Warum bin ich nicht vorher drauf gekommen? Sie alle. Sie alle waren Werwölfe, aber was hatte ich schon mit Werwölfen am Hut? Doch eigentlich nichts oder? Ein Augenschlag verging, ehe sie ihre Menschengestalt verließ und in die eines Wolfes schlüpfte. Bedrohlich riss sie das Maul auf und fletschte die Zähne, um mich einschüchtern zu können. Und es funktionierte. Die Vermutung, dass Leandro sie nicht einmal sehen konnte, ließ mich zunehmend unruhig werden. Knurrend stolzierte sie auf mich zu und riss immer wieder ihr Maul auf, um danach die Zähne mit voller Wucht aufeinander zu schlagen.
„Leandro“, flüsterte ich und stolperte rückwärts in seine Arme.
„Was denn?“ Noch bevor ich antworten konnte, machte sie einen Sprung auf uns zu. Sie verfehlte uns ganz knapp nicht und bohrte ihre scharfen Krallen in mein Handgelenk. Als sich unsere Blicke trafen, verschwand sie in Windeseile, als hätte ich für kurze Zeit erkennen können, wer sie wirklich war. Keuchend drehte ich mich zu ihm um und vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Was zur Hölle war nur los mit mir? Hatte ich den Verstand verloren? Ängstlich drückte ich ihn immer enger an mich. Doch als ich seine beruhigende Hand, streichelnd auf meinem Rücken bemerkte, erinnerte ich mich an meinen Vorsatz, stieß ich mich weg von ihm und fuhr mir durch die Haare, in der Hoffnung meine Fassung wieder finden zu können. Zögernd schob ich den Saum meiner Jacke nach oben und zuckte zusammen, als ich an meinem Handgelenk zwei kleine Kratzer bemerkte. Sie waren nicht tief und sie waren nicht lang, aber sie waren da. Wieso waren sie da? Es passierte also doch nicht in meinem Kopf? Warum hatte ich dann den anderen Wölfen entkommen können? Hatten sie mich gehen lassen? Realität, Traum und Wahnsinn vermischten sich zunehmend und gaben mir das Gefühl, alles könnte passieren. Obwohl sie verschwunden war, wollte die Unruhe in mir nicht gehen.
„Alles okay?“, fragte er besorgt, während wir in den Bus stiegen und ich zwei Kurzstrecken kaufte.
„Bestens.“ Mit diesen Worten suchten wir uns zwei Plätze, fast am Ende des Busses und setzten uns. Genervt von seinen Fragen, lehnte ich meinen Kopf ans Fenster und betrachtete die vorbeiziehenden Gebäude. Ich wusste schon jetzt, dass ihm meine Antwort nicht reichen würde, aber ich konnte ihm wirklich keine Erklärung für irgendwas geben, selbst wenn ich wollte. Ich musste meine Gedanken erst mal selbst sammeln und versuchen zu verstehen, was gerade passiert war. Auch wenn ich mich immer noch gegen seine Anwesenheit sträubte, so war ich froh, ihn jetzt bei mir zu haben. Ich wollte nicht alleine sein und ein wenig Alltagsstress würde mir wohl nur gut tun.
„Hast du... etwas... also gesehen oder so?“, fragte er vorsichtig und war dabei ganz einfühlend. Er versuchte seine Besorgnis zu verbergen, doch bei diesen Worten zitterte seine Stimme so sehr, dass ich sie nicht überhören konnte. Vielleicht hatte er Antworten auf meine Fragen, aber wenn er schon bei seinen Vermutungen so besorgt klang, dann wollte ich die Wahrheit wahrscheinlich nicht einmal wissen.
„Nein mir wurde einfach nur schwindelig“, log ich und seufzte. Ich wollte einfach mein Leben zurück. Mein Leben mit meinem Vater und ohne ihn. Das redete ich mir zumindest ein. Doch wenn ich wirklich ehrlich war, dann merkte ich, dass ich nur ihn wollte. Nicht mehr, nicht weniger.
