Blicke trafen sich. Wieder versank ich in diesen großen, schönen Augen und wollte ihn einfach nur noch küssen. Verführerisch biss er sich auf die Lippe. Gott wie konnte er nur so unheimlich heiß sein? Er wollte, dass ich den ersten Schritt machte, er wollte dass ich auf ihn zukommen würde. Und ich konnte nicht anders, ich konnte ihm einfach nicht mehr widerstehen. Seinem anziehenden Parfum, diesen weichen, roten Lippen und seinen warmen, beschützenden Umarmungen. Ich wollte seine Nähe spüren und ich wollte mit ihm zusammen einschlafen, verdammt ich wollte nur ihn! Ich hatte lange genug auf ihn gewartet, also ergriff ich die Initiative und kam seinen Lippen immer näher.
Kurz bevor sich unsere Lippen trafen, räusperte er sich und schreckte mich damit auf. Verlegen breitete sich Röte in meinem Gesicht aus und ich bewegte mich in den Stand, um aus dieser eigenartigen Position flüchten zu können. Anscheinend hatte ihm Laureen so den Kopf verdreht, dass er sich gar nicht mehr an das erinnerte, was zwischen uns gewesen war. Vorausgesetzt es war jemals echt gewesen, aber diese Augen, die mich immer wieder durchbohrt hatten, ihr Strahlen, war das wirklich alles unecht gewesen? Hatte er nur gelogen?
Auch wenn es gerade mal ein paar Wochen her war, fühlte es sich an, als wären beinahe Jahre vergangen.
„Du vertraust mir aber ganz schön“, lachte er und trat einen Schritt an mich heran, als wolle er mich dazu zwingen, in seine Augen starren zu müssen. Kopfschüttelnd wendete ich meinen Blick vom Boden nicht ab und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.
„Ich vertraue dir nicht im Geringsten! Ich vertraue nur mir.“
„Sicher doch und warum hast du dich dann einfach fallen lassen?“
„Weil ich gesehen habe, wie du mich auffangen wirst und mir selbst vertraue ich“, entgegnete ich entschlossen und bereute diesen Satz noch im selben Moment. Wieder würde er Erklärungen verlangen und wieder könnte ich ihm keine Erklärungen geben.
„Was, wovon redest du?“
„Vergiss es. Ich verstehe es ja nicht einmal selbst. Mach dir lieber Gedanken darüber, wie wir an das Buch kommen sollen, denn eins steht fest, ein drittes Mal klettere ich nicht nach dort oben!“
„Alle guten Dinge sind drei, richtig?“
„Na dann bitte, versuch du dich doch mal dran.“
„Nichts leichter als das“, antwortete er voller Vorfreude mir zeigen zu können, mit welcher Leichtigkeit er das bekommen würde, was ich wollte. Na ja eigentlich das, was er wollte. Ohne mich auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er auf Abstand und begann plötzlich ganz albern mit den Armen zu wackeln, als wäre er ein Vogel. Ich konnte mir ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen, doch schon einen Augenblick später bereute ich es. Mit einem Augenschlag verwandelten sich seine Arme zu Flügeln, zu schwarzen Flügeln. Pechschwarz, wie die Nacht. Hatte ich mich etwa in den Teufel verliebt? Seine Flügel waren so breit und kräftig, dass ihr Wind mich fast umwarf.
Ein starker Absprung genügte und er befand sich ganz grazil in der Luft, was bei der Betrachtung seiner Flügel gar unmöglich erschien. Mit einer paar Flügelschlägen befand er sich schließlich an der Decke des Raumes und stellte sich auf die oberste Stufe der Leiter. Die Sprosse, die ich nie erreicht hatte. Kurz erlaubte ich mir einen Blick auf mein Handy, da es irgendeinen Ton von sich gegeben hatte. Als ich aber erkannte, dass es nur belangloses Zeug war, was es mir mitteilen wollte, schenkte ich Leandro wieder meine ganze Aufmerksamkeit. Seine Flügel waren bereits verschwunden und er hatte sich einfach mit dem Buch in der Hand fallen lassen.
