Stöhnend öffnete ich die Augen und hätte sie am liebsten gleich wieder geschlossen, als ich erkannte, wo ich war. Vorsichtig versuchte ich mich aufzurichten, bis ich schließlich in der Senkrechten saß und meine Umgebung betrachten konnte. Wie zur Hölle ich hier rauf gekommen? Kopfschüttelnd sah ich nach unten und stellte mir eine viel wichtigere Frage: Wie zur Hölle sollte ich hier nur wieder runter kommen? Ich befand mich mitten auf der großen Eiche in unserem Garten. Den Baum hatte ich noch nie leiden können, da ich all seine Blätter immer zusammen harken und entsorgen musste, doch jetzt verfluchte ich ihn regelrecht. Auf unserem Grundstück gab es kaum hohe Sachen, bis auf die Eiche und unseren kleinen Schuppen. Warum hatte ich dann ausgerechnet hier landen müssen?
Eigentlich hatte ich kein Problem mit Höhen, aber diese Eiche war ungewöhnlich hoch. Viel zu weit ragte sie den Himmel hinauf und als wäre es nicht schon Strafe genug, überhaupt in einem Baum festsitzen zu müssen, befand ich mich auch noch ganz oben in ihrer Krone. Mein Blick fiel auf das Dach unseres Schuppens und gab mir einen kleinen Hoffnungsschimmer. Wenn ich mich nur geschickt genug anstellen würde, dann könnte ich vielleicht das Dach erreichen und von dort wieder nach unten gelangen. Eigentlich sollte es mir gar nicht so schwer falle, immerhin hatte ich mehr Kräfte als zuvor, aber durch die letzten Attacken war ich müde und schwach
geworden.
Ich betrachtete den Ast unter mir etwas genauer und stellte fest, dass er gar nicht so stabil aussah. Also musste ich schnell von hier weg kommen. Unsicher schwang ich ein Bein über das Holz und stützte mich mit zitternden Händen auf ihm ab. Die Blicke richtete ich nach unten und tastete vergebens nach einem Ast unter mir, auf dem ich halt finden könnte. Keuchend bewegte ich mich zum Baumstamm hin und hoffte dort etwas unter mir finden zu können. Nach langem Suchen, das meinen Armen eine Menge Kraft gekostet hatte, fand ich unter meinem linken Fuß endlich Halt.
Ich hielt die Luft an, als ich mein Gewicht auf die Füße verlagerte und meinen Armen somit eine kleine Pause gab. Nachdem ich richtigen Halt gefunden hatte, ließ ich meine Fingerspitzen von dem Ast über mir ab und umklammerte den massiven Baumstamm. Kurz verharrte ich in dieser Position und versuchte wieder ganz ruhig zu werden. Doch um so länger ich dort stand, desto mehr begann ich mir Sorgen über diese Höhe zu machen und dachte über Szenarien nach, wie ich das Gleichgewicht verlieren und runter fallen würde.
Nicht weit von mir befand sich ein weiterer, recht stabil erscheinender Ast, der mich noch näher an das Dach des Schuppens bringen würde. Ohne lange darüber nachzudenken, ging ich in die Hocke, setzte mich aufs Holz und sprang dann, die Hände am Baumstamm klammernd, auf den nächsten Ast unter mir.
Ich schätzte den Abstand zwischen mir und dem Dach ab und kam zu dem Entschluss, dass es nicht unmöglich war drauf zuspringen. Es war nicht sicher und es war bei weitem nicht einfach, aber meine einzige Möglichkeit. Entschlossen richtete ich mich auf und stütze mich am Stamm ab. Immer noch hatte es nicht aufgehört zu regnen. Bei dem heftigen Regen war es schwierig überhaupt noch etwas erkennen zu können und die Rinde des Baumes war völlig rutschig und machte es somit noch einfacherer, abrutschen zu können. Na ja, sterben konnte ich auf diesem Wege jedenfalls nicht.
Also wagte ich diesen irrsinnige Sprung. Es hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt, in der ich in der Luft geschwebt war und dieses unangenehme Bauchkribbeln gehabt hatte.