„Schwindlig?“
„Passiert. Ich habe heute Morgen nicht besonders viel gegessen, da kann das schon Mal vor kommen.“
„Hm, wenn du meinst“, murmelte und setze seinen grübelnden Blick auf. Ich hätte wetten können, dass er den angeblichen Schwindel auf das Blut schieben würde. Immerhin sind seit meiner,... so zusagenden Verwandlung, schon ein paar Tage ins Land gestrichen, wo ich mich davor drücken konnte. Ich weiß nicht was es war, aber irgendetwas sagte mir, dass es nicht das Blut sein konnte. Mag sein, dass es meinen Zustand vielleicht nicht unterstützte, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass es die Ursache, für diese, doch äußerst realen Halluzinationen war. Immerhin hatte er von diesen „Nebenwirkungen“ noch nie gesprochen.
Die restliche Busfahrt verbrachten wir im Schweigen und stiegen dann fast zu spät, mitten in der Stadt aus. Ohne Erklärungen steuerte ich den nächsten Buchladen an und suchte dort nach den Schulbüchern. Sie hatten nicht viel vom Schulstart übrig und so musste er sich vorerst mit zwei Büchern zufriedengeben.
„Hallo, die Zwei, die anderen haben Sie nicht mehr da oder?“, fragte ich und bekam nur ein entschuldigendes Kopfschütteln. Da wir die Leute aus Freundeskreisen gut kannten, wussten sie natürlich welche Schule ich besuchte und welche Bücher ich dafür benötigte. Daher war es nicht nötig irgendwelche ISBN Nummern anzugeben. Es war nicht verwunderlich, dass die Schulbücher bereits schon alle aufgekauft waren. Für mittlerweile Ende Herbst war ich sehr erstaunt, dass es überhaupt noch welche gab.
Da meine Schule sich noch nie mit billigen Büchern zufrieden gegeben hatte, durfte ich saftige 60 Euro hinblättern, aber das schmerzte nicht besonders, immerhin war es das Geld meiner Mutter.
„Sie wissen ja, die anderen bestellen Sie einfach auf den Namen Lang.“
„Natürlich“, lachte er und schrieb einen Zettel für seinen Kollegen, während er uns noch einen schönen Tag wünschte. Als wir den Laden verlassen hatten, bogen wir links in eine enge Straße ab und schlenderten durch die Gegend. Zwei Bücher und dafür 60 Euro. Abzocke!
Die restlichen zwei Stunden verbrachten wir damit das Nötigste für die Schule zu besorgen. Außerdem sahen wir uns nach ein paar Klamotten für ihn um und hatten letztendlich einen Haufen von Tüten zu tragen. Da ich Modegeschäften nur schwer entkam, zückte ich die Kreditkarte öfter als gewollt und kaufte ebenfalls ein paar Sachen. Mir war nicht ganz wohl dabei, wenn ich sah welche Beträge von meinem Konto abgehoben wurden, aber ich tröstete mich damit, dass meine Mutter mir den größten Teil wieder geben würde. Nachdem wir aus dem letzten Geschäft kamen, beschlossen wir uns eine Pause zu gönnen und setzten uns in ein Café. Zusammen betraten wir den warmen Raum. Schon in der ersten Sekunde strömte uns der Geruch von frisch gemahlenen Kaffee und leckerem Gebäck entgegen. Eine Priese von Zimt lag auch in der Luft, die mich an Weihnachten erinnerte.
Durch das viele Einkaufen hatte ich wieder erwartend gute Laune bekommen und hatte tatsächlich Momente erlebt, in denen Leandro und ich ungezwungen zu lachen anfingen. Wir bestellten bei einer jungen Frau, die uns schon nach wenigen Minuten Kaffee und Kuchen brachte.
„Und wo für brauche ich das Zeug jetzt?“, fragte er, während wir uns in eine Ecke setzten, in der das grelle Licht nicht allzu aufdringlich schien.
