigentlichen Gefühlen ablenken zu können.
„Tut mir leid.“
„Ach das tut dir leid? Tut dir denn auch das leid was im Wald passiert ist?“ Er senkte die Blicke und schwieg einfach.
„Dachtest du ich hätte es vergessen, verdrängt? Oder dachtest du ich könnte darüber hinwegsehen? So wie über alles andere?“
„Nein, aber ich habe mit ihr gesprochen. Es war einfach ein Ausrutscher.“
„Ausrutscher? So nennst du das also? Du kotzt mich so an! Ich hatte wirklich geglaubt dieser Tag wäre nicht einfach für dich. Doch da knutscht du einfach mit ihr herum? Hast du auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, dass mir dieser Tag nicht viel leichter gefallen ist? Du hattest wenigstens eine Beerdigung. Die meines Vaters wird nie stattfinden und alles woran du denkst, ist ausgerechnet sie zu küssen?“, fragte ich mit zusammengekniffenen Augen und spürte die ersten warmen Tränen auf meinem Gesicht. Nein, nicht jetzt! Schnell drehte ich mich weg und strich sie mit dem Saum meines Pullovers weg.
„Es... es war einfach zu viel. Ich musste stark sein, ich durfte nicht weinen und dann warst du einfach weg und sie da und...“, er verstummte, kam auf mich zugelaufen und griff nach meiner Hand.
„Und deshalb nimmst du dir das Recht sie zu küssen? Hast du eigentlich eine Ahnung wie verletzend das ist? Ach was frage ich überhaupt. Natürlich hast du das nicht! Schließlich bist du immer derjenige, der alle abserviert.“
„Hm. Warst du denn immer fair zu allen? Zu denen, die dich geliebt haben?“
„Das tut gar nichts zur Sache und selbst wenn nicht, dann würde es dein Verhalten nicht entschuldigen.“
„Ich denke nicht, dass du immer fair zu allen warst.“
„Du weißt nichts über mich! Ich dachte wirklich uns würde mehr verbinden als nur ein paar Worte“, zischte ich und wollte mich gerade aus seiner Hand befreien, als die Tür aufgeschlagen wurde. Erschrocken ließ er mich los und gab mir damit die Möglichkeit etwas Abstand von ihm zu gewinnen.
„Was machst du schon wieder bei ihr? Entscheide dich endlich! Sag dieser Schlampe, dass wir zusammen sind! Ich weiß sowieso nicht warum sie immer noch bei dir ist!”, brüllte sie fassungslos und kam auf uns zu gestapft. Sie hatte eine entscheidende Frage gestellt. Warum war ich überhaupt noch hier? Warum rechtfertigte ich mich noch? Warum hörte ich ihm noch zu, wenn ich doch sicher wusste, dass er mich nur wieder anlügen würde. Warum zur Hölle konnte ich nicht einfach gehen!
„Bist du schwer von Begriff? Ich habe dir vorhin schon gesagt, dass es nur ein Ausrutscher war und von keinerlei Bedeutung für mich”, entgegnete er genervt von ihren Spielchen und blickte ihr finster entgegen.
„Und warum hast du mich dann nicht weggestoßen?“
„Weil es einfach... alles chaotisch um mich herum war. Ich meine es war die Beerdigung meines Vaters, natürlich bin ich da durch den Wind. Du willst doch nur Alex gegen mich aufhetzen!“
„Schwachsinn! Du wolltest es auch. Glaubst du mir ist es entgangen wie du mich die ganze Zeit angesehen hast? Ich weiß genau, dass du mich immer noch liebst“, lachte sie und schritt noch näher an ihn heran, sodass sie sich nun so nah standen, dass ich die Befürchtung bekam erneut zusehen zu müssen, wie sie sich gegenseitig die Zungen in den Hals steckten.
„Ist das war? Ward ihr zusammen?“
„Ich rede nicht gerne über meine Vergangenheit.“
„Glaubst du das interessiert mich? Raus mit der Sprache!“, zischte ich verständnislos und fragte mich warum er immer noch nicht die Karten auf den Tisch legte.
„Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt.“
„Kein guter Zeitpunkt? Hast du sie noch alle? Du hast es doch eh verkackt, schlimmer kanns nicht werden.“
„Alex.“
„Na los sag es“, mischte sich Laureen schmunzelnd ein und legte ihre Hände um seinen Nacken.