Mit einem lauten Rums kam ich auf dem Dach an und war heil froh, als ich die unebene Struktur unter meinen Fingerspitzen spürte. Vorsichtshalber blieb ich in der geduckten Position und tastete mich weiter. Dabei stieß ich auf einen alten Kirschkern, hob ihn hoch und betrachtete ihn genauer.
Der Kirschbaum unseres Nachbarn hing schon viele Jahre über unserem Grundstück und ab und zu vielen ein paar seiner Kirschen auf das Schuppendach. Ich erinnerte mich daran, wie ich früher mit Anne hier drauf gestanden hatte und wie wir versucht hatten, nach den Kirschen zu angeln. Ab und zu war es uns gelungen, doch den Aufwand waren sie nie wert gewesen. Eigentlich war es uns auch nie um die Kirschen gegangen. Stattdessen waren sie nur eine Ausrede gewesen, um auf das Dach klettern zu können, ohne Ärger zu bekommen. Versunken in Erinnerungen schob ich die Blätter beiseite und suchte nach unseren Handabdrücken. Wenn es im Sommer so richtig heiß wurde, dann konnten wir die warme Masse des Daches oberflächlich beeinflussen und hatten in unseren kindlichen Spielen, oft genug Finger und Handabdrücke hinterlassen. Sehnsuchtsvoll rappelte ich mich endgültig auf und öffnete die kleine Öffnung am Rande des Daches, durch der man mit einer Leichtigkeit rauf und wieder runter kam. Vorsichtig drehte ich mich um und kletterte die verrostete Leiter hinab, in den dunklen Schuppen. Ich war froh gewesen, dass mir das natürliche Tageslicht, trotz des wolkenverhangenen Himmels, den Weg geleuchtet hatte.
Gerade nahm ich den letzten Fuß von der Leiter, da flog die Klappe vom starken Wind zu und bescherte mir Finsternis. Zum Glück kannte ich das kleine Häuschen in und auswendig, sodass ich nicht lange zu überlegen brauchte, wo sich der Lichtschalter befand. Doch gerade als ich ihn betätigte, spürte ich einen kalten Hauch in meinem Nacken, der kombiniert mit dem Heulen des Windes, für meine Arme eine Gänsehaut bereit hielt.
„Tick, tack, die Zeit wird knapp“, flüsterte mir eine helle Stimme leise ins Ohr. Schnell drehte ich mich um und blickte in Lynn`s blaue, hellerleuchtete Augen. Erst jetzt, wo mir jemand Vertrautes gegenüberstand, verlor ich die Angst und fiel ich lächelnd in die Arme.
„So war das eigentlich nicht geplant“, beklagte sie sich und wand sich aus der kribbelnden Umarmung.
„Glaub mir, deine Stimme erkenne ich unter Hunderten“, behauptete ich und machte mich auf den Weg zur Schuppentür. Doch dann viel mir auf, dass wir einen weiteren Ort gefunden hatten, wo sie und ich uns ungestört unterhalten konnten. Ohne Erklärungen und verständnislose Gesichter.
„Wie ist jetzt der Plan?“
„Welcher Plan?“
„Du hast doch wohl eine Idee wie du das wieder los wirst oder?“
„Wo von genau redest du?“, fragte ich unsicher und überlegte dabei, wie sie überhaupt Wind von meinen ganzen Attacken bekommen hatte.
„Na von was wohl? Von deinen komischen Panikanfällen, glaub mir ich war bei allen dabei.“
„Klasse. Hast du auch gesehen wie ich auf dieser verdammten Eiche gelandet bin? Oder hat dein Geisterauge nicht so weit gereicht?“, fragte ich etwas zickig und griff nach der Klinke. Warum musste sie denn auch immer alles mitbekommen? Ich hatte es satt zugeben zu müssen, dass ich es nicht einmal selbst verstand. Wahrscheinlich sollte ich Leandro davon erzählen. Aber schon jetzt wusste ich, dass er sich wieder nur unnötig aufspielen wollte und darauf konnte ich getrost verzichten. Außerdem hatte ich genügend anderen Scheiß um die Ohren und wollte vorerst hoffen, dass es einfach wieder verschwinden würde.