„Um so zu tun, als wärst du in irgendeiner Art und Weise vorbereitet. Eigentlich ist es eh nur Geldverschwendung, denn wir nutzen die Bücher fast nie, aber was solls.“
„Schwachsinnig, aber so sind die Menschen wohl.“ Was wollte er mit dieser Äußerung schon wieder sagen? Ich weiß, vielleicht nahm ich seine Worte zu sehr unter die Lupe, aber ich bekam das Gefühl, dass er die Menschen gar nicht leiden konnte. Immer wieder hörte ich diese Bemerkungen am Rande eines Gespräches und fragte mich, ob er sich vielleicht als etwas Besseres fühlte und sich über sie stellen wollte. Klar sie hatten keine besonderen Fähigkeiten und die gesamte Menschheit könnte man wohl wirklich als dumm bezeichnen, aber wir hatten doch auch unsere Fehler. Er sollte bloß nicht den Mund so weit aufmachen, immerhin hatte er in der Vergangenheit so einiges falsch gemacht.
„Was soll das schon wieder heißen?“
„Schon wieder? Du musst ja nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.“
Noch bevor ich mir ein entkräftendes Argument überlegen konnte, riss uns ein schriller Schrei aus dem Gespräch und zog die komplette Aufmerksamkeit des kleinen Cafés auf sich. Als ich das braunhaarige Mädchen erkannte, war ich kurz davor, den ersten Schluck meines Kaffees wieder über den Tisch zu verteilen. Musste das jetzt wirklich sein? Würde es nicht reichen, sie in der Schule miteinander bekannt machen zu müssen? Ich seufzte und zwängte mich aus der Ecke, um ihr in die Arme zu fallen. Anne, meine angeblich beste Freundin, stand nun vor mir und drückte mich so eng an sich, dass ich das Gefühl bekam, ersticken zu müssen.
„Was machst du denn hier?”, quietschte sie ganz aufgedreht und warf ihre glatten Haare nach hinten, während sie mir endlich wieder Platz zum atmen gab. Freudig blitzten mir ihre grünen Augen entgegen, die anscheinend viel zu berichten hatten.
„Wir trinken Kaffee, wie man das in einem Café wohl so macht“, antwortete ich seufzend und konnte mich endgültig aus ihren Armen befreien. Schrilles Lachen ertönte und brachte die Leute im Café nicht dazu, ihre Blicke von uns abwenden zu können. Bisher hatte ich ihr ihre Lache immer abgenommen, doch wenn ich sie hier so stehen sah und über meine Worte nachdachte, dann merkte ich, wie fake sie wirklich war.
„Deinen Humor hast du in den zwei Wochen nicht verloren. Du bist doch aber bestimmt nicht nur wegen einem Kaffee hier oder?“, quietschte sie schmunzelnd, legte ihren Kopf in Leandro´s Richtung und begann zu kichern. Ganz genau musterte sie ihn und überlegte wohl möglich, ob er für sie in Frage käme. Merkwürdig lächelte sie ihn an. Anscheinend war sie wirklich angetan von ihm. Na super, das könnte ja was werden.
„Nein, eigentlich bin ich hier, um Schulsachen für meinen Bruder zu besorgen.“
„Was?“
„Er kommt auf unsere Schule.“
„Tom? Der ist doch viel zu jung für unsere Schule.“
„Ja nicht der.“
„Hä wer denn sonst.“
„Mein verschollener Bruder aus England“, rief ich nun lauter, damit sich Leandro endlich von seinem Bildschirm lösen konnte und sich zu uns gesellte. Es war wirklich ein Kopfnicken nötig, damit er zu uns kam und Anne ihm gleich überschwänglich in die Arme fallen konnte. Sichtlich verwirrt runzelte Leandro die Stirn und blickte mir hilfesuchend entgegen. Ich konnte allerdings nur schmunzeln und verschränkte die Arme vor der Brust, um zu sehen, wie er mal eigene Lösungen fand. Immerhin verlangte er das ja auch von mir, auch wenn man das vielleicht nicht so ganz vergleichen konnte.
„Hey ich bin Anne, ihre BFF.”