Wie angewurzelt stand ich dar und beobachtete, wie sein Körper auf den Boden zuraste. Ich atmete erst wieder auf, als er sich kurz vor dem Aufprall mit Hilfe der schwarzen Flügel gefangen hatte und nun grinsend vor mir stand. Seufzend legte er mir das Buch in die Hände und strich sich fast angeberisch durch die Haare. Kurz verfiel ich in Schwärmerei, als etwas nackte Haut unter seinem Oberteil hervorblitzte und seine Augen fast verführerisch zu funkeln begannen. Doch schnell klopfte die Realität wieder an und ich räusperte mich kurz, um aus dem Starren aufwachen zu können.
„Willst du mich verarschen? Ich habe mir riesen Mühe gegeben dort rauf zu kommen und du brauchst nicht mal eine Minute?”, fragte ich immer noch fassungslos und versuchte seinen Blick zu deuten, der schon seit einer Weile auf mir lag. Überheblich stand er vor mir und grinste mich an. Ich kannte wirklich keinen Typen, der mit so viel Arroganz und Überheblichkeit heiß sein konnte. Doch wie auch immer er das schaffte, er war es nun mal.
„Ich dachte ich mache meine und du deine Sachen? Außerdem solltest du selbst eine Lösung finden, ich kann dir ja nicht ständig behilflich sein und so gewöhnst du dich schneller an deine Kräfte.”
„Der Esel nennt sich immer zuletzt!”, murmelte ich wenig überzeugend und wechselte die Gewichtsverteilung von einem Fuß auf den Anderen. Mir war nichts anderes, als dieser lächerliche Spruch eingefallen, aber er war besser als ein Stottern oder Schweigen.
„Was hat das denn bitte mit einem Esel zu tun?” Ich biss mir auf die Lippe, um mir ein Lachen verkneifen zu können. Irgendetwas zwischen dem verdrängten und unnötigen Schulwissen, sagte mir, dass dieser Spruch nicht gerade in der heutigen Zeit entstanden war. Da er wohl um einige Jahre älter als ich war, war ich wohl davon ausgegangen, dass er damit etwas hätte anfangen können.
„Egal.”
„Kann ich das auch? Also das mit den Flügeln?“
„Natürlich, was denkst du denn.“ Da war es schon wieder, dieses Überhebliche, als wäre ich irgend so ein dummes Bauerntrampel, was von nichts und niemanden eine Ahnung hatte.
„Kannst du mal mit dieser Überheblichkeit aufhören?“, fragte ich, obwohl ich mir vorgenommen hatte, diese Gedanken für mich zu behalten. Aber er machte mich plötzlich so wütend. Wie er da stand und mich angrinste, das machte mich einfach an und das wusste er. Er spielte mit mir und er war sich seiner Sache sicher. Gut, wenn er so spielen wollte, dann bitteschön. Genau jetzt schwor ich mir erneut, dass ich ihn nicht ranlassen würde, bis ich schließlich die Kontrolle über das hatte, was auch immer da zwischen uns war.
