„Weißt du überhaupt wo du lang fährst?“, fragte ich leise und lehnte mich zu meiner Mutter nach vorne. Seit bereits einer Stunde fuhren wir stillschweigend auf einer endlosen Landstraße entlang und konnten nur die vorbeiziehenden Wälder betrachten.
„Ich weiß schon was ich mache, außerdem führt diese Straße nur in eine Richtung.“ Nickend ließ ich mich wieder in meinen Sitz fallen und seufzte. Mia war schon lange aufgewacht und beschäftigte sich nun mit einem bunten Würfel, den ihr Mum vorhin zugesteckt hatte.
Tom starrte teilnahmslos auf seinen Gameboy und hatte schon längst das Zeitgefühl verloren. Ab und zu sah er von seinem Spiel auf, prüfte ob wir uns überhaupt noch vorwärts bewegten und versank dann wieder in seiner ganz eigenen Welt. Selbst meine Mutter schien nicht besonders aufmerksam zu sein. Wenn eins ihrer Lieblingslieder im Radio gespielt wurde, was nebenbei bemerkt wirklich komische Songs waren, bekam sie es nicht einmal mit und starrte nur völlig gelangweilt auf die Frontscheibe.
Immer wieder warf ich Leandro einen unauffälligen Blick zu und prüfte, ob er mich gelegentlich ansah. Doch das tat er nicht. Kein einziges Mal wagte er einen kurzen Blick. Obwohl die Sache hätte abgeschlossen sein sollen, konnte ich einfach nicht aufhören über seine Worte nachzudenken. Ich konnte einfach nicht aufhören über ihn nachzudenken und das trotz dessen, dass er die ganze Zeit mit im Auto saß. Ob er die Fahrt über auch nur ein einziges Mal über mich nachgedacht hatte? Oder kreisten seine Gedanken nur um Laureen? Konnte er mich nicht wenigstens ein einziges Mal ansehen, sodass ich mir einreden könnte, er würde wenigstens etwas über mich nachdenken? Wieder drehte ich mich vorsichtig zu ihm um und schaute nachdenklich sein entspanntes Gesicht an. Er musste eingeschlafen sein, denn nun lehnte er mit dem Kopf an der Fensterscheibe und hatte seine Augen geschlossen. Er atmete ruhig und wenn man ihn dort so unschuldig schlafen sah, hätte man fast denken können, nie könnte er ein böses Wort über die Lippen bringen.
Ich merkte erst, dass ich ihn eine Weile angestarrt hatte, als meine Mutter den Wagen abrupt zum Stehen brachte und er plötzlich ganz desorientiert hochschreckte. Verdutzt schaute er mir für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen, ehe ich meine Blicke ganz schnell von ihm abwendete und meine Aufmerksamkeit den verregneten Fensterscheiben schenkte.
„Die sechste Ausfahrt von hier“, sagte er verschlafen und streckte sich.
„Sicher?“
Leandro nickte nur sachte und lehnte sich wieder an sein Fenster. Da die letzten Erinnerungen an diesen Kreisverkehr nicht die Besten waren, tastete ich schnell nach dem Griff über mir, lehnte mich leicht nach vorne und versuchte durch die verregnete Frontscheibe etwas erkennen zu können. Sichtlich nervös umklammerte meine Mum das Lenkrat, legte den ersten Gang ein und fuhr langsam an den Kreisverkehr heran. Kurz schnellte ihre Hand nach rechts, betätigte den Scheibenwischer und umklammerte schließlich wieder das schwarze Lenkrat.
Als wäre dieser Kreisverkehr verhext, wurde der Regen immer heftiger desto näher wir ihm kamen und selbst das schnellste Intervall des Scheibenwischers konnte nur eine ungenaue Sicht bieten. Fast schleichend näherten wir uns gespannt der Mitte des Kreises und fuhren nach rechts, an der ersten, von uns aus gesehenen Ausfahrt, vorbei. Das Donnergrollen befand sich plötzlich direkt hinter uns und ließ in Kombination mit dem lauten Donnerschlägen, Blitze über unser Auto schnellen.
