Dafür, dass mir Leandro bisher immer besonders viel Misstrauen entgegen gebracht hatte, schien er sich an diesem Abend völlig zurückgezogen zu haben. Anscheinend war er ein Mal naiv genug gewesen, um mir zu vertrauen, ohne erneut nach mir sehen zu müssen. Den heutigen Abend wollte ich genießen und keine Zeit mehr damit verschwenden, an die Konsequenzen zu denken. Ich hatte es satt mich um alles und jeden sorgen zu müssen, zu hoffen dass niemand von unseren Geheimnissen erfuhr und eine Auferstehung des Grafen ausgeschlossen wäre. Mag sein, dass mir der Alkohol nicht bekommen würde und ich es spätestens in ein paar Stunden bereuen würde, aber heute Abend hatte ich mich dazu entschieden, im Hier und Jetzt zu leben, wenigstens für diese eine Nacht.
Nickend stimmte ich Anne zu und erlaubte ihr, meinen leeren Becher wieder aufzufüllen. Ich hatte bereits einen Drink runter gekippt, der hauptsächlich aus Wodka und etwas Orangensaft bestanden hatte und mich unter normalen Umständen, schon ziemlich lustig gemacht hätte, aber bis jetzt war die Welt um mich herum noch völlig klar. Lachend schaute ich meinen Körper hinunter, als ich ein weiteres Kompliment für mein Kostüm bekam, das eigentlich Anne gegolten hätte. Doch die war viel zu sehr damit beschäftigt, Louis, ein verdammt gut aussehender Typ, der eine Stufe über uns war, schöne Augen zu machen, sodass sie gar nicht bemerkte, dass ich den ganzen Ruhm und die Anerkennung für ihre Kreativität erhielt.
Sie hatte mich in rabenschwarze Klamotten gesteckt, die sie letztes Halloween etwas aufgemotzt hatte und mir Unmengen an Schminke ins Gesicht geklatscht, mit der sie sich wohl selbst übertroffen haben musste. Immerhin fiel mir schon den ganzen Abend auf, dass die Leute ihre Blicke nicht von meinem Gesicht nehmen konnten. Vielleicht aber fanden sie auch nur die Idee, eines schwarzen Engels so bewundernswert und überlegten, ob wirklich ich auf diese Idee gekommen war.
Ein schwarzer Heiligenschein befand sich in meinem hochgesteckten Haar und machte das Outfit, zusammen mit dem schwarzen Nagellack, komplett. Meine Ärmel waren ganz weit ausgeschnitten, dass ich Schwierigkeiten bekam, nicht alle Becher von den Tischen zu reißen. Noch funktionierte meine motorischen Fähigkeiten ausgesprochen gut, doch ich fragte mich, wie lange das wohl so bleiben würde. An diesem Abend wollte ich es so richtig übertreiben. Ich war in richtiger Partystimmung und ich hatte das Gefühl, nichts und niemand könnte mich stoppen.
Langsam füllte es sich, bis es schließlich so eng wurde, dass Anne erlaubte, neben dem Garten, auch ihr Wohnzimmer mit verunstalten zu dürfen. Es war praktisch, dass Wohnzimmer und Garten nur durch eine braune Holztür getrennt wurden, sodass es ein Leichtes war, alle Partygäste miteinander zu verbinden.
„Alex spielst du mit?“, rief mir Albert begeistert entgegen und winkte mich zu sich ins
Wohnzimmer.
„Was spielt ihr denn?“
„Trinkspiel.“
„Seid ihr für so was nicht zu alt?“
„Dafür kann man gar nicht alt genug sein...“, begann Louis, der sich neben Anne auf die Couch gepflanzt hatte und legte seinen Arm um ihre Schultern, die bei dieser Berührung beinahe dahingeschmolzen wäre. Es war ungewöhnlich für sie, dass sie wegen eines Jungen nervös wurde. Trotz der lauten Musik und den erheiterten Gesprächen, hörte ich ihren schnellen Herzschlag und fragte mich, warum Louis sie so verrückt machte. Hatte sie sich etwa in ihn verschossen? Anne? Als ich mir diese Frage stellte, musste ich mich zusammenreißen nicht lauthals loszulachen. Ich meine Anne? Sie hatte sich noch von keinem Typen versetzen oder verletzen lassen, nein nur sie durfte das tun. Umso mehr wunderte es mich, dass sie für Louis tatsächlich etwas zu empfinden schien.
„Ach lass sie nur, die verträgt doch nichts“, lachte Anne gut gelaunt und kuschelte sich unsicher in seine Arme. Schnell wollte ich zum Kontern ansetzen, da fiel mir auf, dass sie Recht hatte. Ich vertrug wirklich wenig und hatte es schon so manches Mal übertrieben. Doch heute fühlte ich mich anders, stärker als sonst. Ich redete mir ein, aufgrund meiner Verwandlung, mehr zu vertragen und so beschloss ich, mich ins Vergnügen zu stürzen, ganz unabhängig von den möglichen Folgen.