„Es ist so unnötig ausgerechnet jetzt darüber zu sprechen.“
„Hör doch auf. Sag es oder ich gehe. Das hätte ich vermutlich schon längst tun sollen“, antwortete ich.
„Ja vielleicht war ich mit ihr zusammen. Aber das war vor über 50 Jahren und nichts ernstes“, sagte er beschämt und stieß sie weg. Jetzt war es zu spät. Jetzt brauchte er sie auch nicht mehr von sich wegzustoßen. Vor 50 Jahren? Anscheinend war es mehr gewesen, als er jetzt zugeben wollte, sonst hätte er sie einfach nicht geküsst.
„Nichts ernstes? Was sind denn 20 Jahre Beziehung dann für dich? Und jetzt bloß nicht so, als wäre in all der Zeit danach nicht immer mal wieder etwas zwischen uns gelaufen“, ergriff Laureen das Wort und konnte gar nicht mehr aufhören zu strahlen. Offensichtlich liebte sie es einen Keil zwischen uns zu treiben und erfreute sich an dem Leid anderer. Ihre Haare waren mittlerweile giftgrün geworden und spiegelten ihre endlose Freude über unseren Streit wieder.
„Leandro?“, fragte ich zögernd und war mir sicher alles zwischen uns verloren zu haben. All das, was es eigentlich gar nicht gegeben hatte, all das, was nur ich gefühlt hatte und all das, was er sich ausgedacht hatte.
Er schwieg nur und damit war diese Aussage bestätigt. Wut begann in mir zu brodeln, Enttäuschung erfüllte meinen Geist und hasserfüllte Eifersucht stieg in mir auf. Zusammen benebelten sie für einen Moment meinen Verstand und übernahmen die Kontrolle. Zielsicher öffnete ich meine Faust und klatschte ihm mit voller Wucht meine gerade Handfläche ins Gesicht. Ein lauter Knall ertönte und ließ mich wieder wach werden. Erschrocken starrte ich ihn an und schnappte nach Luft. Zitternd riss ich meine Hand wieder von ihm weg und legte meine andere Hand schützend über sie. Laureen´s Lachen erfüllte den ganzen Raum und übertönte für einen Augenblick alle Gefühle, Geräusche und Gedanken. Das erste Blut tropfte aus seiner Nase und ließ jegliche Wut verschwinden. Das Gesicht verzogen hielt er sich die Hand vor Nase und Mund und legte seinen Kopf nach hinten, damit das Blut seine Sachen nicht versauen würde. Sprachlos musterte ich ihn und entdeckte erst jetzt die Veilchen, die rund um sein linkes Auge verstreut waren.
„Wo hast du das her?“, fragte ich seufzend und deutete auf sein Gesicht. Ich hatte eine Vorahnung, ich befürchtete Rick hätte etwas zu damit zu tun. Und Leandro hatte gewollt, dass ich es entdecken würde. Sonst hätte er die blauen Flecken längst vom Amulett heilen lassen.
„Was interessiert dich das schon? Du hast doch deinen Senf noch dazu gegeben“, beschwerte er sich mit einem Unterton in der Stimme, der mir mitteilen sollte, dass ich mit meiner Reaktion übertrieben hatte.
„Leandro wer war das?“
„Ist doch egal, ich habe es wahrscheinlich sowieso verdient.“ Einsicht? Wohl kaum. Eher der Versuch mich weiterhin zu provozieren.
„War es Rick?“ Kurz zögerte er, doch dann raffte er sich auf nickte mir entgegen. Na blendend, jetzt hatte ich noch jemanden der der Meinung war, er müsse sich als Held aufspielen.
„Okay der Zirkus scheint vorbei zu sein. Ich verschwinde. Leandro! Triff bloß die richtige Entscheidung, ich werde auf dich warten“, drohte Laureen und verließ das Zimmer. Warum ging sie ausgerechnet jetzt? Wahrscheinlich hatte sie Angst mit ansehen zu müssen, wie wir uns wieder vertragen würden. Aber so weit durfte ich es einfach nicht kommen lassen!
„Und was jetzt?“, fragte er in den Raum hinein, wobei er sich aus seinem Starren nicht zu lösen versuchte. Ich zuckte mit den Schultern. Ging er wirklich noch davon aus ich würde ihn mitnehmen?