Der Wind wurde immer stürmischer und mächtiger, bis er immer mehr Blätter auf die Fahrbahn gefegt hatte. Kleine Äste brachen von den riesigen Bäumen ab und landeten mit einem lauten Knall auf dem Dach unseres Autos. Wir waren bereits an der dritten Ausfahrt vorbeigefahren, da brachte ein greller Blitz, direkt vor uns, alles zum Erleuchten und beeinträchtigte die Sicht derart, dass ich kurzzeitig das Gefühl bekam, nicht mehr zu wissen, wo oben und unten war. Mir entwich ein leiser Schrei, als unser Auto die Kante des Mittelkreises streifte und wir auf unseren Sitzen durch die Gegend geschleudert wurden. Der Regen preschte gnadenlos gegen die Scheiben und machte die Scheinwerfer völlig nutzlos.
Mittlerweile befanden sich schwarze, dicke Wolken über uns, die vermuten ließen, dass sich der Regen mindestens um das Doppelte vermehren würde. Die Blitze brachten für ein paar Sekunden Licht in die dunklen Wolken und wirkten durch die Schwärze, fast rosa. Fasziniert von diesen intensiven Farben, versank ich für kurze Zeit in Bewunderung und vergaß das Geschehen um uns herum.
Ich schreckte erst wieder auf, als der Motor viel zu laut aufheulte, die Reifen zu quietschen begannen, der Wagen sich schwungvoll in die Kurve legte und uns alle an die rechte Seite presste. In diesem Nerven zerreißenden Moment war ich dankbar, rechts von mir die Autowand gehabt zu haben. Das Auto wurde langsamer, meine Mutter entspannter und alle nahmen ihre ursprünglichen Platz wieder ein. Mum ließ den Wagen für einen Augenblick einfach rollen, schloss die Augen und seufzte. Als sie sich wieder gefangen hatte, gab sie ordentlich Gas und erreichte schließlich unsere gewohnte Geschwindigkeit.
Es dauerte keine zehn Minuten bis der Regen sich verabschiedete, die Blitze und der Donner verschwanden und die ersten Sonnenstrahlen auf die rutschige Fahrbahn fielen. Erleichtert diese Hürde hinter uns zu haben, lehnte ich mich nun selbst an die Fensterscheibe und schaute verträumt den Regentropfen beim Trocknen zu. Ruhig schloss ich die Augen und ließ die warmen Sonnenstrahlen auf mein müdes Gesicht scheinen.
Irgendwann musste ich darüber hinweg eingeschlafen sein und schreckte ganz verschlafen hoch, als mir lautes Hupen und der Lärm mehrerer, tausend Menschen in die Ohren drang. Verträumt beobachtete ich die hektisch, durch die Gegend stürmenden Leute, während wir im Stau an einer roten Ampel standen.
Ich erkannte das Modegeschäft um die Ecke und konnte mir ein Lächeln kaum verkneifen, als ich bemerkte, dass wir fast Zuhause waren. Ruhig lauschte ich nach den nervigen, schrillen Tönen von Tom´s Spiel, doch diese waren längst verstummt. Vorsichtig zog ich mich an seinem Sitz nach vorne und schmulte über die Lehne, um sehen zu können, ob er immer noch so eifrig dabei war. Wie ich, musste er über die Fahrt hin weg eingeschlafen sein und lag nun ganz seelenruhig auf seinem Sitz.
„Wie lange habe ich geschlafen?“
„Die ganze Fahrt über. Erstaunlich wie man so fest schlafen kann. Wir haben vier Mal angehalten, mehrere Essenspausen und Pinkelpausen eingelegt, aber du bist nicht einmal nur kurz wach geworden“, flüsterte sie und fuhr auf unsere Grundstücksauffahrt.