„Überheblichkeit? Du nervst mich einfach.“
„Deine Überheblichkeit nervt mich!“
„Ich bin nicht überheblich, du stellst dich nur ziemlich dumm an, meine Welt zu verstehen.“
„Deine Welt, ja? Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich nicht sofort den Durchblick habe. Wenn ich mich recht erinnere, wurdest du Jahre lang in diesem ganzen Zeug unterrichtet. Ich hingegen habe seit knapp zwei Wochen nur nen Crash-kurs bekommen.“
„Na und?“
„Ich würde mir etwas mehr Verständnis wünschen.“
„Verständnis? Wofür? Du kannst ja schließlich auch keins für mich aufbringen.“
„Natürlich und schon wieder dreht sich alles nur um dich. So wie immer. Leandro, der der alles kann und für alles eine Lösung hat. Keine Ahnung worauf du dir das alles einbildest, aber nichts davon wird hier gebraucht!“
„Es geht nur um mich? Seitdem ich dir über den Weg gelaufen bin, dreht sich doch nur noch alles um dich. Überall hört man deinen Namen und wie viel du durchmachen musstest und wahrscheinlich bin ich auch noch der Grund dafür.“
„Sag mal spielst du hier gerade die beleidigte Leberwurst? Ich wünsche mir doch nur etwas Verständnis. Tut mir leid, dass deine Welt noch neu für mich ist. Ich brauche eben Zeit, bis ich das Ganze verstanden habe, also mach mich hier nicht so von der Seite an! Außerdem wenn ich so anstrengend bin, dann geh doch einfach zurück nach England! In dein altes, langweiliges Leben. Wo du immer nur mit den selben Leuten sprechen darfst und dich nie rausbewegen kannst. Ich versteh schon warum du etwas mit mir angefangen hast. Ich war neu, etwas Neues für dich. Eine willkommene Abwechslung, die dir die Möglichkeit gegeben hat, mal raus zukommen. Mehr war ich nie und mehr werde ich auch nie für dich sein!“ Als hätte ich ihn gegen die Wand gestoßen, stand er nun ganz verdattert dar und starrte zu Boden. Nervös begann er hin und her zu wippen und kauerte auf seiner Unterlippe herum, als würde er mit sich selbst kämpfen, nichts zu sagen.
„Anfangs vielleicht schon, doch jetzt nicht mehr...“
„Ach ja? Und was zur Hölle war dann das mit Laureen?“, schrie ich nun außer mir vor Wut und ließ all das raus, was ich versucht hatte in den letzten Tagen einfach verdrängen und vergessen zu können. Doch so sehr ich mich auch über dieses befreiende Gefühl freute, gleichzeitig ärgerte ich mich, das Ganze überhaupt an mich ran gelassen zu haben.
„Ich habe es dir schon einmal versucht zu erklären, aber du willst es ja nicht hören.“
„Schwachsinn! Deine Erklärungen waren nicht im Geringsten aufschlussreich. Du hast nur sinnloses Zeug von dir gegeben und dich irgendwie versucht daraus zu winden. Gott ich verstehe immer noch nicht, warum du überhaupt von ihr gegangen bist.“
„Hast du das nicht gerade selbst beantwortet?“
„Vielleicht, aber wenn ich mich recht erinnere, hattet ihr ein verdammt vertrautes Verhältnis, warum also hast du sie zurückgelassen?“
„Du würdest es nicht verstehen.“
„Ach ja? Versuch es doch, wenn dir wirklich etwas an mir liegen sollte, dann erklär es mir“, hauchte ich, da meine Stimme vor Anspannung fast komplett verschwunden war. Auch wenn es völlig unrealistisch war, so hoffte wohl ein Teil von mir, dass es für das zwischen ihm und Laureen, eine plausible Erklärung gab. Abwesend ging ich alle Möglichkeiten durch, die das entschuldigen könnten und malte mir aus, wie dieses Gespräch verlaufen würde. Doch schnell riss mich seine ruhige Stimme aus den Überlegungen.
„Das kann ich nicht“, flüsterte er in mein Ohr und sah mir bedrückt entgegen. Jetzt bloß nicht schwach werden! Er kam mir immer näher und ich wich immer mehr zurück, bis ich das Bücherregal in meinem Rücken spürte und ihn auf mich zukommen lassen musste. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Blau schimmerte stärker als zuvor. Verdammt war er heiß! Nachdenklich leckte er sich über die Lippen. Dann stemmte er seine linke Hand, vorbei an meinem Ohr, ans Bücherregal und kam mir noch ein Stück näher. Ich wusste wo das hinführen sollte und deshalb ging ich immer wieder den Gedanken durch, dass ich nicht schwach werden durfte.
Langsam kamen seine vollen Lippen auf mich zu und trafen schließlich Meine. Für einen Augenblick blieb die Zeit stehen und wir vergaßen das um uns herum. Die Probleme, den Streit und vor allem Laureen. Auch wenn ich es nicht wollte, so musste ich seinen Kuss erwidern, ehe ich ihn wegstieß und einen großen Abstand zwischen uns schaffte. Stille, Schweigen, Ruhe. Es war leise und ich suchte nach richtigen Worten, doch ich fand sie nicht. Verwirrt schaute er mich an. Eben noch hatte er mich nicht küssen wollen. Er hatte uns mit einem Räuspern auseinander gebracht, als ich ihn hatte küssen wollen. Verdutzt stand er nun da und suchte ebenfalls nach den Worten, die uns nicht einfallen wollten. Auch er konnte dieses Schweigen und Starren nicht mehr ertragen, drehte sich daher um und lief zum Tisch. Stumm folgte ich ihm.