„Nein. Also was wirst du tun?“
„Keine Ahnung.“
„Wirst du ihn um Hilfe fragen?“
„Wen?“, fragte ich, obwohl ich genau wusste auf wen sie hinaus wollte.
„Na Leandro, wen sonst? Den Buchladenverkäufer?“
„Sag Mal hast du uns hinterher spioniert?“
„Ich? Was? Nein! Warum sollte ich, ich habe mir nur Berlin angesehen.“
„Natürlich.“
„Also wirst du?“
„Hm.“
„Was soll das heißen?“
„Ja, mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig oder?“
„Ich denke nicht.“
„Na Klasse“, brummte ich und stürmte aus dem Schuppen. Das Licht hatte ich angelassen und wahrscheinlich würde ich dafür später eine Ansage von meiner Mum bekommen, doch das war mir in diesem Moment herzlich egal. Ich wollte ihn nicht fragen! Ich war viel zu stolz dafür, aber ich hatte wohl keine andere Wahl. Ohne meine nassen Klamotten wechseln zu wollen, stürmte ich direkt in sein Zimmer. Ich wollte es lieber hinter mir haben, als dieses Gespräch noch ewig vor mir herschieben zu müssen. Besser würde es dadurch wohl nicht werden.
„Was ist?“, rief er empört und verdunkelte seinen Computerdisplay, als hätte er gerade nach etwas Verbotenen gesucht.
„Wir müssen reden“, platze es aus mir heraus und brachte mich noch im gleichen Moment zum Verstummen. Diese Worte hörten sich so an, als müssten wir irgendetwas zwischen uns besprechen. Aber dieses Thema war es zur Abwechslung mal nicht.
„Und weiter? Vielleicht klopfst du das nächste Mal an, ich platze bei dir ja auch nicht ungefragt rein.“
„Entschuldigung die Hoheit, ich wusste nicht das Sie hier illegale Dinge erledigen.“
„Sehr witzig. Also was ist?“
„Du musst mir helfen“, sagte ich schnell und setzte mich auf sein ungemachtes Bett, um etwas von meinem steigenden Adrenalin loszuwerden. Wie ich es hasste ihn um Hilfe zu bitten. Umso länger ich in seinem Zimmer saß, desto nervöser wurde ich. Ich hatte Angst vor seiner Reaktion und vor dem, was diese Anfälle bedeuten könnten.
„Das ist ja mal was ganz Neues“, lachte er und drehte sich von seinem Bildschirm zu mir nach hinten um. Ich konnte es mir nicht verkneifen, die Augen zu verdrehen. Warum musste er nur so furchtbar arrogant sein?
„Kannst du mal mit dieser Ironie aufhören?“
„Warum sollte ich?“
„Weil es mir vielleicht nicht gerade leicht fällt, gerade dich um Rat zu bitten?“
„Das ist ja nicht mein Problem“, murmelte er, drehte sich wieder weg von mir und platzierte seine Füße auf dem Schreibtisch.“
„Sehr einfühlsam“, seufzte ich und ließ mich aufs Bett fallen. Kurz schwieg ich und schwelge in Erinnerungen, als mir sein verführerisches Parfum in die Nase trat, dessen Geruch an seinem Bettzeug klebte.
„Mir ist doch vorhin schwindelig geworden, richtig?“
„Hm.“
„Das war nicht das erste Mal heute.“ Meine Worte verstummten und mit ihnen trat Schweigen ins Zimmer. Zögernd runzelte ich die Stirn, als er nach einer Weile immer noch nicht den Anschein machte, sich für meine Worte interessieren zu wollen.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ja ja.“
„Perfekt wäre es, wenn du dich dann auch noch zu mir umdrehen könntest. Das hat etwas mit Respekt zu tun, aber das sagt dir wahrscheinlich nichts.“
„Besser?“, seufzte er und drehte sich widerwillig zu mir um. Erwartungsvoll blitzten mir seine blauen Augen entgegen, während er unruhig mit seinem Bein zu wackeln begann. Nervös lehnte ich mich nach vorne und stützte meine Arme auf den Oberschenkeln ab.