„Okay wartet ich spiele mit, macht euch drauf gefasst, Sturz betrunken zu werden.“ Schallendes Gelächter breitete sich im Wohnzimmer aus und war kurz davor, die Musik zu übertönen. Mit erhobenen Kopf schritt ich ins Wohnzimmer und lief beinahe gegen eine Wand, als ich die Schwelle in den stickigen Raum betrat. Eine Mischung aus Schweiß und Alkohol stieg mir in die Nase, was mich dazu brachte, die Nase zu rümpfen und einen kritischen Blick aufzusetzen.
Ich ließ mich neben Albert, auf den Boden nieder und erlaubte mir, das Spiel ein weiteres Mal zu erklären.
Den Geruch um uns herum vergaß ich schnell und bemerkte erst wie warm mir war, als jemand von den Gästen auf die Idee kam, die Gartentür noch weiter zu öffnen.
Runde für Runde trank ich immer mehr und wurde auch von der Menge des Alkohols immer großzügiger, sodass wir schließlich auf den geheimen Vorrat von Annes Eltern zurück greifen mussten. Die Stimmung war gut, angetrunkene Leute sangen schief ein paar Texte mit und machten dazu undefinierbare Tanzbewegungen, die mit der Zeit immer unkoordinierter wurden. Ab und zu erklangen ein paar Lieder, die allen bekannt und gut genug waren, um alle in jubelnde Stimmung zu versetzen.
Jedoch hatte ich immer noch nicht genug Alkohol intus, dass ich bei den Liedern mit gegrölt und mich zum Affen gemacht hätte. Ich für meinen Teil beobachtete lieber und genoss es, den eigenartigen Gesprächen zu lauschen und in herzliches Gelächter zu fallen, wenn jemand seinen Alkoholpegel unterschätzte und bei einer gewagten Tanzbewegung zu Boden fiel. Die Gespräche um uns wurden immer verrückter und ich musste mich allmählich zusammenreißen, um nicht dauerhaft zu lachen.
Ab der dritten Runde begann ich etwas vom Alkohol zu merken und spürte, wie ich bereits nach wenigen Minuten lustiger und betrunkener wurde. Es ging so weit, dass ich mich lachend über den Boden rollte und dabei das Bier meines Nachbarns über das Display meines Handys schüttete. Ich war noch nicht betrunken genug, um die Katastrophe nicht mitbekommen zu haben. Also sprang ich energisch auf und sprintete halbwegs gradlinig, ins Badezimmer, um mein Handy vor schlimmeren Konsequenzen zu bewahren.
Glücklicher Weise war es ziemlich abweisend gewesen und so konnte ich es davor bewahren, kaputt zu gehen. Bis auf den Geruch von Bier, hatte es keinen Schaden genommen und brachte mich dazu, es behutsam und erleichtert an meinen Brustkorb zu halten.
Ich nutzte gleich die Gelegenheit, ging aufs Klo und machte mich frisch. Etwas schwarzes wischte ich unter meinen Augen weg und hoffte, Kajal und Maskara nicht völlig zerstört zu haben, aber Anne würde mich schon drauf aufmerksam machen. Lächelnd wusch ich mir die Hände mit kalten Wasser und hoffte auf diese Weise das schwindlige Gefühl los werden zu können. Doch ich blieb erfolglos und hangelte mich vorsichtig an der Wand, aus dem Bad heraus, um nicht aufzufallen, denn ich wollte unter keinen Umständen, dass jemand bemerkte, wie sehr auf einmal der Alkohol wirkte.
Den Blick starr zu Boden gerichtet, wagte ich mich Schritt für Schritt wieder zu den anderen, lief dabei jedoch direkt in Tobi´s Arme, der bereits auf mich gewartet haben musste.
„Können wir reden?“
„Waaas? Jetzt? Nö.“
„Bitte, ich...“
„Mir ist egal, was du willst, jetzt lass mich gehen“, forderte ich und wollte mich an ihn vorbei drängeln, doch seine starken Arme zogen mich zurück und stießen mich der Treppe entgegen.
„Geh hoch!“
„Lass mich, ich will weiter spielen,... ich meine trinken.“
„Komm schon“, murmelte er bettelnd und ich roch, dass er bereits auch ein paar Becher Alkohol getrunken haben musste.