„Wie spät ist es?“
„22 Uhr“, murmelte Leandro gähnend und schnallte sich ab. Ich war kurz davor mit den Augen zu rollen, da ich von ihm überhaupt keine Antwort haben wollte, doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich mir ja sogar gewünscht hatte, dass er normal mit mir sprechen würde. Leise schnallten sich Mum und ich ab und stiegen zusammen still aus dem Wagen. Ich wollte weder Mia noch Tom wecken, schließlich hatte ich jetzt wirklich keine Lust mehr auf ihre nervigen Stimmen, Fragen und Kommentare.
Mia war nach einem Nickerchen sowieso immer ziemlich schlecht drauf und Tom hatte meiner Meinung nach, sowieso zu viel Energie. Mum lief auf unsere Eingangstür zu, schloss sie auf und winkte uns rein.
„Alex bringst du Mia in ihr Bett? Dann versuche ich Tom in sein Bett zu schleppen.“ Zögernd nickte ich, schnallte Mia ab und hievte sie behutsam auf meine Arme. Kurz blinzelte sie, doch als ich meine hohle Hand vor ihre Augen hielt, wurde sie wieder ruhig und schlief weiter. Langsam lief ich auf unser Haus zu und betrat endlich vertrauten Boden. Lächelnd atmete ich die stickige Stadtluft ein. Doch umso mehr ich von der stickigen Luft in meine Lungen dringen ließ, desto stärker bekam ich das Gefühl, mich irgendwann nach England sehnen zu können. Irgendwie hatte ich mir mehr positive Gefühle erhofft. Doch schon jetzt erinnerte ich mich wieder an all die Sachen, die ich nun wieder tun müsste. Tausend Hausaufgaben, Klausuren und Tests warteten auf mich. Hausarbeit und unnötige Regeln, die mich nur einschränken wollten. Die Luft wurde immer stickiger und die bekannte Umgebung fing an mich zu langweilen.
Sanft trug ich Mia die Treppen hoch und vergaß vorerst die unguten Gefühle. Ich bog in das zweite Zimmer, auf der rechten Seite ein und hörte wie mir dumpfe Schritte folgten. Nachdem sie mir auch in Mia´s Zimmer gefolgt waren, warf ich einen kurzen Blick über die linke Schulter und erhaschte einen ertappten Blick Leandro´s. Sachte legte ich Mia in ihr dunkles Bett und kuschelte sie ein, damit sie auch möglichst lange durchschlief. Meistens musste sich Mum mit dem quengeligen Kind rumschlagen, wenn sie mitten in der Nacht aufwachte. Doch wenn sie es mal überhörte, dann war bisher immer mein Vater eingesprungen und jetzt bekam ich die Befürchtung selbst Kinderwache übernehmen zu müssen. Verträumt ließ ich meine Blicke durch ihr Zimmer schweifen.
Die dunkelblauen und hellblauen Farben ließen nicht vermuten, dass dieses Zimmer einem Mädchen gehörte. Eigentlich legte ich nicht mehr viel Wert auf diese ganzen Klischees, aber dieses Zimmer konnte man aus jedem Winkel betrachten und trotzdem passte es nicht zu Mia. Sie liebte rosa, rot und violett, doch in diesem Zimmer befand sich nicht eine dieser Farben. Währen die Ärzte damals nicht so inkompetent gewesen, hätte Mia jetzt vielleicht ihr eigenes Prinzessinnen Paradies, aber vielleicht sollte sie einfach nicht so verwöhnt werden.
„Wo kann ich schlafen?“, riss mich Leandro´s dunkle Stimme aus den Gedanken und ließ die alten Erinnerungen verschwinden. Ich legte meinen Zeigefinger vor die Lippen und zog ihn aus dem Zimmer, damit wir Mia nicht störten.
„Gegenüber“, flüsterte ich, schaltete das Licht aus und schloss die Tür hinter uns.
„Und das Badezimmer?“
„Daneben.“
„Nacht”, sagte er knapp und trottete ohne weitere Worte in sein Zimmer. Ich war kurz davor gewesen ihm eine Antwort zu geben, aber er gab sich kaum Mühe ein Gespräch zustanden zu bekommen, also ignorierte ich es stur. Sollte er ruhig merken, dass ich in keinster Weise von seiner Gesellschaft begeistert war.
