Natürlich war mir klar gewesen, dass diese Party Folgen mit sich zog, doch die Strafe, die meine Mutter angesetzt hatte, war wirklich übertrieben. Zwei Wochen lang durfte ich das Haus nicht verlassen, mit Ausnahme der Schule natürlich. Und als würde das nicht schon reichen, hatte sie mir auch noch zu allem Überfluss, das Handy weggenommen. Demnach war ich ziemlich eingeschränkt gewesen, was das Aufrechterhalten meiner sozialen Kontakte anging und hatte so einigen interessanten Tratsch verpasst.
Mit seinen Überredungskünsten hatte Leandro meine Mutter dafür begeistern können, meine täglichen Sporteinheiten weiter führen zu dürfen. Wahrscheinlich waren sie sich beide einig, dass ich auf diese Weise noch weiter gequält werden könnte. Mit der Zeit besserte sich mein Zustand und auch wenn ich es nicht zugeben mochte, so hatten diese Erfolge etwas mit dem zusätzlichen Training zu tun. Mein Hunger trat immer weiter in den Hintergrund und so wie es Leandro versprochen hatte, wurde ich ausgeglichener und bekam mit jedem Tag, mehr Energie. In den zwei Wochen hatte mir Leandro einiges bei gebracht. Natürlich kam ich immer noch nicht ansatzweise an seine Fähigkeiten ran, jedoch merkte ich Verbesserung.
Man hätte denken können, dass dieses ständige Trainieren uns näher gebracht hatte. Doch stattdessen hatten wir uns immer weiter von einander entfernt. Zwischen uns war es noch komischer geworden und ich fing an darüber nachzudenken, wie er wirklich war. Wie er wohl war, wenn er sich nicht verstellte und wenn er mich nicht anlog. Am Anfang war er der netteste Mensch auf Erden gewesen, dann hatte er mir seine Arschlochseite gezeigt und jetzt war er plötzlich ganz unsicher und kleinlaut geworden. Vielleicht wusste er selbst nicht mal, wer er war oder wer er sein wollte. Bis vor kurzem hatte ich gedacht, er hätte für alles einen Plan, er wusste, wie er sich zu geben hatte, damit ihn andere Leute mochten. Doch an dieser Schule war er auf einmal so schüchtern und unsicher. Er redete kaum mit den anderen und warf mir den ganzen Tag nur eifersüchtige Blicke zu. Es ist nicht, dass ich diese Eifersucht in seinen Augen nicht genossen hätte, aber ich gestand mir langsam ein, dass ich ihn nicht bekommen würde, wenn ich ihn die ganze Zeit vor den anderen demütigen würde.
„Alex?“, riss mich Anne´s laute Stimme aus den Gedanken und brachte mich zum zusammenzucken. Sachte hatte sie mich an der Schulter angetippt und blickte mir mit großen Augen entgegen.
„Was?“
„Du sollst nach vorne“, flüsterte sie heiser und deutete leicht mit dem Kopf auf unsere Lehrerin, die mit verschränkten Armen vor der Tafel stand und zusammen mir allen anderen Schülern, meine Person musterte. Warum nahm sie mich diese Woche schon zum zweiten Mal dran? Unsicher blickte ich in die Runde und bemerkte, dass jeglicher Augenschein auf mir lag. Die raue Stimme unserer Mathelehrerin verstummte und mit ihr, die leisen Gespräche um uns herum.
Augen rollend bewegte ich mich von meinem, gerade angewärmten, Stuhl hoch und schlich Schritt für Schritt meiner Demütigung entgegen. Ich war verdammt mies in Mathe und allen Fächern, die mit logischen Denken zu tun hatten. Lang genug hatte ich mich darum bemüht, die Welt der Zahlen zu verstehen und mich damit zu arrangieren, die Buchstaben in meine Rechnungen aufzunehmen. Und jedes Mal war ich kläglich gescheitert. Langsam hatte ich keine Lust mehr darauf, wie sehr ich mich auch bemühte, es wollte einfach nicht in meinen Kopf rein. Es war sowieso jedes Mal das Gleiche. Ich schrieb die selben, schlechten Noten, ich wurde jedes Mal bloß gestellt und verstehen tat ich schon lange nichts mehr. Also war mir bereits vor einiger Zeit nichts anderes mehr übrig geblieben, als die Kapitulation.