„Geh ruhig, ich mach weiter für dich“, mischte sich Albert ein, der unserem Gespräch wohl gelauscht haben musste und zwinkerte mir zu, um meine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zögernd willigte ich ein und vertraute darauf, dass mir eine Pause wohl ganz gut tun würde. Also trotte ich mit Tobi zusammen nach oben und verschwand mit ihm in Anne´s Zimmer. Kurz dachte ich darüber nach, was er wohl von mir wollen würde, denn seine Äußerungen klangen fast so, als wolle er Schluss machen. Das würde mir nur gelegen kommen. Von ihm hatte ich noch nie was gewollt, auch wenn wir schon mehrere Jahre „zusammen“ gewesen waren. Vielleicht hatte er jemand anderen gefunden. Leandro hatte ich jedenfalls gezeigt, dass mich auch andere Typen haben wollten und dass er sich ranhalten müsste.
Entschlossen setzte ich mich auf ihren Schreibtischstuhl, damit er gar nicht die Gelegenheit bekam, sich neben mich setzen zu können und ich damit der unangenehmen Situation aus dem Weg gehen könnte, ihn küssen zu müssen.
„Also was willst du?“, fragte ich mit vorwurfsvollen Ton und verschränkte abwertend die Arme vor der Brust. Plötzlich fühlte ich mich wieder im Stande dazu, ein vernünftiges Gespräch führen zu können. Meine Hemmungen waren trotzdem weg und ich wusste, dass ich an diesem Abend noch viel zu oft die Wahrheit sagen würde.
„Nun es ist etwas passiert...“, begann er und setzte sich wie selbstverständlich auf ihr Bett, während er es nicht wagte, auch nur annähernd in meine Richtung zu starren.
„Du willst Schluss machen nicht war?“, fragte ich neutral und war über meine Gefühlslosigkeit ganz erschrocken. Nicht einmal etwas Traurigkeit verspürte ich, wenn ich an unsere zweieinhalb Jahre Beziehung dachte. Es nicht verwunderlich, immerhin war ich neu verliebt und war ihm in den Ferien fremdgegangen, worauf ich selbstverständlich nicht stolz war. Nein stolz war ich nur auf den Kuss, den ich in Leandro´s Anwesenheit erhascht hatte.
„Schluss? Nein, ich muss mit dir über meine Eltern reden.“
Kritisch zog ich die Augenbrauen hoch und musterte ihn von oben bis unten. Seine Haltung war schlaff, dunkle Augenringe zogen sich über sein Gesicht und die Blässe, die ihn schon seit ein paar Tagen umgab, schien seinem Aussehen nicht gerade zu schmeicheln. Plötzlich merkte ich, wie mich seine schlechte Laune zu nerven begann. Dort hockte er, wie ein Trauerkloß und erwartete wohl auch noch, dass ich ihm Trost schenken würde, aber dafür hatte ich heute und auch sonst keine Ausdauer, ich hatte genügend eigene Probleme und brauchte ihn wirklich nicht an meiner Seite, wenn er mich mit seiner Stimmung nur runter ziehen würde.
Sein trauriges Starren machte mich fast wütend und auf einmal nahm ich die pulsierende Ader an seinem Hals war, die mich zu einem Überfall verleiten wollte...
Entschieden schüttelte ich mich und versuchte damit das Verlangen tief in mir zu verdrängen. Vielleicht sollte ich Schluss machen? Ich liebte ihn nicht und seine Launen, seine Stimme, seine Haare, seine Haltung, ja alles kotzte mich an, er widerte mich beinahe an, obwohl er eigentlich nicht viel getan hatte. Doch bevor ich ihm die Worte einer Trennung an den Kopf werfen konnte, kam er mir zuvor und begann mit nassen Augen von seinen Problemen zu erzählen:
„Scheiße man... ich halte das nicht mehr aus, ich muss da raus, kann ich heute bei dir pennen?“
„Was hältst du nicht mehr aus? Geht nicht, weder meine Mum, noch mein Bruder dürfen Wind davon bekommen, dass ich hier bin. Sie haben mir verboten heute zu kommen.“
„Kann ich nicht heimlich mitkommen? Wir können auch schon jetzt gehen, wenn das besser wäre?“
„Nein! Auf keinen Fall, ich bin noch nicht mal wirklich betrunken, außerdem habe ich keine Lust zu gehen.“
„Bitte? Ich brauche dich jetzt.“
„Nein!“
„Alex bitte“, flehte er bettelnd und sah mir das erste Mal an diesem Abend, wirklich in die Augen. Ich sah seinen Schmerz und seine Sorgen, in diesen glasigen, braunen Augen, doch anstatt Mitgefühl in mir hervorzurufen, widerte mich seine Schwäche an! Und ein weiteres Mal machte sich der Durst in mir breit und spielte die Hauptrolle in meinen Gedanken. Ein Schluck? Ein bisschen von diesem metallischen Geschmack auf meiner Zunge? Ich könnte ihn hypnotisieren und alles vergessen lassen oder?