„Ähm...Leandro, Bf... was?“
„Best Friends Forever, schon mal was davon gehört? Oder lebst du in der Steinzeit?”, lachte sie und wischte sich eine, nicht vorhandene Träne von der Wange. Was soll ich dazu noch sagen? Absolut fake.
„Kann ich trotzdem nicht viel mit anfangen.“
„Wo hast du den denn bitte aufgetrieben? Wenn er so was nicht mal kennt, das ist doch international.“ International, bestimmt. Da ich mir gut vorstellen konnte, dass sich Anne gleich an ihn ran machen würde, einfach weil sie nun mal Anne war, versuchte ich ihn mit allen Möglichkeiten loszuwerden.
„Aber er wollte sowieso gerade gehen.“
„Wirklich? Er kann doch ruhig noch bleiben, dann kennt er zumindest schon jemanden.“ Ich glaube auf deine Bekanntschaft kann er sehr gut verzichten.
„Er hat noch ein paar Sachen zu erledigen, du siehst ihn ja in der Schule wieder.“
„Das hoffe ich wohl.“
„Nicht wahr? Du musst los?“, fragte ich mit Nachdruck und blickte ihm auffällig in die Augen, bis er meine Aufforderung verstand und sich seine Jacke überwarf.
„Hier. Du steigst einfach in den 102er ein und fährst dann 5 Stationen, den Rest des Weges solltest du kennen. Falls nicht, komm hier her zurück”, schlug ich vor und schob ihn in Richtung Tür, während ich ihm alle Einkaufstüten aufdrückte.
„Glaub mir ich werd`s schon finden.“
„Sei dir da mal nicht so sicher, das ist Berlin und kein Dorf.“
„Vampirische Intuition.“
„Nicht dieses Wort und nicht hier, was sollen die Leute denken?“, zischte ich und schlug ihm gegen die Schulter, während er die Türschwelle überschritt.
„Humor hat er”, lachte Anne und setzte sich an den Tisch, wo Leandro und ich vorher gesessen hatte.
„Bruder?”
„Er ist von Zuhause ausgerissen, wie man so schön sagt. Keine Ahnung warum er ausgerechnet jetzt wieder kommen musste, dann habe ich ihn eben an der Backe...”
„So schlimm wird er schon nicht sein“, entgegnete sie schwärmend und fing an mit ihren Haaren zu spielen.
„Wenn du wüsstest.“
„Wie alt ist er denn?“
„Etwas älter als ich.“ Etwas älter ist gut, nur ein knappes Jahrhundert, nicht der Rede wert.
„Er sieht nicht übel aus, hat er eine Freundin?“
„Ja, also... na ja keine Ahnung, ich sehe da sowieso nicht sonderlich durch. Wir haben jetzt nicht so ein inniges Verhältnis, dass er mich über sein Liebesleben aufklärt. Ich weiß nur, dass er ein verdammt, untreues Arschloch ist”, log ich und nahm einen Schluck meines Kaffees, damit ich nicht noch viel ausfälliger wurde. So viel log ich ja gar nicht, ein Arschloch war er wirklich.
Hab ich es nicht gesagt? Ich wusste, dass sie sich an ihn ran machen würde. Gott das könnte ich nicht ertragen! Wenn auch nur auf die Idee kommt, irgendetwas mit Anne anfangen zu wollen, dann schwöre ich bei Gott, schmeiße ich ihn raus!
„Wie war es eigentlich in Transsylvanien, biste einem gut aussehenden Vampir über den Weg gelaufen?”, lachte sie und schob sich das letzte Stück ihres Donuts in den Mund. Welche Ironie doch aus ihrem Mund kam. Das was sie für unsinnigen Humbug hielt, war nun mein brandneues Leben. Ich zuckte nur mit den Schultern und pustete mir eine Locke aus dem Gesicht.