„Wonach suchen wir jetzt?“, fragte ich leise in den Raum hinein und bekam nur ein Schulterzucken als Antwort. Auch wenn er nicht drüber reden wollte, so musste ich endlich wissen was es war, was diese Laureen so unwiderstehlich machte. Klar, sie war perfekt. Sie hatte wunderschöne Haare, schöne Augen und eine tolle Figur, aber das hatten doch viele Mädchen, warum sie? Immer wenn wir über sie Sprachen, dann hatten seine Augen so ein komisches Funkeln, was ich nicht deuten konnte, also musste ich ihn noch mal danach fragen.
„Also sag, warum rennst du dieser Laureen so hinterher? Warum würdest du dich immer wieder auf sie einlassen, wenn du es doch eigentlich gar nicht willst?“
„Du würdest es nicht verstehen, ich tue es nicht mal selbst.“
„Das reicht mir nicht.“
„Vielleicht solltest darüber nachdenken warum du dich immer wieder auf mich einlassen würdest.“
„Das würde ich gar nicht!“, stritt ich ab, auch wenn ich selbst wusste, dass es gelogen war.
„Wie du meinst, lass uns weiter machen, wir haben noch einen straffen Zeitplan.“ Mit diesen Worten setzte er sich und hielt mir einen Stuhl neben sich frei. Im Gehen überlegte ich, ob ich mir einen anderen suchen sollte, doch das wäre einfach nur kindisch gewesen.
Mit einem lauten Seufzer ließ ich mich auf den Stuhl fallen und schlug das Buch direkt in der Mitte auf. Eine Weile blätterte ich wild darin herum und beobachtete, wie er mir ganz gebannt über die Schulter starrte.
Irgendwann stieß ich auf ein Kapitel, das für uns interessant sein könnte. Über der schlecht lesbaren Schrift stand in fetten Druckbuchstaben: „Seine Fähigkeiten“ geschrieben, die etwas von meiner Aufmerksamkeit bekamen. Eigentlich waren wir mit einem ganz anderen Ziel hier runter gegangen. Doch jetzt hatten wir wieder etwas, das zwischen uns stand und über das wir nicht redeten. Er wollte mich doch auf irgendeine Art und Weise und ich wollte ihn, was zur Hölle war daran so kompliziert? Vorerst würde ich mich jedenfalls erst mal verdeckt halten. Er musste wohl noch so einige Sachen mit sich selbst klären und bevor er das nicht gemacht hatte, wäre unsere Zukunft doch sowieso nicht vielversprechend. Nur hatte ich keine Ahnung, wie ich das in seiner Anwesenheit anstellen sollte. Meine Wut auf ihn war verschwunden und stattdessen begehrte ich ihn nur noch mehr.
„Mai 1862, es war ein trostloser Tag gewesen, an dem sich Lawrence und ich getroffen hatten. Zwischen uns gab es viele Probleme, über die wir nicht sprechen konnten und so kamen wir schließlich auf ein Thema, über das ich schon Jahrzehnte lang geforscht hatte. Zeitreisen. Der Begriff mag einem größer und vielversprechender erscheinen, als die Tatsache, die sich wirklich dahinter verbarg. Einem Gespräch folgten Tausende und mit ihnen erkannte ich langsam, dass mein Ehrgeiz, über das Zeitreisen forschen zu wollen, nicht unbelohnt bleiben sollte. Die ersten Treffen waren für uns beide nur verwirrend gewesen. Seine Erinnerungen waren vernebelt und wenn er versuchte sie zu ordnen, ergaben sie keinen Sinn. Er sprach von verzerrten, schwarz-weißen Bildern, von Schwindel und eigenartigen Kreaturen, die mit seiner Lebenswirklichkeit nichts zu tun hatten. So glaubten wir.