„Ein letztes Mal. Nein!“, rief ich genervt und sprang auf, um aus dem Zimmer flüchten zu können, bevor ich ihm am Hals hängen würde, so wie Leandro es prophezeit hatte.
„Hör mir wenigstens zu“, schlug er nicht wirklich überzeugend vor und bewegte sich kurz in den Stand, um wenigstens etwas von meiner Aufmerksamkeit erhaschen zu können. Unwillkürlich setzte ich mich wieder, aber nicht weil ich seinen Problemen weiterhin lauschen wollte, sondern weil mein Gleichgewichtssinn, noch immer nicht der Beste war.
„Na dann fang endlich an, ich will runter.“ Während ich ihn mir zusammengekniffenen Augen anstarrte, machte ich ihn mit dem Zeigen meiner Armbanduhr noch viel unruhiger.
„Ja ist ja gut, kannst du dir nicht einmal Zeit für mich nehmen?“
„Warum sollte ich? Du hast mich nicht einmal gefragt, was in meinem Leben los ist und für mich da, so wie du es sagst, warst du auch noch nie. Vielleicht habe ich auch Probleme?“
„Vielleicht, aber ich bin bei meinen Problemen einfach naiver und egoistischer geworden. Und genau deswegen brauche ich deine Hilfe.“
„Das bin ich auch.“
„Und jetzt?“
„Weiß nicht, mich nach meinen Problemen zu fragen wäre absurd, nicht wahr?“
„Nein, was bedrückt dich?“, fragte er plötzlich empathisch und wischte sich die Tränen weg, als würde ich dadurch seine Schwäche vergessen.
„Unwichtig.“
„Meine Eltern lassen sich scheiden“, rief er in den Raum und brachte mich zum zusammenzucken, da bereits einige Sekunde Stille zwischen uns geherrscht hatte und ich in meiner Welt versunken gewesen war. Mit großen Augen starrte ich in seine und brauchte einen Moment, bis ich die Bedeutung seiner Worte verstand. Als sie begannen Sinn zu machen, wurde ich fast zornig und fragte mich, warum er in meiner Gegenwart heulen musste. Ich hatte schon lange aufgehört über meine Worte und ihre Auswirkungen nachzudenken, dass ich die ersten Gedanken einfach heraus brüllte und erst viel zu spät merkte, wie taktlos ich gewesen sein musste.
„Deswegen heulst du rum? Wie alt bist du? Fünf?“
„Ich... ich verstehe nicht.“
„Sei froh, dass sie noch leben, Liebe vergeht nun mal, du kannst sie sehen wann immer du willst.“ Meine Worte verstummten und ich verstand, dass ich beinahe etwas über den Tod meines Vaters erzählt hätte. Ich wollte nicht, dass jemand etwas davon erfuhr, sie würden mich nur mit anderen Augen sehen und hätten keine Ahnung, wie sie mit mir reden sollten. Eigentlich war es sogar gut, dass es Leandro nicht im Geringsten interessierte. So erinnerte er mich nicht ständig an ihn und ich bekam nicht das Gefühl, er würde mich für schwach halten. Mit Sicherheit dachte er das sowieso von mir, aber es lag nicht an seinem Tod, der mich tatsächlich schwach und verletzlich machte.
„Ich denke wir sollten das zwischen uns beenden“, entschloss ich und warf der Tür mir gegenüber, einen sehnsuchtsvollen Blick zu, die mich aus dieser unangenehmen Situation befreien könnte. Vielleicht war es nicht besonders einfühlsam genau jetzt Schluss zu machen, aber es war das Beste für mich und in dieser Welt hatte ich gelernt, egoistisch sein zu müssen, um überleben zu können. Außerdem war es die Wahrheit, ich wollte und konnte ihm nichts mehr vor machen, weder für ihn, noch um Leandro eifersüchtig machen zu können. Es war nicht besonders heldenhaft gerade jetzt Schluss zu machen, nein es war sogar feige, weil er sich wohl kaum mit Worten oder überzeugenden Alternativen wehren konnte, aber es war das Einfachste. und er war mir doch eh völlig egal geworden. Außerdem gab es keine Helden, wie alle waren wir nur Wesen, die Fehler machten und falsche Entscheidungen trafen. Es gab eine Zeit, in der waren wir gute Freunde gewesen und manchmal hatte ich ihm mehr erzählt, als Anne. Eigentlich waren wir nur zusammengekommen, weil es alle aus unseren Umfeld gerne so gehabt hätten und weil wir damit unseren eigenen Ruf pushen wollten. Von Anfang an war uns klar gewesen, dass wir nur Freunde waren und nur so taten, als wären wir mehr. Was konnte ich dafür, dass er plötzlich Gefühle für mich hatte?