„Heute vielleicht noch?“, drängelte sie schwer atmend und rückte etwas weiter von der Tafel weg, damit sie mir auch ja keine Hilfe geben konnte.
Ich hasste sie. Sie war genau die Art von Lehrerin, die man einfach nicht mögen konnte. Sie ging nicht auf ihre Schüler ein, sie beharrte immer auf ihrem Recht und sie hatte stets diesen unfreundlichen Ton an sich. Jedes Mal ging ich mit einem mulmigen Gefühl in ihren Unterricht und wünschte mir unsichtbar sein zu können. Doch das ging nicht und so hatte ich mir meine Freundlichkeit abgewöhnt und trat ihr mit der gleichen, unfreundlichen Art gegenüber, wie sie der ganzen Klasse gegenübertrat.
Meine Schritte wurden immer schwerer und langsamer. Ich wollte nicht nach vorne gehen, ich wollte ihr endlich mal die Meinung sagen!
Einen kurzen Blick wagte ich auf die Uhr, eine halbe Stunde noch. So lange könnte ich den Weg bis zur Tafel nicht herauszögern.
Die weißen Gleichungen kamen allmählich immer näher und mit ihnen wuchs die Gewissheit, nichts von all dem jemals verstehen zu können.
Welcher Idiot war auch auf die Idee gekommen, das Alphabet mit Zahlen zu vermischen? Ist ja nicht so, dass Rechnungen ohne x und y schon schwer genug wären.
„Eine plötzliche Erleuchtung können wir getrost ausschließen, nicht war?“ Leises Gelächter machte sich im Raum breit.
„Von Ihnen oder von mir?“, fragte ich frech und brachte damit dem Gelächter etwas Aufschwung. Diese Lehrerin hatte ohnehin keinen guten Eindruck von mir und war nicht bereit, die Fünf auf dem Zeugnis ändern zu wollen, also könnte mir kaum noch was passieren, wenn ich ihr wirklich mal die Meinung sagte.
„Von Ihnen natürlich, ich habe mein Abitur schon lange in der Tasche und mache diese Aufgaben im Schlaf.“
„Ach ja?“ Die Klasse verstummte und folgte gespannt dem kleine Duell zwischen ihr und mir, während sie innerlich wohl alle hofften, dass wir eskalieren und ich zum Direktor geschickt werden würde.
„Ist das etwa so überraschend?“
„Weiß nicht, wenn Sie es so gut können, warum lassen sie mich dann diesen Scheiß rechnen?“
„Wie bitte?“, fragte sie verdutzt.
„Wenn sie diese Rechnungen so einfach finden, dann rechnen sie doch einfach selbst“, wiederholte ich und lehnte mich lässig gegen die Tafel, während ich sie mit provokanten Blicken musterte.
„Setzen Sie sich, Sie sind träger als meine Mutter und die feiert bald ihren 80igsten“, antwortete sie nach kurzer Zeit und zeigte auf meinen leeren Platz. Heute war ich um die Aufgaben rum gekommen, doch schon morgen würde sie mich wieder an die Tafel holen, da war ich mir sicher. Kopfschüttelnd schritt ich an den Bänken vorbei und steuerte zielstrebig meinen Sitzplatz an.
„Bah, hat die heute wieder mal Mundgeruch“, murmelte ich flüsternd, aber gerade so laut, dass es die richtigen Leute verstehen konnten.
„Alex, haben Sie noch was zu sagen? Doch ein Geistesblitz?“
„Nee, meine Worte sollten nicht an sie gehen.“ Auf meine Bemerkung ging sie nicht näher ein und fuhr mit ihrem langweiligen Unterricht fort. Da sie mich nicht hatte blamieren können, brauchte sie ein weiteres Opfer und wählte dafür den armen Dustin. Er verstand noch weniger von Mathe und stand jedes Mal unbeholfen vorne. Zum Glück hatte er viel Humor und so würde er das Ganze nicht allzu eng sehen, trotzdem tat er mir leid.