Von meinem kleinen Nickerchen im Auto war ich noch so angeschlagen, sodass ich meinen Koffer im Wagen fürs Erste vergaß und ein Stockwerk höher lief. Dort hatte ich mein eigenes Reich, so hatte es mein Vater immer genannt. Doch ich sah mein Zimmer im dritten Stock und das anschließende Badezimmer, einfach als die Räume an, die sie nun mal waren und machte kein großes Theater darum, wie toll es war, dass mich dort oben niemand störte. Immerhin stimmte es nicht mal. Oft genug wurde ich von den morgendlichen Aktivitäten meiner Geschwister geweckt und sehnte mich nach dem Leben als Einzelkind. Ich konnte gar nicht nachvollziehen warum immer alle rumheulten, wie langweilig es ohne Geschwister sei. Es war doch nicht langweilig, es war einfach nur absolut schön. Man musste sich nichts teilen, man hatte viel mehr und die Geschenke an Weihnachten und Ostern waren Berge.
Verträumt lief ich in mein Bad, ging zur Toilette und putzte mir danach die Zähne. Natürlich gab ich die Hoffnung nicht auf, irgendwann mein Spiegelbild wieder sehen zu können, doch auch dieses Mal starrte ich Nichts, außer den Dingen hinter mir, entgegen. Wer hatte sich diesen Schwachsinn eigentlich ausgedacht? Bei Geistern war das ja noch nachvollziehbar, immerhin waren sie nicht wirklich existent, was das Materielle zumindest anging, aber was hatten Vampire denn für ein Problem mit den Spiegeln? Seufzend band ich meine Haare fürs Schlafen zusammen, damit ich am nächsten Morgen nicht wie eine Hexe aussehen würde. Ich schreckte auf einmal hoch, als sich die Türklinke zu drehen begann und jemand an der Tür rüttelte.
„Einen Moment noch“, brüllte ich hektisch. Das Drehen wurde immer heftiger und je mehr die Klinke sich drehte, desto genervter wurde ich.
„Ja“, schrie ich nun und lief auf die Tür zu, um sie zu öffnen, doch gerade als ich das kalte Metall berührte, spürte ich warmen Hauch an meinem Nacken und ein leises Kichern, das mich daran hinderte.
„Lynn.“
„Natürlich wer sonst?“ Das sie mich aber auch jedes Mal in Badezimmern aufsuchen musste, als gäbe es keine anderen Räume in diesem Haus.
„Schön das du auch angekommen bist“, schnaufte ich, ließ die Klinke los und drehte mich zu ihr um.
„Hm.“
„Warum musst du ausgerechnet jedes Mal auftauchen, wenn ich im Badezimmer bin?“
„Hier ist es nicht so wahrscheinlich, dass wir gehört werden oder soll ich das nächste Mal mit am Frühstückstisch sitzen?“
„Ne lieber nicht“, lachte ich und stütze mich gegen die Wand, um nicht die ganze Zeit aus eigener Kraft stehen zu müssen. Trotz meines sehr langen Nickerchens war ich ausgesprochen müde und könnte schwören, sofort wieder einschlafen zu können.
„Wo ist Leandro?“
„Keine Ahnung“, zischte ich und ließ die Lachfalten aus meinem Gesicht verschwinden. Sie unterhielt sich noch keine zwei Minuten mit mir und schon wieder ging es nur um ihn. Konnte sie nicht einfach Mal nach nachfragen wie es mir ging? Oder wie die Fahrt war? Ich wollte nicht über ihn nachdenken, geschweige denn über ihn reden.
„Ihr seid zusammen hergekommen, natürlich weißt du wo er ist.“
„Such ihn doch einfach.“ Mit diesen knappen Worten verließ ich den Raum und stürmte in mein Zimmer. Hinter mir schlug ich die Tür zu und warf mich aufs Bett.