„Jetzt willst du auf einmal Schluss machen? Ausgerechnet jetzt?“
„Ja, ich liebe dich nicht und ich habe mich neu verliebt, es wäre wohl unfair dir weiterhin etwas vorzumachen oder?“ Es war der Alkohol, der es mir ermöglichte so direkt zu sein, unter normalen Umständen hätte ich wohl Ewigkeiten herumgedrucks und mich am Ende hinter meiner Feigheit versteckt. So wie wir alles es taten. Wahrscheinlich wäre ich sogar einfühlsamer zu ihm gewesen, weil ich wusste, wie beschissen es sich anfühlte so behandelt zu werden. Aber ich war es satt, die zu sein, die sich um alle kümmerte. Um mich hatte sich auch niemand gekümmert.
„Weiterhin? Wie lange geht denn das schon zwischen dir und diesem mysteriösen Typen?“ Weiterhin, das hätte ich nicht sagen sollen, aber es war nun mal die Wahrheit und jetzt zu spät.
„Nicht lange, seit den Ferien.“
„Wow, wirklich taktlos von dir.“
„Ich weiß, aber das ist mir egal. Du bist mir egal“, sagte ich, während ich ihm tief in die Augen schaute. Es waren die Worte gewesen, die ich eigentlich Leandro hätte sagen sollen. Er war der einzige, der diese Worte verdient hatte. Doch ihm konnte ich diese Worte nicht sagen. Mit einem versteinerten Blick stand ich auf und lief zur Tür. Gerade als ich sie öffnen wollte, stand er vor mir und zog mich zurück, bis er mich gegen die Wand stemmte und mir drohend nah war.
„Bitte geh nicht.“
„Lass mich los!“, brüllte ich empört von seiner übergriffigen Art und versuchte mich aus dieser unangenehmen Enge zu befreien. Er presste meine Hand gegen die Wand und drückte mich meinen Beinen immer enger an sie, sodass ich keine Möglichkeit hatte mich bewegen zu können.
„Du darfst nicht Schluss machen!“, brüllte er mir wütend entgegen und brachte mich mit diesem Verhalten zum Staunen. Es passte nicht zu ihm und ich fragte mich, ob ich immer nach seiner Pfeife getanzt hatte, da ich diese Seite an ihm nicht kannte. Der Geruch von Alkohol stieg mir in die Nase und vermischte sich mir meinem Atem, als er mich anhauchte und sein Gesicht plötzlich so nah an meinem war, dass ich erneut die Befürchtung bekam, ihn küssen zu müssen.
„Ich tue es aber und mir ist egal was du für Probleme hast. Ich habe meine eigenen und brauche Abstand zu dir.“
Seine kalte, linke Hand legte sich auf meine Wange und er zwang mich in seine dunklen, müden Augen zu schauen.
„Aber ich liebe dich.“ Seine raue Stimme fand den Weg zu meinen Ohren und erinnerte mich an vergangene, gemeinsame Zeiten. Überschwänglich zog er mich in seine Arme und gab mir die Geborgenheit, nach der ich mich von jemand anderen sehnte. Es war das erste Mal, dass er mir bei diesen Worten in die Augen gesehen hatte und ich genau wusste, dass er es so meinte, wie er es gesagt hatte. Einen kurzen Augenblick erlaubte ich mir in den Armes des falschen Jungens zu liegen und sein teures Parfum einzuatmen,... aber es war nicht der, den ich wollte. Als ich mir das endgültig eingestand, löste ich mich aus der lockeren Umarmung, ging auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Ich spürte seine salzigen Tränen auf meinen Lippen, wischte sie weg und verschwand ohne mich umzudrehen. Auf dem Weg nach unten wischte ich meine eigene Träne weg, die bei dem Gedanken daran entstanden war, was ich nicht hatte, nie bekommen würde und setzte mein gewohntes Lachen auf, was sie kannten und mochten.
„Ich brauche mehr Alkohol!“, rief ich in die Menge und erntete dafür einen kräftigen Applaus von den Gästen, die zu dieser motorischen Fähigkeit noch im Stande waren. Verbeugend lief ich zu den anderen, die immer noch unermüdlich spielten und sich bereits über die einfachsten Worte amüsieren konnten.
„Bei der nächsten Runde spiele ich mit“, verkündigte ich siegessicher und beobachtete Albert, der gerade zu zehn Shots aufgefordert wurde.
Während ich zu Beginn des Spiels noch nach Tobi Ausschau gehalten hatte, vergaß ich ihn und beschloss mich darauf zu konzentrieren, die Zahlen und Motive auf den Karten entziffern zu können.