Ihre Stunden machte mich immer am schläfrigsten und so war es ein wahrer Kampf, nicht wegzunicken. Das grelle Licht brannte in den Augen, draußen war es trüb und regnerisch und ihr monotones Geschwafel brachte einen schnell dazu, die Konzentration zu verlieren. Während an der Tafel komische Gleichungen angeschrieben wurden, richtete ich meinen Kopf zum Fenster und beobachtete das Treiben auf der Straße, damit ich nicht komplett einschlafen würde.
Ich wurde erst wieder aufmerksam, als mitten im Unterricht die Tür aufgemacht wurde und Tobi verschlafen den Raum betrat. Seit zwei Wochen hatte er keinen Fuß mehr in diese Schule gesetzt. Die Lehrer hatten sich schon Sorgen gemacht, da er kein Sterbenswörtchen von sich gegeben hatte, doch anscheinend war er unversehrt.
„Schön, dass Sie uns auch mal wieder beehren. Und der Grund für Ihr Zuspätkommen lautet?“ Ihren Worten verlieh sie mit einem übertrieben, lauten Räuspern die nötige Aufmerksamkeit, um sich dort vorne mir ihrem Gehampel völlig lächerlich zu machen. Ihre übertriebenen Gesten hatten schon so manche verklemmten Schüler zum Lachen gebracht, nur Tobi konnte sie heute damit nicht unterhalten.
Als ich mitbekam, dass er ganz rot wurde, weil all die Aufmerksamkeit auf ihm lag, hörte ich auf zu lachen und verfolgte das Gespräch nur noch. Eigentlich sollte er mir egal sein, das war er auch, also auf diese eine bestimmte Art und Weise, trotzdem tat er mir leid und ich fühlte mich dafür verantwortlich, dass er nicht versuchte sich irgendwie gegen diese Blamage zu wehren, denn so war er eigentlich nicht. Er war einer von den Wenigen, die kein Blatt vor den Mund nahmen und dafür auch ein paar ausgedehnte Gespräche mit der Leitung auf sich nahmen. Das war eine der Sachen, für die ich ihn bewundert hatte, aber heute war von diesem Tobi nichts mehr übrig.
Er war still, zurückgezogen und ganz kleinlaut. Seine Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen, damit niemand die dunkeln Augenringe und roten Augen bemerkte. Mir hatte er nur einen kurzen Blick geschenkt, ehe er den Rest des Weges nur stumm zu Boden gestarrt hatte.
„Bekomme ich heute noch eine Antwort?“ Ohne sich von diesen drängenden Worten hetzen zu lassen, packte er gemächlich aus und setze sich schließlich in völliger Ruhe, ehe er die Kopfhörer ausstöpselte und sie zusammen mir dem Handy im Rucksack verstaute.
„Das Auto ist nicht angesprungen.“
„Ja und?“
„Wie sollte ich denn ohne Auto zur Schule fahren?“
„Können Sie das nicht nach her klären, ich will diese Aufgabe noch schaffen“, erklang eine piepsige Stimme, zwei Reihen vor uns, verstummte jedoch sofort, als Anne sich zu beschweren begann und ihre zwei großen Papierkugeln nach vorne feuerte.
„Halt die Klappe Tina.“
„Ey“, murmelte ich erschrocken von ihren Worten, die plötzlich mit so viel Hass und Wut gefüllt waren, dass ich Anne gar nicht wiedererkannte. Klar, sie war kein Engel, doch so redete sie nie mit Tina, in Gegenwart einer Lehrerin. Sonst hatte sie immer diesen Ton an sich, der vermuten ließ, dass sie nur die Hälfte ihrer Worte ernst meinte.
„Du auch, du nervst!“, zischte sie und warf mir einen wutentbrannten Blick zu.
„Sag mal geht’s noch? Hör auf so mit mir zu reden, ich habe dir nichts getan.“
„Klappe jetzt!“, keifte sie. Was hatte ich ihr denn getan?