„Also?“
„Es war das dritte Mal und ich denke nicht, dass es am mangelnden Essen liegt.“
„Du meinst du solltest endlich Blut trinken? Dann lass heute Abend losgehen und das hinter uns bringen.“ Hinter uns? Soweit ich weiß sind wir zwei einzelne, unabhängige Personen. Was musste er dann bitte hinter sich bringen? Er war schließlich gewohnt daran, für mich war das was ganz Neues, das ich am liebsten für immer umgehen wollte.
„Ich denke auch nicht, dass es das fehlende Blut ist.“
„Wie kommst du darauf?“
„Weil das, was danach mit mir passiert,... also denke ich, nicht wirklich was mit Blutdurst zu tun hat.“
„Hä, was redest du da?“
„Es ist nicht nur der Schwindel. Das erste Mal passierte es in der Nacht. Ich habe nur einen Spaziergang gemacht und...“
„Bitte was? In der Nacht? Was machst du bitteschön draußen bei Nacht?“, unterbrach er mich empört und plötzlich galt seine komplette Aufmerksamkeit nur mir.
„Ich konnte nicht mehr schlafen und habe mich rausgeschlichen, nichts weltbewegendes.“
„Dir hätte wer weiß was passieren können!“
„Können wir diese Diskussion auf ein anderes Mal verschieben? Es war ein normaler Spaziergang, nichts worüber man sich aufregen sollte.“
„Ich kann das trotzdem nicht befürworten.“
„Musst du ja auch nicht und ein Glück hast du darüber auch keine Entscheidungsgewalt, immerhin bist du weder mein Vater, noch mein Bruder oder sonst wer.“
„Alex ich...“, begann er, doch ich unterbrach ihn schleunigst. Was auch immer in seinem Hirn vor sich ging, es interessierte mich in diesem Augenblick nicht im Geringsten. Ich hatte ganz andere Sorgen und wirklich keine Lust mich schon wieder wegen so etwas nebensächlichen zu streiten.
„Kann ich jetzt weiter erzählen?“
„Hm.“
„Jedenfalls bin ich direkt im Wald umgekippt und...“
„Warte im Wald? Was hast du dort denn bitte gemacht?“
„Och“, stöhnte ich und fragte mich, wie übervorsichtig man nur sein konnte.
„Nichts wichtiges, ich habe nur die Abkürzung nach Hause genommen. Doch so weit kam ich nicht, als ich nach meinem Bewusstseinsverlust wieder die Augen öffnete, befand ich mich plötzlich auf der Straße und wurde beinahe umgenietet.“
„Das hast du dort also gemacht, warum erzählst du mir das erst jetzt?“
„Weil ich mir nicht viel dabei gedacht habe. Das zweite Mal war mit dir, als du mich aufgefangen hast, aber da kam ich nicht so weit das Bewusstsein zu verlieren.“
„Und das dritte Mal?“
„Gerade eben. Ich bin nach Hause gelaufen und plötzlich hat es mich einfach umgehauen.“
„Komm Alex, dramatisiere das mal bitte nicht so, Schwindel kann bei Blutmangel ganz schnell auftreten.“ Wie bitte? Dramatisiere das nicht so? In welcher Welt lebte er denn bitte? Also wenn das nicht außergewöhnlich war, dann frage ich mich langsam, was ihn überhaupt noch schockieren kann. Mag ja sein, dass er schon ne Menge erlebt hatte und das vieles, was ich als gruselig einstufen würde, völlig normal für ihn wäre, aber das eben, war definitiv nicht normal! Als er zu wenig Blut getrunken hatte, da war er doch auch nicht einfach so an anderen Orten aufgewacht.