Schweigend suchte ich meine Sachen zusammen und wurde dabei die ganze Zeit von seinen Blicken verfolgt. Gedankenversunken ignorierte ich sie und dachte darüber nach, beim Hotel anhalten zu müssen, um unsere ganzen Sachen zu holen. Ich schaute ihm kein einziges Mal in die Augen und verschwand schließlich durch die Tür. Doch er blieb nicht alleine im Raum zurück, stattdessen folgte er mir und rief meinen Namen.
„Alex warte.“ Seufzend blieb ich stehen und spürte die aufkommende Angst. Die Angst, genau die falsche Entscheidung zu treffen.
„Was?“
„Ich muss mich ja auch verabschieden, dann könnten wir das auch zusammen machen“, schlug er fast gut gelaunt vor und machte sich auf den Weg. Hatte er die Diskussion von eben etwa gnadenlos verdrängt? Ich durfte ihn einfach nicht mit nach Berlin nehmen! Er würde mehr Ärger mit sich bringen, als er mir helfen könnte. Warum wollte er überhaupt noch mit, wenn doch offensichtlich immer noch etwas für Laureen empfand?
Etwas fassungslos lief ich hinter ihm her und musterte ihn ganz genau. Ein paar Fältchen hatten sich um seine Mundwinkel gelegt und gelegentlich blitzten seine weißen Zähne hervor, wenn er jemanden über den Weg lief.
„Warum verabschiedest du dich?“
„Was?“
„Du wirst nicht mit nach Berlin kommen.“
„Warte was?“, fragte er verdutzt und blieb stehen. Gerade als ich ihm erklärende Worte zukommen lassen wollte, unterbrach mich eine hektische Frauenstimme:
„Da seid ihr ja endlich, oben warten schon alle auf euch. Sie wollen euch gemeinsam verabschieden und euch danken.“
„Melonie, gibst du uns noch eine Minute?“, fragte ich hoffend und wollte mich gerade wieder zu ihm umdrehen, da zog sie mich schon weiter. Stillschweigend folgten wir ihr und hörten lediglich den Klängen unserer Schritte zu. Erst wieder im Wald kamen wir zum Stehen und blickte einer Traube von Leuten entgegen. Kopfschüttelnd stellte ich mich zusammen mit Leandro etwas abseits und schaute zu, wie sich Melonie in die Mitte begab. Mit erhobenen Händen nahm sie das Mikrofon von Laureen entgegen und begann stolz eine Rede zu halten.
Ich rollte fast unmerklich mit den Augen. Mussten sie wirklich so einen großen Wirbel um unsere Abreise machen? Mir war es zu viel Aufmerksamkeit und vor allem fühlte ich mich unwohl, da wir nun gezwungener Weise so tun mussten, als wäre nie etwas vorgefallen.
„Was soll das heißen? Du kannst mich nicht hier lassen“, unterbrach Leandro ganz leise
Melonie´s Rede und zog damit meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie hielt mehr Blickkontakt mit allen anderen und genoss wie ihr alle an den Lippen hingen, so fiel es gar nicht auf, dass wir längst mit etwas anderem beschäftigt waren.
„Alex?“
„Was denn? Was willst du hören? Ich werde dich nicht mitnehmen“, flüsterte ich und atmete tief ein.
„Du kannst nicht alleine gehen.“
„Ach nein? Du denkst ich komme ohne dich nicht zurecht oder? Dumm so was zu denken! Warum willst du überhaupt noch mit? Du hast doch alles hier was du brauchst.“
„Meinst du sie? Ich habe ihr und auch dir gesagt, dass das ein Ausrutscher war. Also sei nicht albern.“
„Albern? Sag mal geht’s noch? Du hast sie geküsst!“
„Weil ich...“, begann er, doch wurde von Melonie´s Stimme unterbrochen, die seinen Namen laut ins Mikro krächzte. Er schreckte zusammen als er bemerkte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren und Melonie ihm ihre Hand reichte. Er warf mir einen flüchtigen Blick zu, ehe er zu Melonie lief und sie in seine Arme schloss. Ich musste schmunzeln als ich bemerkte wie unsicher er dort wurde und wie unangenehm ihm die ganze Aufmerksamkeit war.