Doch umso mehr Tage ins Land zogen, desto sinnhafter wurden seine Beschreibungen. Die Anfälle häuften sich und gelegentlich befand er sich an Orten, die er von selbst nicht betreten hatte. Das schwor er. Die Zeit gab uns Erkenntnis und allmählich verstanden wir, dass all die verzerrten Bilder und Visionen eine Warnung sein sollten. Doch als wir es verstanden, war es längst zu spät gewesen. Damals machte ich ihm Vorwürfe, er hätte wissen müssen was passieren würde, doch umso mehr ich darüber nachdachte, desto mehr verstand ich, dass seine Visionen Wahnvorstellungen waren, dass sie in einer Welt zwischen Fantasie und Realität stattfanden. Einige Jahre hatten wir kaum Kontakt mehr und ich widmete mich alleine meiner Arbeit. Nur meiner Arbeit. Durch Zufall fand ich eine weitere Person, die die gleiche Fähigkeit hatte. Ewigkeiten hatte ich nach ihr gesucht. Auch sie berichtete von gleichen Anzeichen und davon, dass sie niemanden kannte, dem es genauso erging. Ich bemerkte, dass die Reisenden nie in die Zukunft direkt eingreifen konnten, sonder nur die Gegenwart veränderten und somit bedeutsame Fakten in der Zukunft austauschten. Lawrence wurde zunehmend verrückter und ich bemühte mich darum, den Kontakt vollkommen abzubrechen. Am Rande nur bekam ich mit, dass sein Vater und sein Bruder ebenfalls von diesem Gen betroffen waren und dass er es seiner einzigen To...“ Ich stockte. Die nachfolgenden Seiten waren mit Wasser übergossen worden. Sie waren aufgequollen, die Schrift so verblasst und verschmiert, dass es unmöglich gewesen wäre, sie entziffern zu können. Einen Seitenverweis konnte ich gerade so erkennen, doch auch der war nicht besonders aufschlussreich. Die interessantesten Seiten musste jemand gewaltsam herausgerissen haben.
Ich konnte mir kaum vorstellen, dass die verschwundenen Seiten und die verschmierte Tinte, zufällig gewesen waren. Ja ich konnte mir sogar ziemlich gut vorstellen, dass irgendjemand nicht wollte, dass wir es lasen. Doch gleichzeitig musste ich mich wohl fragen, wer das hätte verhindern wollen? Oder viel mehr, woher hätte er wissen sollen, dass wir genau nach diesen Antworten gesucht hatten?
Mit einem lauten Schlag schloss ich das Buch und ließ meine Finger über den eingravierten Titel gleiten.
Vergebens versuchte ich meine Nervosität zu unterbinden, die sich leider viel zu offensichtlich, in meinem ständig wippenden Bein, widerspiegelte. Ganz schräge Gedanken spukten in meinem Hirn herum, die ich mich nicht einmal traute auszusprechen und von denen ich hoffte, Leandro würde sie gar nicht erst haben. Gebannt starrte er das Buch an und versank in Gedanken. Er hatte es noch nicht ausgesprochen, doch an seinem Blick konnte ich erkennen, dass über das Gleiche nachdachte wie ich.
„Hast du jetzt eine Ahnung? Das Gleiche kann es kaum sein. Immerhin ist es bei nur sehr wenigen aufgetaucht und mit ihm verwandt werde ich ja wohl nicht sein.“
„Ich weiß es nicht. Einerseits würde es eine Menge erklären, andererseits hätte das Ganze einen Haken. Soweit ich weiß ist seine Tochter, zusammen mit seiner Frau, in einem Feuer ums Leben gekommen. Also wenn du von den Toten nicht aufgestanden bist, dann ist das unmöglich.”
„Und was ist mit seinem Bruder? Könnte der vielleicht ein Kind haben?“ Bei dem Gedanken mit dem Grafen, mit Lawrence, verwandt zu sein, wurde mir übel.