Ich war doch nicht die Auskunft, sie hatte alle Zeit der Welt, wortwörtlich, da konnte sie doch ein bisschen selbst suchen, so unübersichtlich war unser Haus auch wieder nicht. Vom Schließen meiner Tür hatte sie sich nicht beeindrucken lassen, stattdessen platze sie ungefragt in mein Zimmer und setzte sich auf den Stuhl an meinem Schminktisch. Die Beine legte sie ganz selbstverständlich auf den Tisch und begann sich leicht hin und her zu drehen.
„Also?“
„Woher willst du überhaupt wissen, dass ich ihn mitgenommen habe? Schließlich hab ich ihm gesagt, dass er bloß in England bei seiner Laureen bleiben soll.“ Sie begann herzlich zu lachen und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Fast schadenfroh strahlten mich ihre blauen Augen an und gaben mir das Gefühl, sie wüsste bereits alles.
„Du hättest ihn nicht da gelassen, das weißt du selbst. Und wenn er sich einfach umgedreht hätte und gegangen wäre, du wärst ihm hinterhergelaufen.“
„Ich laufe niemanden hinterher und erst recht nicht diesem Idioten. Irgendwann siegt auch mal mein Stolz“, verteidigte ich mich und richtete meinen Körper wieder auf, um wenigstens annähernd überzeugend zu wirken.
„Verwechsle bloß nicht die Realität mit deinen Wünschen.“
„Was?“
„Du wünscht dir doch nur, dass du ihn einfach so stehen lassen könntest, doch wir wissen beide, dass du das nicht getan hättest. Und du hoffst sogar immer noch, dass sich das, was du glaubst gehabt zu haben, wieder ergeben wird.“
„Sag mal geht’s dir noch gut? Der Typ kann mich mal“, zischte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Klar hatte sie in diese Moment recht, aber das wollte ich nicht zugeben. Immerhin war es völlig schwachsinnig daran zu glauben, es würde sich etwas ändern und jemanden hinterher laufen zu wollen, der sich so verhalten hatte und den man kaum kannte.
„Denk drüber nach, jemand muss dir ja mal die Wahrheit sagen. Ich werde ihn jetzt jedenfalls suchen.“
„Verschwinde bloß“, wollte ich ihr entgegnen, doch da war sie schon längst verschwunden.
Seufzend ließ ich meinen Blick schweifen und merkte, dass es mein Zimmer wirklich nötig hatte, mal wieder aufgeräumt zu werden. Am Tag unserer Abreise war ich sehr im Stress gewesen und deswegen sah mein Zimmer nun so aus, als hätte hier eine Horde Affen gewütet. Aber das war mir vorerst egal. Besuch erwartete ich nicht und wie es hier aussah, ging doch sowieso nur mich etwas an.
Zögernd griff ich nach meinem Handy und schaltete das Wlan ein. Endlich hatte ich die Zeit und genügend Internet, um meine Nachrichten beantworten zu können. Bereits nach wenigen Sekunden schien mein Handy explodieren zu wollen. Unzählige Nachrichten hinterließen erst ein leises Klingeln und erschienen dann auf meinem Bildschirm. Als die Nachrichten bei WhatsApp bereits über hundert waren, schaltete ich den Ton aus und legte es auf meinen Nachttisch. Ich hatte mit ein paar gerechnet, aber irgendwer musste es wirklich übertrieben haben. Auch wenn ich mir geschworen hatte sofort alle zu beantworten, einfach weil ich viel zu lange einen Handyentzug hatte durchstehen müssen, interessierten mich die Nachrichten plötzlich nicht im Geringsten.