„Das war übrigens England.“
„Ist doch das Selbe, warst du wenigstens mal ordentlich Schoppen? Dein Kleiderschrank hätte es jedenfalls nötig“, lachte sie und warf mir herabwürdigende Blicke zu, die ganz meinem Pullover gelten sollten. Genau jetzt machte sie Laureen wirklich große Konkurrenz. Das würde eine wirklich anstrengende Zeit werden. So ein verlogenes Miststück ertragen zu müssen und sich das Haus mit dem behindertsten Vampir teilen zu müssen, den man sich nur vorstellen konnte. Wenn die irgendwas mit einander haben, dann raste ich so was von aus, dann kann ich für nichts mehr garantieren. Schon alleine bei dem Gedanken daran, dass sie die ganze Zeit in der Schule mit ihm flirten wird, könnte ich kotzen.
Doch jetzt blieb mir erst mal nichts anderes übrig, als ihr nur stillschweigend entgegen zu grinsen. Wie ich ihre herabwürdigende Art so gar nicht vermisst hatte. Sie konnte und wollte es einfach nicht lassen, jeden um sich herum runter machen zu müssen. Keine Ahnung was ihr das brachte, aber es verdammt nervig.
„Es gab schon Besseres.“
„Besseres? Ich will dich ja nicht unnötig dran erinnern, aber dein letzter Urlaub in Norwegen, ist doch wohl kaum zu toppen.“ Oh doch irgendwie schon. Gut ich muss wohl zugeben, dass die Betten dieses Mal nicht halb verschimmelt gewesen waren und dass das Dach komplett gewesen sein musste, aber bei allem was dort passiert war, muss der Urlaub in Norwegen das reinste Paradies gewesen sein.
„Na ja es war ziemlich kalt und es gab kein Netz. Ewige Wanderungen durch Wälder und ich hatte das exklusivste Zimmer, mit dem Blick auf den Friedhof.“ Auch wenn ich Anne plötzlich mit anderen Augen sah, hätte ich ihr gerne die Wahrheit erzählt. Mich bei ihr aus geheult, weil Leandro so ein beschissenes Arschloch gewesen war und von meiner Angst bezüglich der Schwindelattacken erzählt. Warum ausgerechnet ihr? Wem auch sonst? Nicht das ich einsam war, nein das bei Weitem nicht, aber vielleicht war sie die Einzige, die es verstanden hätte, immerhin kannten wir uns seit der Grundschule.
„Wanderungen? Gott ich glaube ich wäre freiwillig ins Heim gegangen.”
„Sicher doch, ich denke aber nicht, dass die einen ohne triftige Gründe aufnehmen. Nicht mit unseren Sechzehn.“
„Ohne triftige Gründe? Mäuschen du sprichst von wandern, wenn das kein Grund ist, dann weiß ich auch nicht.“ Na gut vielleicht wäre sie doch nicht die beste Person dafür...
„Natürlich, wenn du das sagst.“
„Du glaubst gar nicht wie wunderschön Barcelona ist. Ich würde alles dafür geben, wieder dort sein zu können.“
„Ich kanns mir vorstellen.“
„Eineinhalb Wochen am Strand, in der Sonne und ich muss zugeben, Spanier sind gar nicht so hässlich.“ Toll dass sie so einen schönen Urlaub hatte, nein ich wollte nicht mit ihr tauschen. Mir ging es doch blendend, ich hatte nur keinen Vater mehr, der Typ der mir irgendwie mein Herz gestohlen hatte, war plötzlich mein angeblicher Bruder, tja und ich war zu einem monströsen Vampir geworden, aber sonst ging es mir fantastisch. Ach und als Bonus gab es noch Schwindelattacken gratis dazu!
„Aber du bist doch wohl nicht...“
„Nein, ich habe Nicolas nicht betrogen.“ Ich riss meine Augen weit auf und blickte ihr auffordernd entgegen, mir die Wahrheit zu sagen. Natürlich wusste ich genau wann sie mich anlog und gerade jetzt, schien es so zu sein. Auch wenn sie Geschichten gut mit verschönernden Details ausschmücken konnte, so war sie eine verdammte Niete, was verheimlichen von Dingen anging. Jedes Mal warf sie unbeabsichtigt und viel zu offensichtlich ihre Hand nach hinten, mied den sonst so auffälligen Augenkontakt und sprach plötzlich ganz leise, um ihre Unsicherheit verbergen zu können.