„Noch ne Runde“, grölte ich laut und versuchte damit alle Teilnehmer dazu anzustacheln weiter zu spielen. Diese Runde hatte ich ganz schön einstecken müssen und deswegen war ich bereit die anderen zu einem weiteren Spiel herauszufordern, irgendwie musste ich mich schließlich revanchieren können.
„Na gut, hol Alkohol“, lallte mir Anne fast eingeschlafen entgegen und nickte mit ihrem Kopf zur Küche. Ich kannte ihr Haus fast auswendig und so sollte es nicht weiter schwierig sein, den Alkohol zu finden. Nur überkam mich langsam heftiger Schwindel und meine Welt fing an sich zu drehen. Völlig unkontrolliert versuchte ich mich in den Stand zu bewegen und landete dabei unachtsamer Weise auf Alberts Schoß, der zu lachen begann und mir freundlicher Weise aufhalf.
„Bor mir ist übel“, beschwerte ich mich nuschelnd und hatte nicht erwartet, dass mich überhaupt jemand verstanden hatte.
„Okay ich denke das reicht fürs erste, vielleicht solltest du eine Pause einlegen“, schlug Albert beschützend vor und griff mir unter die Arme, bevor ich ihm ein weiteres Mal in den Schoß gefallen wäre.
„Ich weiß schon wann genug ist, ich vertrag noch.“
„Hm, das merkt man ja.“
„Ich will spazieren“, murmelte ich im selben Moment, in dem mir diese Idee gekommen war.
„Na gut, hol deine Jacke,... ach setz dich noch mal, ich sie.“ Mit diesen verantwortungsvollen Worten machte er sich auf den Weg. Ich war erstaunt dass er noch bei klarem Verstand war, immerhin hatte er auch ganz schön was hinter gekippt, aber wahrscheinlich vertrug er einfach mehr als ich.
„Ey Jana?“, flüsterte ich kichernd und wendete mich dem braunhaarigen Mädchen, neben mir, zu.
„Was?“
„Schließ- die Augen.“ Mit verwirrten Stirnrunzeln folgte sie meinen Anweisungen und wippte neugierig auf dem ungemütlichen Holzstuhl herum.
„Und jetzt?“
„Spürst du das?“
„Ähm nein, was meinst du?“
„Das Karussell“, antwortete ich mit der größten Ernsthaftigkeit, die ich an diesem Abend noch finden konnte und legte meine rechte Hand unterstützend auf ihre Schulter. Meine versteinerte Miene löste sich in wenigen Sekunden auf, als Jana ihr Getränk vor Lachen beinahe durch den ganzen Raum schoss und mir Albert auffordernd seine Hand reichte.
Wie ein echter Kavalier half er mir in die Jacke rein und schloss den Reißverschluss. Er warf mir den Schal über und zusammen liefen wir auf die Terrasse, in den Garten und schließlich auf die Straßen.
Die frische Nachtluft legte sich auf meine glühenden Wangen und kühlte sie angenehm. Obwohl wir die Tür zum Garten geöffnet hatten, war es in diesem Raum furchtbar stickig gewesen, doch das hatte mich nicht gestört, bis ich mich wieder daran erinnerte, wie sich frische Luft anfühlte. Ich versuchte mich auf den gepflasterten Boden unter unseren Füßen zu konzentrieren, um nicht über angehobenen Platten zu stolpern, jedoch waren meine eigenen Füße eher das Problem, die mich das ein oder andere Mal zum Stolpern brachten.
Irgendwann konnte Albert mein Torkeln nicht mehr ertragen, griff nach meiner schwitzigen Hand und verschränkte seine Finger mit meinen, ehe er sie in seine Jackentasche stopfte. Eigentlich war ich mir sicher, dass es auch einen anderen Weg gegeben hätte, um mich stützen zu können, aber es war mir nur recht so.
„Was hast du mit Tobi gemacht?“
„Gar nichts“, verteidigte ich mich schnell, da sein Worte einen Hauch von Vorwürfen widerspiegelten.
„Er kam mit Tränen in den Augen die Treppe hinunter gestürzt und sprach kein einziges Wort mit mir.“
„Pech, ich hab Schluss gemacht.“
„Was warum?“, fragte er mit weit aufgerissenen Augen und blieb stehen. Sein erschrockener Gesichtsausdruck amüsierte mich und so konnte ich mein herzhaftes Lachen nicht mehr unterdrücken. Seine plötzliche Ernsthaftigkeit war beinahe suspekt, da er für gewöhnlich alles ins Lächerliche zog.
„Ist etwas zwischen euch vorgefallen?“
„Verhörst du mich?“, lachte ich und legte meine Hand dabei sanft auf seine Schulter, während ich in seine verblüfften, grünen Augen schaute.