„Hey“, hauchte mir plötzlich eine leise Stimme ins Ohr und ließ mich zusammenzucken. Freudig strahlten mir Lynn´s Augen entgegen und ließen mich aufatmen. Wenigstens eine der ich ein von meinen Problemen erzählen könnte.
Ich wollte sie gerade überschwänglich begrüßen, da rief ich mir in Erinnerung, dass die anderen sie nicht sehen konnten und ich mit dieser Aktion sicher mehr als nur ein wenig verrückt wirken würde. Verrückt, in dieser abgedrehten Welt. Irgendwie unvorstellbar. Unauffällig verschwand ich zusammen mit ihr hinter dem langen Gebäude, aus dem wir eben gekommen waren und prüfte ob uns auch niemand gefolgt war.
„Hi.“ Auch wenn sie mich zu Beginn unserer Treffen immer wieder in Angst und Schrecken versetzt hatte, so gab sie mir nun Sicherheit und ließ mich für einen Moment aufatmen.
„Was machst du hier?“
„Ich muss mit dir reden. Ich würde gerne mit dir kommen, weg von hier und auf in neue Gegenden. Doch dafür muss ich wohl von dir verlangen, dass du es vor ihm weiterhin geheim hältst“, erklärte sie und setzte sich auf einen grauen Stein, der aus dem, mit Moos bewachsenen, Boden ragte.
„Oh das wird mir nicht besonders schwer fallen. Im Gegenteil, ich werde es genießen ihn anlügen zu müssen.“
„Sag so etwas nicht. Also hältst du dicht?“
„Natürlich. Trotzdem freue ich mich darüber. Vielleicht erfährt er irgendwann dann selbst, wie es ist wenn Wahrheit, Lügen und Geheimnisse ans Licht kommen.“
„Sei nicht so hart zu ihm. Er hat es gerade nicht leicht und eigentlich will er dich nur mit den Lügen schützen. So wie du es bei ihm tun würdest.“
„Nimmst du ihn gerade in Schutz?“
„Das muss ich, ich bin schließlich seine Schwester.“
„Na und? Deswegen kannst du ihn doch bei so etwas nicht verteidigen!“
„Tut mir leid, ich muss gehen. Ich werde nach kommen.“
„Wag´ es ja nicht jetzt zu verschwinden!“, brüllte ich wütend und ich stöhnte genervt auf, als sie einfach wieder verschwunden war. So viel zum Thema, dass ich nun jemanden zum Reden hatte.
„Na na. Was wird er wohl von dir denken, wenn er sieht wie du mit deinen imaginären Freunden sprichst?“ Ich seufzte. Laureen, wem auch sonst könnte diese unglaublich nervtötende Stimme gehören?
„Das ist mir herzlich egal, wohl möglich findet er dann wieder Interesse an mir. Also würde ich ihm an deiner Stelle nichts davon erzählen. Nur so ein Tipp von Ex-Freundin zu
Ex-Freundin“, lachte ich offensichtlich gespielt und zwinkerte ihr zu, als würde ich auch nur ansatzweise einen Teil meiner gesprochenen Worte ernst meinen.
„Wirklich witzig. Nun ja, jetzt mach Platz und sieh zu wie du verlieren wirst“, antwortete sie arrogant, schubste mich zur Seite und lachte. Elegant stolzierte sie davon, warf im Laufen ihre Haare nach hinten und drehte sich flüchtig zu mir um, um mir einen ihrer gehässigen Blicke zu zu werfen.
„Ach und Mäuschen? Gib ihn auf, er spielt doch nur mit dir. Deine Seele ist zu schade um verletzt zu werden.“ Mit diesen Worten verschwand sie im Getümmel und ließ den Applaus der Leute auf sich hinab prasseln. Natürlich, meine Seele ist zu schade um verletzt zu werden, dass ich nicht lache. Was interessierte sie das bitteschön? Es ging mir so auf die Nerven, wie sie sich vor allen aufspielen musste und wie sie es liebte sich gegen mich zu behaupten. Als würde mich ihre Position auch nur in irgendeiner Weise interessieren. Aber wahrscheinlich wollte sie einfach nur klar stellen, dass sich niemand an ihren Ex-Freund, Crush, Freund oder wie auch immer man das beschreiben möchte, ran machen sollte.