Ich muss zugeben, dass ich das nervige Starren von ihr hatte. Keine Ahnung was wir uns davon versprachen, aber immer wenn uns jemand Unbekanntes über den Weg lief, suchten wir zuerst Augenkontakt, den wir ungewöhnlich lange aufrecht erhielten. Wenn man genau drauf achtet, dann meiden die meisten Leute längeren Augenkontakt. Warum? Wahrscheinlich weil wir alle genügend Geheimnisse haben, die keiner erfahren sollte. Was auch immer Anne sich damals dabei gedacht hatte, ich war nur ihr Echo gewesen und hatte es ihr gleich getan, doch jetzt war es verdammt schwierig sich das wieder abgewöhnen zu können.
„Komm, erzähl mir keinen Schnee, ich weiß genau dass du lügst.“
„Ich lüge nicht!“, entgegnete sie hastig und ließ ihre Stimme dabei zwei mal höher klingen.
„Wir kennen uns schon so lange, ich weiß genau wann du lügst!“
„Na gut, aber schwör` dass du schweigst.“ Lachend nickte ich nur und hielt Mittelfinger und Zeigefinger hin, während ich die anderen Finger, meiner linken Hand, unter dem Tisch kreuzte.
„Na gut, da ist nicht viel gelaufen. Nur er war so charmant und diese Augen...“
„Anne?“
„Was?“
„Was ist da gelaufen? Mehr als ein Kuss?“ Entsetzt sah sie mich an und spukte mir fast ihre Limonade entgegen.
„Nein, ich bin doch keine Hure!“
„Ist ja gut, reg dich nicht so auf, man muss ja fragen.“
„Schätzchen wenn du irgendetwas davon Nicolas erzählst, setz ich einen Killer auf dich an.“
„Ja ja keine Sorge, dein Urlaubsdrama wird bei niemanden Gehör finden“, brummte ich und kippte den letzten Schluck meines Kaffees hinter.
„Gut so.“
„Also? Wie habt ihr euch kennengelernt?“
„Ach ich saß nur an einer Bar und da hat er mich angesprochen. Erst haben wir nur ein wenig geflirtet und ich nahm seine Schmeicheleien nicht ernst, aber als er mich nach einem Date fragte, konnte ich nicht widerstehen...“, begann sie und verfiel in ewige Schwärmerei, der ich schon lange nicht mehr zuhörte.
Draußen hatte es bereits zu Nieseln angefangen und der leichte Wind von vorhin, musste sich vervierfacht haben. Gewaltsam preschten ein paar Äste gegen die Fenster des kleinen Cafés und ließen einen die Wärme und Trockenheit noch mehr wertschätzen. Mich schüttelte es bei dem Gedanken, nach draußen gehen zu müssen. Doch Anne zwang mich dazu. Ihre Erzählungen schweiften immer weiter ab und erinnerten mich an all die Sachen, die ich nicht hatte.
„Okay ich muss jetzt gehen, ich sage der Kassiererin Bescheid.“ Nachher brauchte ich eine verdammt gute Ausrede, um Anne entkommen zu können. Sie würde mich überreden wollen zu ihr nach Hause zu gehen. Doch darauf konnte ich gut verzichten.
Als ich mit einem Kellner wieder kam, stand sie bereits angezogen vor uns und hatte ihren Geldbetrag bereits auf den Tisch gelegt. Mit ganz vernünftigen Trinkgeld verabschiedeten wir uns und zogen dann auf die nassen Straßen. Das Wetter hatte uns nicht den Gefallen getan, bei leichtem Nieselregen zu bleiben, nein stattdessen hatte es in Strömen angefangen zu regnen. Die Luft erschien auf einmal ganz leicht und sauber, so als hätte der Regen jegliche Abgase einfach weggespült.
Die Kapuze dicht ins Gesicht gezogen, zusammengekauert unter einem Schirm, trotzdem wir dem starken Wind und machten uns zur nächsten Haltestelle auf.