„Kannst du mal ernst bleiben? Du weißt, dass er gerade eine schwere Zeit durchmacht? Meinst du nicht, dass so etwas momentan zu taktlos ist?“
„Keine Ahnung, mir egal, mich fragt auch niemand nach meinen Problemen, außerdem habe ich keine Gefühle für ihn.“
„Wirklich? Hast du dich etwa neu verliebt?“
„Hm.“
„Hättest du es nicht noch ein paar Wochen mit ihm aushalten können? Seine Eltern trennen sich, das ist für ihn alles andere als leicht.“
„Mach du jetzt nicht auch noch son Drama draus. Er hat sie noch.“
„Wie meinst du das?“
„Mein Vater ist tot und ich stehe auch noch hier“, zischte ich ihn an, obwohl er nicht im Geringsten etwas dafür konnte. Noch im selben Moment schlug ich mir die Hand vor den Mund, da ich mir eigentlich geschworen hatte, niemanden davon zu erzählen. Scheiß Alkohol!
„Oh mein Gott Alex, geht es dir gut?“
„Lass das gefälligst!“
„Wie, also...“, begann er und verstummte wieder. Das war genau das, von dem ich gesprochen hatte. Niemand wusste, wie er darauf reagieren sollte. Und Albert anscheinend auch nicht.
„Gehen wir im Viereck?“, versuchte ich vom Thema abzulenken und lief wieder los. Am liebsten wäre ich gleich wieder umgedreht, aber dann wäre es wohl zu offensichtlich gewesen, dass ich vor diesem Thema weglaufen wollte. Zusammen bogen wir rechts ab und schweres Schweigen machte sich zwischen uns breit. Ohne seine Gedanken lesen zu können, wusste ich genau, dass er nachdachte, wie er mich am besten zum Reden bringen könnte. Doch eins war klar, wie viel Alkohol ich auch noch trinken mochte, es würde kein Wort mehr über meinen Vater fallen.
Nach einigen ungeraden Schritten versuchte er seine Frage noch einmal zu formulieren, doch ich unterbrach ihn, bevor er auch nur die ersten drei Worte beenden konnte:
„Lass uns über was anderes reden.“
„Nein. Jetzt verstehe ich auch, warum du zu Tobi so kalt gewesen bist.“
„Ach ja? Kann man das überhaupt verstehen?“
„Ja, du hast einfach eigene Probleme. So einen Tod steckt man nicht so einfach weg.“
„Kann sein, aber ich will nicht darüber reden.“
„Das musst du aber irgendwann.“
„Wieso will mir jeder sagen, was ich tun muss? Ja vielleicht muss ich das irgendwann, aber nicht heute und nicht jetzt“, antwortete ich entschlossen.
„Na gut... und worüber sollen wir dann reden?“
„Vierecke vielleicht?“
„Was? Wie meinst du das?“, lachte er und plötzlich hatte er wieder seine lustige und aufmunternde Art an sich. Die Wirkung des Spiels spürte ich nun immer deutlicher und Albert musste es auch an meinen Worten gemerkt haben. Sie wurden immer unverständlicher und irgendwann ging es in ein kräftiges Lallen über, dass er unmöglich voll und ganz verstanden haben konnte. Das tat ich nicht einmal selbst.
Bis kurz vor dem Gartentor textete ich ihn mit sinnlosem Zeug zu und versuchte annähernd ernst über die Benachteiligung der Vierecke und Dreiecke, gegenüber den Kreisen, zu diskutieren. Letztendlich einigten wir uns darauf, dass es ein Halbkreis am besten hatte, da er sowohl Rundungen, als auch Ecken besaß. Es war ein komisches Thema, aber wir hatten unseren Spaß damit und das war wohl die Hauptsache.
Lachend legte ich die Hand auf die Klinke des Gartentors und öffnete es einen Spalt, doch bevor ich einen Schritt auf Anne´s Grundstück machen konnte, zog er mich an der Hand zur zurück. Vorsichtig strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und starrte mir plötzlich so intensiv in die Augen, dass er mich an die Momente mit Leandro erinnerte.
„Ich mochte dich schon immer sehr.“
„Wirklich?“, lachte ich ungläubig auf einmal so viel Aufmerksamkeit von ihm zu bekommen. Doch mein Lachen verschwand, als ich bemerkte, dass er es tatsächlich ernst zu meinen schien, unabhängig vom Alkohol. Ich spürte wie ich nervöser wurde und die Sicherheit, die ich nur den besonderen Getränken zu verdanken hatte, verschwand. Aber warum machte er mich plötzlich so nervös? Ja natürlich mochte ich ihn oder ja eigentlich mochte ich ihn auch nicht. Ich wusste nicht mal ob ich ihn überhaupt mochte, doch aber nicht in die Richtung. Ganz sicher nicht in die Richtung, in die das Ganze führen sollte. Oder etwa doch?