Das waren nur bedeutungslose Worte von Leuten, die nichts außer den Beliebtheitsstatus und das Geld interessierte. Es war doch immer das Gleiche, Hallo, wie geht’s? Was machst du noch? Und im besten Falle, wie war der Urlaub? Selbst wenn ich auf die letzte Frage hätte antworten wollen, was hätte ich denn bitte schreiben sollen? Immerhin war das der beschissenste Urlaub den man sich wohl vorstellen konnte. Ich seufzte und ließ mich wieder in die Menge von Kissen fallen. Mit geschlossenen Augen tastete ich nach dem Lichtschalter, knipste das Licht aus, kuschelte mich in die Kissen und schmiegte mich eng an meine warme Decke. Mit geschlossenen Augen nahm ich tiefe Atemzüge und ließ den Geruch meines Zuhauses auf mich wirken. Den Geruch der Vertrautheit, der Geborgenheit und der Heimat.
Ungewohnte Stille umgab mich und ließ mich einsam fühlen. Ich musste über ihre Worte nachdenken und darüber wie recht sie hatte. Die ganze Zeit hatte ich erfolgreich verdrängen können, wie sehr er mir wirklich wehgetan hatte.
Irgendwas hatte ich immer zu tun gehabt und jetzt hatte ich plötzlich die Zeit und Ruhe nach der ich mich gesehnt hatte. Die Ruhe, die ich jetzt schon zu hassen anfing. Ich wollte nicht über ihn nachdenken, denn schon wenn ich sein Gesicht vor Augen hatte, liefen die ersten Tränen meine Wangen hinunter. Sie hatte Recht, auch wenn ich mir eingeredet hatte, das Auto nicht verlassen zu wollen, so hätte ich es spätestens dann getan, wenn es eigentlich schon zu spät gewesen wäre. Warum? Ich konnte doch unmöglich so sehr an einer Person hängen, die ich nur ein paar Wochen kannte, die mich so tief verletzt und enttäuscht hatte. Warum interessierte ich mich überhaupt für ihn? Sollte er mir nicht völlig egal sein, ja mir sogar auf die Nerven gehen?
Auch wenn ich es nicht gerne zugebe, so muss ich wohl gestehen, dass meine Tränen an diesem Abend nicht meinem Vater galten. Ich weiß, eigentlich hätten meine Gedanken um nichts anderes kreisen sollen, doch stattdessen spielten sich jegliche Szenarien von Leandro und mir in meinem Kopf ab. Szenarien die so nie passieren würden. Ich konnte mich noch genau an jedes seiner Worte erinnern und an jeden Ort wo wir gewesen waren. War das noch normal? Das konnte es kaum, wenn ich daran dachte wie wenig Gedanken ich an meinen eigentlichen Freund je verschwendet hatte. Meinen Freund, den ich weitaus länger kannte.
Eine Weile noch ließ ich mein Kissen in den Tränen ersaufen und schlief schließlich über mein Gegrübel hinweg ein.
Ich schreckte erst wieder hoch als die Tür aufgeschlagen wurde und der Junge vor Schreck zur Seite sprang. Mit aufsteigender Hitze lag ich im Bett und starrte mit weit aufgerissenen Augen die Decke an. Langsam wurde es echt eigenartig. Ungewöhnliche Dinge stempelte ich schon lange nicht mehr als Zufälle ab. Nein so langsam hatte ich erkannt, dass irgendwie alles eine Bedeutung hatte.
Dieser Traum, so eigenartig und bedeutungslos er auch schien, er versuchte mir etwas zu sagen. Irgendwann würde ich es wohl verstehen. Zum dritten Mal war ich nun an diesem Ort gewesen und hatte vollkommen verdrängt, dass es nicht die reale Welt war. Und jedes Mal war ich nicht weiter gekommen. Immer wieder wurde die Tür vor meiner Nase aufgerissen und die Person dahinter verschwand urplötzlich, so wie alles andere auch. Vielleicht sollte ich das nächste Mal auf den Jungen hören?
In der Dämmerung tastete ich nach meinem Handy, zog es zu mir und prüfte die Uhrzeit. Schnell kniff ich die Augen wieder zu, als das grelle Licht meine Augen erreicht hatte und versuchte blind die Helligkeit runter zu drehen.