Nachdem wir etlichen Pfützen ausgewichen waren, kamen wir endlich unter dem kleinen Dach der Bushaltestelle an und konnten verschnaufen.
„Alex?“
„Ja?“, fragte ich misstrauisch, als sie mich mit so eigenartigen Blicken musterte und ihre Augen von meinem Gesicht nicht abwenden konnte.
„Hast du deine Schminke eigentlich in Transsilvanien verloren?“
„England.“
„Wie auch immer, sieht ja grausam aus.“ Verdammt ich war kurz vorm Durchdrehen. Dieses arrogante, egoistische Miststück! Sollte sie sich doch mal ohne Spiegel schminken! Make-up war doch nicht alles.
„Ich wollte mal einen anderen Look ausprobieren.”
“Pennerlook oder was?”, kreischte sie hysterisch und wir stiegen in den Bus. Wütend begann ich meine Hände zu kneten. Okay verlier jetzt bloß nicht die Fassung!
„Wirklich witzig.“
„Du könntest noch zu mir kommen, dein Gesicht schreit doch schon förmlich nach meinem Make-up.“
„Danke echt tolles Angebot, aber ich denke ich muss nach Hause. Leandro braucht noch ein bisschen Hilfe.“
„Wo bei denn?“
„Ähm nur bei der Anmeldung in der Schule.“
„Ich könnte doch mitkommen.“
„Bestimmt, aber mach das lieber ein anderes Mal, er will erst Mal in Ruhe ankommen, du kannst ihn ja dann in der Schule nerven.“
„Na gut, wir treffen uns doch aber bestimmt noch bevor die Schule wieder anfängt oder?“ Verlegen nickte ich und suchte in meinen Gedanken nach einer Ausrede, die mich die letzten Tage vor ihr bewahren würde.
„Mal sehen, ich muss auf jeden Fall morgen auf meine Geschwister aufpassen.“
„Dann komme ich zu dir.“
„Wir können ja noch schreiben“, schlug ich vor und drückte den Stoppkopf schon viel zu früh. Hatte ich ein Glück, dass Anne ein paar Straßen vor mir wohnte, so könnte ich wenigstens die letzten drei Stationen in Frieden verbringen.
„Wenn du mir dann antwortest.“
„Natürlich, wie gesagt in England gab es weder Netz noch Wlan und wir sind erst gestern Abend nach Hause gekommen.“
„Ja und?“
„Ich hatte noch nicht die Zeit dafür, außerdem ist mein Handy bei den ganzen Nachrichten ziemlich überlastet.“
„Wie auch immer, schau rauf, ich schreib dir. Wir sehen uns.“ Mit einer flüchtigen Umarmung war ich sie los und lehnte glücklich meinen Kopf an die Fensterscheibe.
Ich war so sehr in Gedanken und meiner Musik versunken gewesen, dass ich beinahe die Station verpasst hätte und nur knapp aus dem Bus stürmen konnte. In zügigen Schritten lief ich nach Hause und verfluchte mich dafür, nicht so vorbereitet wie Anne gewesen zu sein und meinen Schirm im Trockenen gelassen zu haben. Gnadenlos fielen die Regentropfen auf mich hinab und tauchten mich schon nach kurzer Zeit eine unangenehme Nässe. Auf halber Strecke spürte ich plötzlich einen leichten Schwindel, der mich schneller laufen ließ. Nein bitte nicht schon wieder. Momentan konnte ich Vieles nicht gebrauchen, aber einen weiteren Ohnmachtsanfall, inklusive Werwölfen, die doch nicht so wirklich da waren, erst recht nicht. Ich fing an zu rennen und hoffte ich würde es nach Hause schaffen, bevor ich wieder diese eigenartigen Bilder vor mir hätte und plötzlich ganz woanders aufwachen würde. Doch der Schwindel überfiel mich und schon nach wenigen Schritten verließen die Farben meine Augen und ich konnte meine Umwelt nur noch mithilfe von schwarz-weißen Umrissen, wahrnehmen.
