In den nächsten Tagen verbrachten wir noch mehr Zeit zusammen und tatsächlich fühlte es sich wie ein Neustart an. Langsam kamen wir uns wieder näher und es sah so aus, als könnten wir irgendwann wirklich mal eine dieser Beziehungen führen, in denen man sich alles erzählte und wo wir beide glücklich sein würden. Doch jetzt war es noch lange nicht so weit. Ich hatte mir fest vorgenommen es dieses Mal nicht zu überstürzen und zu viele Hoffnungen in die ganze Sachen zu setzten. Ich würde ihn jedenfalls nicht fragen, ob wir offiziell zusammen sein wollten, das musste er tun und eigenartiger Weise fände ich es sogar gut, wenn er sich damit etwas Zeit lassen würde. Eigentlich war es schwachsinnig zu sagen, dass der Typ immer den ersten Schritt machen müsste, aber ich war schlichtweg einfach zu feige und hatte mittlerweile die Einstellung entwickelt, dass er es mir nach all den vergangenen Sachen schuldig war.
Meine Mutter hatte von uns beiden schnell Wind bekommen, das störte sie jedoch nicht. Mittlerweile kannte sie ja die Wahrheit und unterstütze uns. Vor Anne mussten wir es jedoch geheim halten und das war gar nicht so einfach, wie es sich vielleicht anhörte. Irgendwas hatte sich zwischen ihr und dem Franzosen wieder geändert und sie war noch anhänglicher geworden. Einige Male war es verdammt knapp geworden, aber bald wären wir hier endlich raus und dann würde dem nichts mehr im Wege stehen. Eigentlich hatte Leandro recht, hier hielt mich nichts mehr. Ich hatte keine großartige Freundschaft, die ich nicht aufgeben könnte und auch sonst gab es kaum etwas, das ich vermissen würde. Warum also sollten wir nicht in eine andere Stadt ziehen?
„Ich hoffe wirklich, dass deine Mum damit zufrieden sein wird“, sagte Leandro und legte seinen Arm um meine Schulter, während wir wieder auf dem Weg zu Annes Haus waren.
„Oh ja, das hoffe ich auch.“
„Ich habe es echt satt, dass wir uns immer vor ihr verstecken müssen und wie sie manchmal mit dir redet, als wäre sie etwas besseres!“
„Ja ich weiß, dass du sie nicht magst, aber bald sind wir hier mit Sicherheit weg“, entgegnete ich und lachte.
„Und diese Beschreibung ist noch untertrieben.“
„Ja, ja. Aber das Haus sah auf den Bildern ganz gut aus, bisher ist mir jedenfalls nichts aufgefallen, was meiner Mutter nicht gefallen könnte. Mich nervt es nur, dass wir schon wieder zur Schule gehen müssen. Der Tag heute war echt anstrengend.“
„Könnte schlimmeres geben, außerdem verpassen wir dann nicht so viel Schulstoff.“
„Als ob mich das in irgendeiner Weise interessieren würde“, brummte ich erschöpft und wechselte den Regenschirm von meiner rechten Hand, in die Linke. Endlich hatten wir das Haus erreicht und liefen in den trockenen Flur. Anne`s Mutter war noch nicht Zuhause und auch
Anne´s Bus schien Verspätung zu haben. Nur meine Mutter hatte es sich im Wohnzimmer bequem gemacht und sah sich eine ihrer Lieblingssendungen an. Sie schreckte hoch, als wir hinter ihr standen, dabei hatte ich mir extra Mühe gegeben ein paar Geräusche von mir zu geben, um sie eben nicht zu erschrecken.
„Gott willst du das ich an einem Herzinfarkt sterbe?“, fragte sie vorwurfsvoll und drückte auf Pause, damit sie auch ja nichts verpasste.
„Sicher doch“, murmelte ich und setzte mich neben sie, um mich nach den Ergebnissen der Besichtigung erkundigen zu können. Leandro war schon nach oben gelaufen und genoss jede freie Sekunde, in der er Anne nicht ertragen musste.
„Also wie lief die Besichtigung?“
„Gut.“
„Und weiter?“
„Na ja der Verkäufer wirkte etwas verwirrt oder vielmehr verrückt, aber... was solls.“
„Wie verrückt?“
„Keine Ahnung, hat die ganze Zeit von komischen Begegnungen gefaselt“, antwortete sie knapp und hoffte das Gespräch schnell beenden zu können.