Zwei Uhr Nachts. Seufzend deponierte ich es wieder auf dem Nachttisch und drehte mich zur Wand, um dem Mondschein, der durchs offene Fenster direkt auf mein Bett leuchtete, entkommen zu können. Viel zu viele Gedanken taten sich auf, die mich am Einschlafen hinderten. Ich fühlte mich hellwach und mein Gehirn ratterte. Immer wieder wälzte ich mich herum und hoffte irgendwann die richtige Position finden zu können, um endlich einzuschlafen.
Nachdem ich die Fugen an meiner Decke gezählt und mich gefühlte tausend Mal umgedreht hatte, gab ich es auf und verließ mein Bett.
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mir gar keine Schlafkleidung angezogen hatte, doch umso besser hatte ich es jetzt. Ich stellte mich ans offene Fenster und atmete die frische Nachtluft ein. Doch selbst um diese Uhrzeit war sie immer noch viel zu stickig. Dabei lebten wir gar nicht direkt in der City von Berlin, sondern eher am Rande.
Es lag ein sternenklarer Himmel über uns, der dem Mond die Gelegenheit bot, so kräftig wie schon lange nicht mehr, auf die Stadt hinab zu scheinen. Mondsüchtig lief ich auf und ab, überlegte ob ich mich alleine auf die dunklen Straßen Berlin´s wagen sollte.
Ich lachte leise, ich war ein Vampir, was sollte mir schon passieren?
Ohne weiter drüber nachzudenken, schnappte ich mir mein Handy, meine Kopfhörer und zog mir meinen grauen Wintermantel über. Dann schwang mir den molligsten Schal um, den ich finden konnte und schlüpfte in meine warmen Winterstiefel. Vielleicht etwas übertrieben für Mitte Herbst, aber das Thermometer zeigte nur frostige drei Grad an und versicherte mir, dass ich frieren würde. Leise nahm ich den Hausschlüssel und schlich mich aus dem Haus. Wenig ungeschickt stolperte ich über einen kaputten Ast auf dem Boden und fiel direkt in unsere Mülltonnen.
Das laute Scheppern hätte jeden bis nach England wecken müssen, doch zu meinem Glück schliefen in unserem Haus alle tief und fest. Schnell rückte ich die Tonnen zurecht und verließ in Windeseile unser Grundstück.
Mit lauter Musik lief ich über die einsamen Straßen und betrachtete den klaren Himmel. Ab und zu wich ich einen Schritt zur Seite und tanzte ganz verhalten im Takt der Musik. Die kalte Luft schmiegte sich immer enger an mich und brachte mich zum frösteln, weshalb ich meine Schritte fast verdoppelte.
Bis auf ein paar betrunkener und grölender Typen kam mir niemand entgegen. Gut so, ich hatte wirklich keine Lust auf Smalltalk mit irgendwelchen Leuten, die mir doch sowieso egal waren. Manchmal lief ich an ein paar defekten Laternen vorbei, die die Straße noch dunkler werden ließen. Doch selbst diese Dunkelheit konnte mich nicht mehr ängstigen. Vielleicht lag es daran, dass ich das Gefühl hatte mich vor Gefahr schützen zu können, vielleicht aber lag es auch an den Erinnerungen. So viel Schlimmeres konnte mir kaum passieren. Hier waren schließlich keine Vampire, keine Grafen und keine komischen Panuletas. Eine Weile noch tanzte ich über den Asphalt und sang den Text meiner Lieblingslieder mit. Durchs schnelle Laufen war mir mittlerweile warm geworden und ich spürte wie in mir die Lust aufkam, durch die Gegend rennen zu wollen. Immer wieder sah ich mich um und rannte dann ein paar Meter, um meine plötzliche Energie loswerden zu können.