Hitze stieg in mir auf, Übelkeit machte sich breit und irgendetwas lag so schwer in meiner Kehle, dass ich kaum noch atmen konnte. Schnell hockte ich mich hin und hoffte die drehenden Bilder würden bald aufhören. Als würde ich in einem Karussell sitzen, drehte sich alles schneller und schneller, um mich herum, bis ich nur noch diese gelben Augen erkennen konnte. Panikattacken drangen in meinen Kopf, als ich die Vermutung aufstellte, bald wieder auf der Straße aufwachen zu müssen. Das Schwindelgefühl bestärkte meine Übelkeit nur und ich spürte, wie ich bereits jetzt kurz vor dem Punkt war, mich übergeben zu müssen. Mein Körper fing an zu zittern, die Hitze verließ mit einem Mal meinen Körper und statt ihrer, legte sich eisiger Wind auf meine nackte Haut.
Die gelben Augen wurden immer größer und schon nach wenigen Augenblick saß ich in einem Meer aus tausend gelben Augen. Durchdringend starrten sie mich an und warteten auf den Moment, an dem sie über mich herfallen könnten.
Vergebens suchte ich nach einer Lösung. Sie waren so viele und ich zweifelte daran, dass ich sie alle loswerden könnte, dass ich stärker als sie wäre, auch wenn sie sich eigentlich nur in meinem Kopf befanden.
Ängstlich schaute ich auf und starrte dem Anführer von allen, versehentlich in die Augen. Sein Gelb leuchtete stärker, als das der anderen und mitten auf seiner Regenbogenhaut befand sich ein orangener Kreis, der dem darunterliegenden Gelb, einen bedrohlichen Anschein verschaffte. Ich hatte versucht diesen Augen zu entkommen, doch wie bei diesem Monster aus dem Wald, zu Beginn dieser eigenartigen Reise, konnte ich ihnen einfach nicht entkommen. Sie zogen mich magisch an und nahmen mir für einen Moment die Gedanken. Ihnen kam ich immer näher und spürte plötzlich den Wunsch danach, in ihnen verschwinden zu können. Meine Umgebung blendete ich aus und legte meine gesamte Konzentration nur auf diese bedrohlichen Augen. Bedrohlich und doch verlockend. Bis ins Verderben verführerisch.
Beinahe hätte ich mich ihnen hingegeben, wäre in sie eingetaucht und wäre vielleicht in eine Welt gelangt, die ich mir noch nicht einmal vorstellen konnte, doch ein Schrei in meinem Kopf hielt mich davon ab. Er war so laut und durchdringend gewesen, dass ich nicht mal sagen konnte, ob es eine weibliche oder männliche Stimme gewesen war oder ob es sogar meine Stimme gewesen sein konnte. Egal wer oder was es war, es hatte mich vor einem gravierenden Fehler geschützt. Mit einem Mal war der Bann zwischen uns gebrochen und ich war wieder Herr meiner Gedanken.
Doch anstatt seine Blicke nun meiden zu wollen, drehte ich den Spieß um und war nun diejenige, die ihn dazu brachte, meinen Augen nicht mehr entkommen zu können. Es waren meine Gedanken und das was hier passierte, so real es sich auch anfühlen mochte, passierte nur in meinem Kopf. Mit vereinten Kräften ließ ich den Wolf auf mich zukommen und fesselte ihn an meine Augen. Angst spiegelten seine, eben noch so selbstsicheren, Augen wieder und kamen mir immer näher. So nah, bis sie schließlich mit einem elektrischen Schlag in mich drangen und alle anderen Augen verschwinden ließen.
Der Schwindel verging, die Farben kamen wieder und unter mir zerriss mit einem Mal die Erde. Noch bevor ich begreifen konnte was gerade passierte, fiel ich in rasender Geschwindigkeit in dunkle Schwärze. Der Fall wurde immer schneller und mittlerweile raste ich so sehr dem Unbekannten entgegen, dass die vereinzelten Regentropfen mir nicht mal mehr folgen konnten.