„Ruhe!“, rief die Lehrerin unsere Klasse wieder zur Ordnung und widmete sich dann Tobi, der auf den ganzen Unfug keine Lust hatte.
„Das ist mir egal und wenn Sie zwei Stunden früher aufstehen müssen, Sie müssen alles mit einplanen!“ Mit diesen Worten schnappte sie sich den Schwamm und begann die Tafel fein-säuberlich abzuwischen.
„Wie soll er bitteschön einplanen, dass sein Auto nicht anspringen könnte?“, versuchte ich ihn zu verteidigen, als sich wieder mein schlechtes Gewissen meldete und warf ihm mitleidige Blicke zu, die er gar nicht wahrnahm.
„Wie, ist mir egal, Hauptsache er kommt pünktlich, ansonsten heißt es beim nächsten Mal nachsitzen!“
„Das ist doch...“, begann ich entschlossen, sie dieses eine Mal anschnauzen zu können, zu Recht wie ich fand, aber Leandro fasste mich am Arm, zog mich wieder runter auf den Stuhl und murmelte:
„Lass sie doch einfach, das bringt doch eh nichts.“ Kopfschüttelnd tat ich das, was er von mir wollte. Die Schulklingel löste das Gespräch auf und brachte Chaos in die Klasse.
„Kommst du?“, drängelte Anne, die ihre Tasche schon gepackt über die Schulter geworfen hatte und mich nun mit einem Kopfnicken hetzen wollte. Seufzend erhob ich mich und stellte die Tasche auf den Tisch, um auch meine Sachen einpacken zu können.
„Ihr könnt ruhig schon vorgehen, ich will noch kurz mit Tobi reden.“
„Bitteschön, red doch mit deinem Tobi. Kommt, versöhnt euch doch und knutscht wild und unendlich glücklich in den Pausen rum, nur bleib du mir fern damit“, schrie sie mit schriller Stimme und verschwand, zusammen mit ein paar Freunden, aus dem Raum. Völlig perplex stand ich da und sah den Massen zu, wie sie den Raum verließen. Was war plötzlich los mit ihr? So war sie mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr angegangen.
„Hey warte mal“, rief ich Tobi hinterher, als ich so lange geträumt hatte, bis er fast weg gewesen wäre.
„Was ist?“, zischte er und blieb mitten im Türrahmen stehen.
„Wie geht’s dir?“
„Wie soll`s mir schon gehen? Außerdem interessiert dich das sowieso nicht.“
„Natürlich interessiert mich das, hör zu ich...“
„Lass es einfach ja? Ich habe keinen Bock mir irgendwelche Lügen anzuhören, werd glücklich mit deinem Albert und lass mich in Frieden“, antwortete er geknickt und lief weiter.
„Albert? Wo hast du das denn her?“
„Tobi warte!“
„Eyy du kannst doch jetzt nicht gehen!“, rief ich ihm hinter her, als er immer noch nicht stehen bleiben wollte.
„Tobi?“
„Würden Sie jetzt bitte den Weg frei machen, ich habe besseres zu tun, als ihrem Beziehungsdrama zusehen zu müssen.“
„Ist ja gut, ich wollte sowieso gerade gehen“, murmelte ich seufzend und machte einen Schritt zur Seite. Was war sein verdammtes Problem? Ja okay ich gebe zu, dass ich nicht gerade freundlich und empathisch zu ihm gewesen war, aber jetzt versuchte ich doch wenigstens ein Gespräch zustande zu bekommen. Wenn er für mich doch tatsächlich noch etwas empfand, warum wies er mich dann ab? Kopfschüttelnd betrat ich den nächsten Raum, wo bereits eine Lautstärke herrschte, die selbst der Hausmeister, im obersten Stockwerk, mitbekommen haben musste.
Ich starrte in das Gewusel rein und versuchte mich krampfhaft daran zu erinnern, wo ich saß. Wie ein Schlag ins Gesicht fiel es mir plötzlich ein. Wir hatten Psychologie, das einzige Fach, für das ich Anne und den Rest unserer Clique nicht begeistern konnte. Leandro besetzte diesen Kurs auch nicht und so hatte ich mich nach den Ferien neben Albert gesetzt.