Nachdem ich mir eine kleine Pause gönnte und wieder langsamer wurde, tauchten hinter mir plötzlich dunkle Schatten auf. Schnell zog ich die Kopfhörer aus meinem Handy und lauschte den Schritten hinter mir. Doch immer wenn ich einen kurzen Blick über meine Schulter wagte, waren sie wieder verschwunden. Ich wurde zunehmend unruhiger und stolperte nun über den grauen Asphalt. Immer wieder wich ich den bunten Kaugummis auf dem Boden aus und hoffte aufgrund meiner Unaufmerksamkeit, nicht doch irgendwann meine Schuhsohlen an einem abzuwälzen zu müssen. Die vermeintlichen Schritte und Schatten hinter mir wurden immer vereinzelter, desto näher ich dem Friedhof kam.
Was auch immer mich zu diesem Entschluss trieb, musste meinen Verstand ausgeschaltet haben. Knapp vor dem Friedhofseingang befand sich eine graue Bank, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Fast automatisch trugen mich meine Beine dort hin und ich setzte mich in den Himmel starrend, als wäre ich mit jemanden zusammen hier. Eine Weile betrachtete ich nur den Mond und die um ihn herum angeordneten Sterne, bis ich eine Sternschnuppe zu Boden rasen sah. Erschrocken von diesem Zufall, bei Vollmond eine Sternschnuppe sehen zu können, schloss ich die Augen und ließ meine ersten Gedanken einen Wunsch formulieren. Hätte ich zwei Mal über meinen Wunsch nachdenken können, hätte ich mir vielleicht gewünscht meinen Vater als Geist wiedersehen zu können oder etwas, das ansatzweise realistisch klang... nun gut gerade realistisch klang der Wunsch nach meinen geisterhaften Vater auch nicht, aber mit meinem Wissen war es das doch irgendwie möglich.
Aber so blöd und voreilig wie ich nun mal war, hatte sich mein Unterbewusstsein ohne irgendwelche Vereinbarungen etwas ganz Unmögliches gewünscht. Ich schämte mich beinahe, dass ich nicht zuerst an meinen Vater gedacht hatte, wäre das nicht eigentlich normal gewesen? Nein stattdessen musste ich mir ausgerechnet wünschen, Leandro und ich würden uns wieder versöhnen. Utopisch! Das konnte selbst das Universum nicht mehr gerade biegen. Zumal ich das ja eigentlich nicht mal wollen sollte.
Ruckartig drehte ich mich um, als ich ein Knistern aus dem Busch hinter mir vernahm. Aus dem dunklen Gestrüpp kam ein blonder Engel direkt auf mich zugelaufen und setzte sich mit einem gequälten Lächeln neben mich. Lynn´s Gesicht war völlig verweint, die Tränen waren auf ihrer zarten Haut getrocknet und hatten leichte, helle Linien hinterlassen. Nicht lange richtete ich meine Augen auf sie, stattdessen starrte ich wieder zum Mond, der uns mit seinem Licht komplett eingehüllt hatte.
Ich sprach sie nicht auf ihr offensichtliches Drama an, da sie beim letzten Mal auch nicht darüber hatte reden wollte und ich in diesem Moment viel zu egoistisch gewesen war, um mich jetzt mit den Sorgen anderer auseinander setzen zu können. Wenn ich das Mondlicht, den klaren Himmel und die wenigen, sich im Wind wiegenden Bäume betrachtete, dann machte sich in mir ganz leicht das Kribbeln vom Anfang breit. Unweigerlich musste ich an ihn denken und wie magisch sich unser erster Kuss angefühlt hatte. Doch nur für einen Moment, dann kamen die schlechten Erinnerungen wieder zum Vorschein, das Kribbeln verschwand und an seiner Stelle wurde mir ganz übel. Gerade wollte ich mich doch noch nach Lynn´s Problemen erkundigen, da stellte sich eine dunkle Gestalt direkt in das Licht. Die Kapuze weit ins Gesicht gezogen und zu Boden starrend, stand er vor mir und brachte mich zu grübeln.
Der Unbekannte entfernte die Kapuze von seinen verstrubbelten, braunen Haaren und plötzlich funkelten mir zwei vertraute, braune Augen entgegen. Mir stockte der Atem, als ich ihn erkannte.