„Keine Ahnung, seinen Namen kenne ich nicht. Vielleicht lebt er nicht einmal mehr. Alles was ich weiß ist, dass es wohl schon immer Rivalitäten zwischen den Beiden gegeben haben muss.“
„Also ist es eigentlich auszuschließen. Besser so“, entgegnete ich kaum überzeugt.
„Hm“, murmelte er unzufrieden und griff nach dem Buch. Abwesend durchsuchte er es ein weiteres Mal, doch blieb ebenfalls erfolglos.
„Ist es nicht gut, dass ich nicht mit ihm verwand sein kann?“, fragte ich in die Stille hinein und stand auf, um nachdenklich auf und ab laufen zu können.
„Ja bestimmt, aber so wissen wir immer noch nicht was es ist und wie wir dir helfen können.“
„Denkst du vielleicht, dass jemand die Seiten herausgerissen und die Tinte verschmiert hat, damit wir sie nicht zu Gesicht bekommen?“
„Quatsch, ab und zu kannst du Dinge auch Mal als zufällig abstempeln. Diese Bücher sind uralt, die haben schon in so manchen Händen gelegen. Der eine war eben sorgsamer, als der andere.“
„Das ist doch kein Zufall, ausgerechnet die Seiten die von Bedeutung sind? Irgendwer will uns sabotieren.“
„Unsinn du siehst Gespenster. Es ist eben ein sehr außergewöhnlicher Zufall, soll es auch mal geben“, lachte er und stand wieder auf. Dachte er das wirklich oder wollte er nur, dass ich mir keine Sorgen machte? Sonst hatte doch ich den Part, naiv zu sein. War es nicht offensichtlich, dass jemand nicht wollte, dass wir diese Seiten lasen? Für mich gab es keine Zufälle mehr.
Schwarze Flügel verdeckten seine Arme und mit ihnen wollte er sich wieder in die Lüfte bewegen, doch ich kam ihn mit meinem Geschrei zuvor:
„Warte! Lass es mich versuchen.“ Mit einem breiten Grinsen, als hätte ich etwas unmögliches vorgeschlagen, versuchte er die Lachfalten in seinem Gesicht zu verstecken und ließ die Flügel wieder verschwinden.
„Du hast gesagt, ich soll meine eigenen Lösungen finden. Ich will es probieren.“
„Wenn du meinst, aber du wirst dich lächerlich machen.“
„Gar nicht“, stritt ich ab und war entschlossener denn je.
„Tue was du nicht lassen kannst. Ich lache gerne“, sagte er spitz und gab mir das Buch.
„Na ja wir werdens sehen.“ Er erklärte es nicht besonders kompliziert und als ich ihn vorhin dabei beobachtet hatte, hätte man denken können, es gäbe nichts leichteres für ihn. Doch weil ich ihn mittlerweile ein wenig kannte und wusste, dass das meiste von diesen irrsinnigen Sachen verdammt schwer war, trat ich dieser Herausforderung mit ein wenig Zweifel entgegen.
Das erste Mal sprang ich unsicher ab und landete wenig vielversprechend, auf allen Vieren, auf dem Boden. Ein weiteres Mal versuchte ich es, doch auch da blieb ich erfolglos. Nicht ein Ansatz von Flügeln war zu sehen oder zu spüren. Ununterbrochen und unermüdbar versuchte ich es immer wieder, vergebens. Bis auf ein paar schwarze und weiße Federn, hatte sich nichts getan.
Nach unzähligen Versuchen war ich vom ganzen Gespringe erschöpft und gab es auf. Meine Arme und Beine schmerzten vom ständigen Zusammenstoßen mit dem Boden und meine Energie hatte sich längst verabschiedet. Stattdessen hatte sich nun bleierne Müdigkeit in mir breit gemacht und ließ meine Beine fast doppelt so schwer werden. Da mir nicht die passenden Worte in den Sinn kamen, verkniff ich mir eine Beschwerde und drückte ihm einfach das Buch in die Hand. Lachend nahm er es entgegen und erledigte den Job, den ich mir fälschlicher Weise zugetraut hatte.
„Lass uns das einen anderen Tag üben.“
„Ja“, keuchte ich nur und stützte mich an einem beliebigen Bücherregal ab, um das Gleichgewicht halten zu können.