„Ja, was ist mit dir?“
„Keine Ahnung?“ Meine Worte verstummten und schon war sein Gesicht meinem so nah, dass unsere Lippen nur noch durch wenigen Millimetern getrennt wurden. Sekundenlang starrten wir uns in die Augen, ohne das ich wusste, was dieser intensive Blick bedeuten sollte. Die Lächerlichkeit zwischen uns war komplett verschwunden und stattdessen nahmen wir alles ernst. Lächelnd strich er über meine Wange und kam mir immer näher. Langsam schloss ich die Augen, als sich unsere Lippen sachte trafen und dachte für einen Augenblick an nichts.
Ich wurde ruhiger, als wir uns von einander lösten und ich mit rotem Gesicht den Garten von Anne betrat. Die Situation wurde noch unangenehmer, als ich plötzlich meine Mutter und Leandro vor mir entdeckte, die gerade mit einem halbwegs nüchternen Partygast diskutierten.
„Scheiße“, murmelte ich und wollte gerade wieder umdrehen, doch da ertappten mich schon Leandro´s blickige Augen.
„Du bleibst hier!“, schrie meine Mum, als auch sie mich sah. Wütend kamen sie auf mich zu gestampft und verschränkten beide ihre Arme vor der Brust, als wären sie die Polizei. Ich musste mich zusammenreißen nicht mit den Augen zu rollen, schließlich war ihre Besorgnis völlig grundlos.
„Was denkst du dir eigentlich? Ich habe es dir verboten! Was ist nur los mit dir?“, brüllte meine Mutter und stellte noch viele weitere Fragen, für die sie mir keine Zeit zum antworten ließ. Ihren Worten jedoch schenkte ich keinerlei Aufmerksamkeit, sondern konzentrierte mich nur auf Leandro und seinen merkwürdigen Blick. Sah ich da etwa Eifersucht in seinen Augen? Sein „Ich hab´s dir doch gleich gesagt“ Lächeln war verschwunden und stattdessen hatten sich tiefe, nachdenkliche Falten, rund um seine Augen, gebildet als er unsere verschränkten Finger bemerkt hatte.
Schnell löste ich mich aus dieser Haltung und verstaute meine Hände in den Jackentaschen, aber auch dieses Verhalten, änderte nichts an seinem verblüfften Gesichtsausdruck. Plötzlich musste ich anfangen zu lächeln. Er war eifersüchtig. Wieder. Und er hatte mich mit einem weiteren Jungen gesehen. Egal wie cool er sich auch aufspielen mochte, er konnte nicht verheimlichen, dass ihm etwas an mir lag.
„Was ist daran so lustig? Fräulein das gibt Ärger und Hausarrest!“
„Hm“, brummte ich nur, konnte dieses nervige Lachen jedoch nicht ablegen. Die Strafe, die sie mir androhte, interessierte mich nicht die Bohne, da meine ganze Aufmerksamkeit daran verschwendet wurde, den Gesichtsausdruck von Leandro zu analysieren.
„Wo ist Anne, he?“
„Drinnen“, antwortete ich knapp, da ich die Hoffnung hegte, ihr weiß machen zu können, nichts getrunken zu haben. Ein Versuch war es jedenfalls wert.
Schnell packte sie meine Hand und zog mich hinter sich her, in das Wohnzimmer hinein. Ich erschrak ein wenig, als ich sah, dass Anne und Louis heftig am rumknutschen waren und meine aufbrausende Mutter noch gar nicht bemerkt hatten.
„Scheiße, wenn das deine Eltern erfahren!“, drohte sie und brachte die beiden dazu, sich von einander zu lösen.
„Die wissen“, fing sie an, doch endete schnell in einem Lachanfall, der mich dazu anstiftete, mit einzustimmen.
„Wir gehen“, beschloss meine Mutter, als sie bemerkte, dass niemand von uns wirklich zurechnungsfähig war. Meine Rechnung war also blöder Weise nicht aufgegangen und schon jetzt wusste ich, dass sich die Strafe mindestens verdoppeln würde. Hauptsache sie würde ihre Moralpredigt nicht unendlich weit ausdehnen.
Schweigend folgten Leandro und ich meiner Mum zum Auto, die mir während der Fahrt nach Hause noch einen ewig langen Vortrag darüber hielt, wie unvernünftig und wagemutig ich wohl gewesen war. Leider würde sie mir genau das Gleiche am nächsten Morgen, mit mörderischen Kopfschmerzen, auch erzählen. Ihre schrille Stimme ignorierte ich irgendwann und versank nur noch in meinen träumerischen Gedanken, in denen ich mir ausmalte, wie eifersüchtig und sauer Leandro war.