Fuck, das würde einfach absolut komisch werden. Die zwei Wochen über hatte ich versucht ihm aus den Weg zu gehen und das hatte gut funktioniert, da Psychologie die letzten zwei Wochen ausgefallen war, doch jetzt kam ich um ein Gespräch mit ihm nicht mehr herum. Auffallend oft hatte ich über diesen Abend nachdenken müssen. Sollte ich ihn darauf ansprechen? Oder wäre es besser dieses Thema totzuschweigen?
Seufzend stellte ich meine Tasche ab, warf einen kurzen Blick auf die Uhr und verließ dann den Raum, um auf Toilette gehen zu können. Es waren noch knappe fünf Minuten bis der Unterricht anfangen würde. Für gewöhnlich waren die Gänge zu dieser Zeit ziemlich leergefegt. Die meisten Schüler waren längst in ihren Räumen verschwunden und bereiteten sich auf den Unterricht vor. Dennoch hörte ich ein leises Schluchzen, das mir merkwürdiger Weise bekannt vor kam.
„Anne?“, platzte es aus mir heraus, als ich sie im im Vorraum der Toilette erkannte und sah, wie sie sich am Waschbecken abstützte. Verzweifelt rannen ihr die Tränen über die Wangen, während sie versuchte ihren Mascara zu retten.
„Verpiss dich!“, brüllte sie empört.
„Was machst du hier?“, fragte ich zögerlich und wagte mich einen Schritt näher an sie heran.
„Wonach sieht es wohl aus, he?“
„Als würdest du weinen.“
„Schwachsinn, ich habe nur was im Auge!“, schrie sie energisch, doch beim letzten Ton war ihre Stärke verschwunden und ihre Stimme begann zu brechen. Als sie das bemerkte, wendete sie ihren Blick kurz vom Spiegel ab, schaute mir unbeholfen entgegen und trat mit voller Wucht die Tür vor meiner Nase zu.
„Sag mal geht’s noch?“, rief nun auch ich empört, stieß die Tür wieder auf und kam in großen Schritten auf sie zugelaufen. Mir war es nicht neu, dass sie andere gerne zur Schnecke machte und auch mich versuchte bloß zu stellen, aber langsam reichte es mir. Seit einer knappen Woche hatte sie durchgehend schlechte Laune und ließ das, liebend gern an mir aus.
„Halt´s Maul und verzieh dich.“
„Gott was ist nur los mit dir?“
„Du nervst mich.“
„Ist mir egal, du nervst mich auch. Deine scheiß, schlechte Laune macht mich so aggressiv, dass ich dich am liebsten verprügeln würde!“, fluchte ich und machte noch einen Schritt auf sie zu, sodass ich ihr nun näher als gewöhnlich stand. Anscheinend verstand sie mich nicht, wenn ich freundlich war, also blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu beleidigen und anzuschreien. Ich hatte mich auf alles gefasst gemacht. Ich hatte mir vorgestellt, wie sie mich anschreien würde, wie mich beleidigen würde, wie sie mir vielleicht sogar eine klatschen würde oder wie sie flüchten würde, doch stattdessen zogen sich plötzlich ihre Mundwinkel nach unten, die nächsten Tränen flossen und plötzlich lag sie weinend in meinen Armen.
„Hey was ist denn los?“, fragte ich nun voller Mitgefühl. Sie war gebrochen und ihre Fassade gefallen. Sie hasste es Menschen ihre Tränen zu zeigen. In diesem Punkt waren wir uns beide wohl gleich. Ich hasste es auch, aber ich ließ es zu. Sie hingegen unterdrückte es beinahe jedes Mal und wies einen so lange weg, bis man ging. Sie wusste gut, wie sie es anstellen musste, damit die Leute in solchen Situationen die Flucht ergriffen, doch bei mir zog diese Schiene nicht mehr.