„Ich dramatisiere hier gar nichts. Verdammt Leandro ich bin von einem Wald, plötzlich mitten auf der Straße aufgewacht. Und eben durfte ich wie Tarzan durch die Baumkronen schwingen.“
„Was?“
„Ich bin vor ein paar Minuten in der Baumkrone unserer alten Eiche aufgewacht, ganz oben. Weißt was es für ein Akt war, dort wieder runter zu kommen? Eben nicht. Also wenn du das für normal empfindest, dann hast du echt einen an der Klatsche!“ Stille. Nichts außer Stille erfüllte den Raum. Tiefe Stirnessfalten legten sich auf sein Gesicht und machten mich immer nervöser. Die Stille zerfraß mich beinahe, dass ich ihn nicht in Ruhe zu Ende denken lassen konnte:
„Also ist das jetzt normal oder eher nicht?“
„Was ist schon normal?“
„Man hör auf mit diesen philosophischen Fragen und beantworte mir gefälligst meine. Ich halte es kaum aus, in Ungewissheit gelassen zu werden, wenn du längst eine Vermutung hast.“
„Wer sagt dass ich eine Vermutung habe?“
„Niemand, aber ich hoffe es. Du hast keine Ahnung wie beschissen es ist, nicht zu wissen, wann ich das nächste Mal in Ohnmacht falle und an welchen ausgefallenen Ort ich dieses Mal meine Augen aufschlagen werde“, zischte ich aufgebracht, richtete mich wieder auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Okay es ist ungewöhnlich und vielleicht habe ich eine Vermutung oder einen Ansatzpunkt. Bist du jetzt beruhigt?“
„Weiß ich nicht, kommt auf deine Vermutung an, ist sie denn besorgniserregend?“
„Das kann man sehen wie man will, am besten prüfen wir das zuerst nach, bevor wir hier falsche Behauptungen aufstellen.“ Bevor ich mich zu Wort melden konnte, wurde unser Gespräch von dem Aufschlagen der Tür unterbrochen und meine Mutter streckte ihren Kopf um die Ecke.
„Mum!“, platzte es verwundert aus mir heraus und ich sprang vom Bett, als hätte ich etwas zu verstecken. Bis auf das Gespräch, von dem sie besten Falls nichts mitbekommen hatte, musste ich doch eigentlich nichts vor ihr verbergen, warum aber dann erschrak ich mich so? Vielleicht lag es einfach daran, dass ich viel zu sehr in unser Gespräch versunken gewesen war, dass ich das um uns herum vergessen hatte. Leandro schien es nicht sonderlich anders ergangen zu sein. Immerhin stand er plötzlich ebenfalls, fast neben mir und musterte meine Mutter ganz erschrocken und unverhofft.
„Kannst du nicht einmal anklopfen?“
„Jetzt zier dich nicht so, du platzt ja schließlich auch überall hinein.“ Empört suchte ich den Blickkontakt zu Leandro, der aber nickte nur meiner Mutter zu und untergrub auch noch meine Autorität.
„Das stimmt, du kannst ja nicht einmal selbst anklopfen.“
„Vielen Dank, weißt du eigentlich unterstützt man einander, Bruder.“ Mein letztes Wort betonte ich ganz besonders auffällig und warf ihm tötende Blicke zu, die ihn jedoch nicht in irgendeiner Weise zu interessieren schienen.
„Also Mum, was willst du?“
„Ich wollte nur wissen was ihr zum Abendbrot wollt.“
„Keine Ahnung, eigentlich habe ich keinen Hunger.“
„Wie siehst du überhaupt aus?“ Verlegen schaute ich an meinen Körper hinab und bemerkte wie dreckig meine Kleidung war.
„Ich bin ausgerutscht und in eine Pfütze gefallen“, log ich.
„Hm na gut ich lass´ mir etwas einfallen“, entgegnete sie unzufrieden und ließ uns wieder alleine. Nachdem wir uns sicher waren, dass sie nach unten in die Küche gegangen war, führten wir das Gespräch weiter:
„Also was genau ist jetzt der Plan?“
„Nachts wenn sie schlafen, schleichen wir uns raus und suchen nach dem, was meine Vermutung unterstützen würde.“
„Würdest du mich jetzt auch netter Weise aufklären, wie zur Hölle deine Vermutung aussieht? Dann wäre ich nachher beim Suchen bestimmt auch produktiver.“
„Das erfährst du schon früh genug.
„Muss das ausgerechnet heute Abend sein? Immerhin soll ich Morgen auf meine Geschwister aufpassen, nicht das wir zu spät nach Hause kommen. Ich will meiner Mutter ungern erklären, was wir die ganze Nacht getrieben haben.“
„Getrieben? Ich hoffe doch wohl nichts“, lachte er und nutze meine Unsicherheit gnadenlos aus. Hitze stieg in meiner Gesicht und machte mich noch viel unsicherer, als ich es schon vorher gewesen war.