„Ach so und auf dem Nachhauseweg fordere ich dich noch zu einem Wettrennen auf.“
„Mach mal, dann kannst du aber alleine rennen. Ich brauche eine Pause.“
„Nichts da, du wirst mit mir rennen.“
„Was? Wieso?“
„Ich habe das Gefühl, dass wir an deiner Ausdauer arbeiten müssen“, antworte er lächelnd.
„Wie kommst du darauf? Ich habe dich im Wald mehr Mahls geschlagen?“
„Na und? Vielleicht ist deine Schnelligkeit nicht schlecht, aber sobald du etwas länger rennen musst, geht dir die Puste aus.“ Nicht schlecht? Er sollte bloß nicht so untertreiben, sie war grandios! Ich glaube er verstand immer noch nicht, dass ich mich auf diesen Kram erst seit knapp zwei Wochen eingelassen hatte und er das alles seit Jahren kannte.
„Hm“, murmelte ich nur und legte noch meinen zweiten Arm ans Regal, um mein volles Gewicht auf sie stemmen zu können. Mir wurde immer schwindeliger und ich rechnete schon bald damit, erneut eine Vision zu bekommen. Doch dieses Mal war es anders. Mein ganzer Körper begann eigenartig zu kribbeln und bis auf das Schwindelgefühl, ging es mir doch ziemlich gut.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, mir ist nur ein wenig schwindelig geworden.“ Ohne länger zu zögern kam Leandro in schnellen Schritten auf mich zugeeilt und griff energisch nach meinem Arm, um ihn zu sich zu ziehen.
„Halt still!“, ermahnte er mich und noch im selben Moment traten seine spitzen Eckzähne ungewöhnlich weit hervor und er stach sie ohne Vorwarnung in meine zarte Haut.
„Aua!“, schrie ich empört und wollte meinen Arm von ihm wegreißen. Doch er hatte sich auf diese Reaktion wohl eingestellt und hielt ihn so fest, dass ich keine Chance hatte.
„Ich dachte du hattest nicht vor mich auszusaugen?”, sagte ich unzufrieden und beobachte ihn mit hochgezogener Augenbraue. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte ich den Schmerz an meinem Handgelenk zu ertragen und beobachtete wie das Blut langsam meinen Arm hinunter rann. Ich hatte mich schon immer vor Blut geekelt, was eigentlich völlig suspekt war, wenn man bedenkt, dass wir davon abhängig waren, doch jetzt versuchte ich mich einfach damit anfreunden zu können. Immerhin war ich bald auf das Aussaugen von Menschen angewiesen.
Der starke Geruch von Metall stieg mir in die Nase und er war noch viel kräftiger, als er es beim letzten Mal gewesen war. So intensiv und irgendwie gut, dass es für mich plötzlich nicht mehr so verrückt klang, das Blut anderer trinken zu wollen.
Schnell holte Leandro eine Art Teststreifen aus seiner Hosentasche und tropfte etwas von meinem Blut auf das weiße Papier.
„Was genau soll das werden? Ich bin nicht schwanger, falls du das so zu testen versuchst”, erklärte ich scherzhaft und versuchte meine Unsicherheit zu überspielen. Desinteressiert ließ er mich stehen und begann den Streifen durch die Luft zu schwingen. Nervös drehte ich den Anhänger meine Amuletts mit meinen Fingern hin und her und spürte, wie sich die zwei Einstiche langsam wieder schlossen.
Ich machte einen Schritt auf ihn zu und wollte schauen was dieser komische Streifen zeigen sollte, doch er wich immer wieder einen Schritt zurück und hielt ihn abwesend in das Licht einer Fackel. Immer weiter entfernte er sich von mir und trat an das Fackellicht heran. Ich hasste es, wenn er das tat. Wieder hatte ich keine Ahnung worüber er nachdachte und was dieser Test bedeuten sollte. Doch das interessierte ihn kaum.
„Und was genau wird das jetzt?“, fragte ich erneut und konnte meine Ungeduld kaum noch zurückhalten.
„Ich schätze wir haben ein Problem.”