„Gar nichts.“
„Natürlich nicht. Ist es etwa wegen Louis?“ Sie zeigte keine Reaktion auf diese Frage und damit war mir klar, dass ich den Grund gefunden hatte, so absurd er auch war. Anne hatte nie Liebeskummer. Das Klingelzeichen ließ sie zusammenschrecken und sie widmete sich wieder dem Spiegel. Schnell ging ich zur Seite, damit sie nicht bemerken konnte, dass mir das Spiegelbild fehlte.
„Na komm, rück den Mascara gerade und geh in den Unterricht, lass uns in der großen Hofpause reden, okay?“ Schweigend folgte sie meinem Vorschlag und verschwand dann ohne ein Wort. Jetzt würde ich eh zu spät kommen, also ging ich noch schnell auf Klo, ehe wieder zurück zum Raum lief.
Es war tatsächlich passiert, niemals hätte ich gedacht, dass sich Anne mal unglücklich in jemanden verlieben würde. Es war vielleicht nicht besonders freundschaftlich von mir, aber ich verspürte schon den leichten Anflug von Freude, wenn ich daran dachte, dass sie genauso chancenlos verliebt war, wie ich. Ich will nicht sagen, dass sie es verdient hätte, aber irgendwie schien das Ganze schon etwas mit Karma zu tun zu haben.
So viele Kerle hatte sie in unseren fünf, gemeinsamen Schuljahren verarscht, dass ich sie bereits gar nicht mehr an beiden Händen, hätte aufzählen können. So hatte sie Gefühle vermeiden können und jetzt bekam sie das zurück, was sie all den anderen Jungen angetan hatte.
Mit schnellen Schritten stürmte ich auf den Raum 204 zu und wollte gerade die Türklinke runter drücken, da berührten mich zwei kalte Finger und versetzten mir einen leichten Stromschlag.
„Lynn!“, rief ich begeistert und fiel ihr in die Arme. Ein heftiger Stromschlag durchzuckte meinen Körper und hinterließ in ihm ein unangenehmes Kribbeln. Schnell löste ich mich wieder aus der Umarmung und schüttelte mich.
„Ich habe dich ewig nicht gesehen, wo warst du die ganze Zeit?“
„Überall, hatte noch ein paar Dinge zu erledigen, außerdem gibt es Tage, wo ich mich anstrengen kann wie ich will und trotzdem würdest du mich nicht bemerken.“
„Ach echt? Wie geht’s dir? Hast du schon einen Plan, wann ich es ihm sagen soll? Und...“, begann ich überschwänglich, doch ihre leisen Worte unterbrachen mich schnell:
„Deshalb bin ich nicht hier. Du musst mir jetzt genau zuhören, die gelben Augen...“, fing sie an, doch wurde schnell vom dem Aufreißen der Zimmertür unterbrochen. Mit einem Wimpernschlag war sie wieder verschwunden und hatte mich alleine gelassen. Verdammt! Ich hatte ihr so viel zu erzählen, ich wollte ihren Rat. Auch wenn sie nicht wirklich existierte, so war sie die einzige, mit der ich über meine Probleme hätte reden können. Die einzige, die mich vielleicht verstanden hätte.
Wütend stampfte mein Psychologie Lehrer aus dem Raum, während er einen Jungen, aus meinem Kurs, am Arm gepackt hatte. Als wäre ich unsichtbar, warf er mir nicht mal einen Blick zu. Es interessierte ihn weder, warum ich Selbstgespräche führte, noch warum ich nicht pünktlich im Unterricht gesessen hatte. Ohne mich zu bemerken liefen sie die Treppe runter. Schon jetzt war mir klar, dass wir Unterricht verpassen und der Junge bei der Direktorin landen würde. Was er wohl ausgefressen hatte? Bevor ich auch noch Ärger bekommen würde, eilte ich schnell in den Raum, schloss die Tür wieder hinter mir und setzte mich schweigend neben Albert.
Gelbe Augen? Woher wusste sie von ihnen? Und warum wurde ich das Gefühl nicht los, dass ihre gehetzte Art, ein Warnsignal für mich hätte sein sollen?