„Das konnte ja mal wieder nur von nem Typen kommen.“
„Wenn du meinst.“
„Also was machen wir jetzt?“
„Heute Abend, es sei denn du möchtest noch länger...“
„Ja ja, aber wir müssen pünktlich zurück sein.“
„Kriegen wir schon hin und jetzt geh dich duschen. Ich habe ja nichts gegen Natürlichkeit, aber der Schlamm in deinem Gesicht unterstreicht nicht unbedingt deine Schönheit.“ Nickend wollte ich mich gerade von dannen machen, da fiel mir seine Wortwahl auf. Schönheit, fand er mich wirklich schön? Oder war das nur einer seiner Standartsprüche? Eigentlich hätte ich ihn nicht danach fragen sollen, aber meine Neugierde gewann und auch wenn ich es nicht mögen wollte, so gefiel es mir doch, wenn er mir auf diese Weise Aufmerksamkeit schenkte.
„Du findest mich schön?“
„Ja natürlich. Kommt das so überraschend?“, sagte er schmunzelnd und warf sich wieder auf seinen Computerstuhl.
„Weiß nicht, vielleicht“, murmelte ich lächelnd und verließ den Raum. Nachdenklich steuerte ich das Badezimmer an und begann mir erst Mal unter der Dusche den Matsch vom Gesicht zu schrubben. Peinlich, warum hatte er nie etwas im Gesicht? Er konnte sich ja auch nicht im Spiegel sehen. Wie konnte dieser Typ überhaupt die ganze Zeit perfekt aussehen. Selbst als wir gegen den Grafen gekämpft hatten, hatte nicht eine Staubflocke auf seinem Gesicht gelegen. Wie machte er das nur?
Nachdem Duschen zog ich mich an und versuchte irgendwie meine Haare zu bändigen. Eigenartig wie sehr sich mein Klamottenstyle, innerhalb von ein paar Wochen, verändert hatte. Statt knappen Rock und Top, trug ich nur noch Jeans mit irgendwelchen Pullis. Den meisten Schmuck trug ich nicht mehr und auch das Schminken hatte ich längst aufgegeben, auch wenn ich ab und zu, ein paar Versuchen nicht widerstehen konnte. Ich prbierte mich wieder an ein bisschen Mascara aus und versuchte wenigstens ein wenig meine Wimpern zu treffen. Bestimmt machte es keinen Unterschied, doch lassen konnte ich es trotzdem nicht.
Nach dem Abendessen ging jeder seiner Wege und ich versuchte mir meine Aufregung einfach nicht anmerken zu lassen. Es war wohl doch ganz gut gewesen, dass das mit dem Schminken nicht geklappt hatte, dann musste ich mir keine blöden Ausreden für meine Mutter ausdenken. Ungeduldig brütete ich etwas über meinen Hausaufgaben, bis sich endlich die Schlafzimmertür meiner Mutter schloss.
Eine Stunde warteten wir noch und verließen dann zusammen das Haus. Der Regen hatte aufgehört und auch der Wind hatte sich größten Teils verabschiedet. Trotzdem war es alles andere als warm. Genüsslich zog ich die kalte Abendluft ein und bemerkte wie rein sie auf einmal war. Ich bildete mir ein, keine Abgase mehr wahrzunehmen und stattdessen die Luft eines Dorfes einatmen zu können.
Wir liefen die Straße bis zur Bushaltestelle hinauf und ich fragte mich immer noch, welche Vermutung sich in seinem Kopf befand und womit er sie unterstützen würde. Doch lange konnte er mich nicht mehr im Ungewissen lassen, da er sich nicht im Geringsten hier auskannte, wartete ich förmlich auf seine dunkle Stimme, die mich nach dem aufschlussreichen Ort fragen würde. Vielleicht war die Bibliothek sein Ziel? Wo auch immer er mich hinschleppen wollte, bei ihm fühlte ich mich sicher. Natürlich wusste ich, dass es nicht so sein sollte, aber was konnte man schon gegen seine Gefühle machen?