Nachdenklich lief ich um die Ecke und reihte mich wieder neben Leandro ein, der seinen ursprünglichen Platz eingenommen hatte.
„Und als Letztes möchte ich natürlich auch noch diejenige zu mir bitten, der wir unsere Freiheit ebenfalls zu verdanken haben.“ Ich seufzte. Wer könnte das außer mir sein? Und ich hatte gehofft sie würden mich wenigstens heute damit verschonen.
„Alex würdest du zu uns kommen?“, fragte Melonie freundlich, reichte mir auch ihre Hand und stellte mich schließlich zwischen sich und Laureen. Der Applaus übertönte alles, sogar ihre sonst sehr kräftige Stimme und brachte mich in Verlegenheit.
„Danke“, war alles was man noch aus ihrem Mund hörte, ehe sie mich in ihre Arme schloss und mich immer enger an sich presste. Der Applaus und die Jubelschreie wurden immer lauter und mit ihnen, drückte mich Melonie noch viel enger an sich.
„Gerne. Wir haben einen weiten Weg vor uns und ich möchte langsam nach Hause, außerdem wartet meine Familie schon“, flüsterte ich ihr ins Ohr und erhielt dafür einsichtiges Nicken ihrerseits. Schüchtern schaute ich in hundert unbekannte Gesichter und versuchte meine Unsicherheit zu verstecken.
„Nun gut, ich denke wir sollten sie verabschieden.“ Nachdem diese Worte ihre Lippen verlassen hatten, verstummte der Applaus und das Grölen und ich wurde endlich aus diesem Trubel entlassen. War das wirklich das letzte Mal dass ich ihn sehen würde? Mussten wir wirklich so auseinander gehen? Wahrscheinlich war es besser so, aber ich wusste schon jetzt, dass ich mir auf Ewigkeiten Vorwürfe machen würde. Das ich damit nicht besser als er gewesen wäre, wenn ich nicht drüber stehen könnte und mich normal verabschiedete und wenn es nur ein Handschlag gewesen wäre. Während ich mich aus der Menge entfernte ließ ich meine Blicke ein letztes Mal über ihre Gesichter schweifen und stoppte dabei bei ihm.
Dieser Anblick brachte mich unbewusst zum stehen und ich konnte nicht anders als ihm direkt in die Augen zu starren. Intensiv schauten wir einander in die Augen und keiner von uns wagte es auch nur zu blinzeln oder den Blickkontakt abzubrechen. Es war beinahe wie am ersten Tag und all die Gefühle und Erinnerungen, die ich bis eben versucht hatte zu verdrängen und zu vergessen, tauchten wieder auf. Nervosität legte sich in mein Gesicht und wieder überkam mich das Gefühl der Sehnsucht. Ich wollte ihn einfach umarmen, ich wollte ihn küssen und ich wollte mich wieder versöhnen, seine ruhige Stimme hören und die Gewissheit haben er wäre für mich da. Doch wie sollte ich das wiederbekommen, wenn ich nicht verziehen konnte, wenn ich es einfach nicht durfte?
Geh weiter! Du bereust nichts. Entweder er kommt hinterher oder du solltest es einfach sein lassen! Rief meine innere Stimme, meine Vernunft und ich wusste dass sie Recht hatte, aber ich wollte so nicht gehen. Ich wollte Laureen doch nicht einfach alles so überlassen, er, der mir so viel bedeutet hatte und der mir immer noch viel zu viel bedeutete.
Wir mussten uns bestimmt schon mehrere Minuten einfach angestarrt haben, da schob sich eine blonde Gestalt zwischen uns. Natürlich war es Laureen. Grinsend fiel sie ihm in die Arme und legte ihren Kopf ganz zärtlich auf seine Schulter. Anstatt irgendetwas zu tun, um mich umstimmen zu können, drückte er sie einfach enger an sich und vergrub sein Gesicht in ihren langen, wallenden Haaren.
Ich schloss die Augen und schluckte. Ich wollte und konnte es nicht mit ansehen. Sie würde ich bis zu meinem Tod hassen! Aber er wollte es so. Er wollte nicht um mich kämpfen und deswegen durfte ich ihm auch nicht hinter laufen!
Ein letztes Mal starrte ich in die wunderschönen Augen, ließ mich von ihnen verzaubern und meinen Atem stehlen, ehe ich in den Wagen meiner Mutter einstieg.