„Und nehmen wir es?“, fragte ich ungeduldig.
„Ich denke schon, der Preis ist jedenfalls auffällig billig für die Größe des Hauses und der Typ wirkte eher wie jemand, der es schnell loswerden wollte.“
„Das wäre toll“, rief ich erleichtert und umarmte sie. Etwas verwundert von meiner Euphorie musterte sie mich skeptisch, starrte dann aber dem Fernseher wieder sehnsuchtsvoll entgegen. Am liebsten hätte ich alle Sachen zusammengepackt und wäre losgestürmt, aber so schnell konnte es wohl nicht gehen.
„Und wovon hängt es noch ab, ob wir das Haus nehmen?“
„Ich habe mich schon entschieden, aber euer Leben verändert sich dadurch auch, ich kann das schließlich nicht alleine entscheiden.“
„Damit hat sicher niemand ein Problem!“, entschloss ich voreilig und sprang von der Couch auf, um Leandro die neuen Nachrichten erzählen zu können. Doch meine Mum nahm mir ein wenig meiner Euphorie und brachte mich wieder zurück in die Realität, dass es selbst bei einer Zustimmung wohl noch Wochen dauern würde.
„Du vielleicht, aber ich will deinen Bruder und Leandro auch noch fragen, du kannst nicht einfach über ihre Köpfe hinweg bestimmen.“
„Mach ich doch gar nicht! Ich habe schon mit Leandro gesprochen und er hat mir zugestimmt. Er findet das Haus auch gut, von den Bildern her jedenfalls und er denkt auch, dass wir hier so schnell es geht weg sein sollten. Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder kommen und dann wäre ich gerne von hier verschwunden“, erklärte ich und hoffte sie endgültig überzeugen zu können. Ich konnte es kaum erwarten dieses Kaff zu verlassen und Anne endlich loszuwerden. Anne, diese Schule und einige Probleme, die sie mit sich gebracht hatten.
„Ist gut, ich rede mit deinem Bruder und dann sehen wir weiter, okay?“
„Ja, ja ich kanns ja eh nicht ändern.“
„Du siehst es doch wohl genauso oder?“, fragte sie zögernd und wendete sich wieder aufmerksamer mir zu.
„Hm. Ist Tomi überhaupt schon hier?“
„Ja, ich habe ihn auf dem Rückweg eingesammelt, er hatte die letzten zwei Stunden Ausfall.“
„Und warum hast du ihn noch nicht nach seiner Meinung gefragt?“, fragte ich vorwurfsvoll und verschränkte Augen rollend die Arme vor der Brust. Ich dachte sie hätte so langsam begriffen, dass uns die Zeit im Nacken saß und wir nicht rumtrödeln konnten.
„Alex merkst du gar nicht, dass es schon wieder nur um dich und deine Wünsche geht?“ Wieso um meine Wünsche? Es wollte doch wohl keiner von uns erneut von den Werwölfen überrascht werden. Dieses Mal sind wir noch gut davon gekommen, doch was wenn sie sich für das nächste Mal etwas größeres ausdenken würden? Außerdem hatte sich unser Leben bereits so sehr verändert, dass nur ein Neustart wieder Ordnung in unser Leben bringen könnte.
„Was soll das jetzt? Du hättest ihn trotzdem fragen können.“
„Deinem Bruder geht es im Moment echt nicht besonders gut, falls es dir noch nicht aufgefallen ist und ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen könnte echt nicht schaden, meine Liebe!“
„Was willst du damit schon wieder sagen? Ich habe auch genügend um die Ohren und kann nicht für alles und jeden das Sorgentelefon spielen, also hör auf mir das vorzuwerfen!“
„Du spielst für niemanden das Sorgentelefon, du bist nur mit deinen eigenen Sachen beschäftigt und merkst gar nicht, wie es den anderen geht“, entgegnete sie angepisst und warf mir ihren typisch vorwurfsvollen Blick zu.
„Geht`s noch? Ich höre mir doch alles an, nur mir hört niemand zu, aber ja schieb die Schuld nur wieder mal mir in die Schuhe, wenn du die Erziehung von Tomi nicht in den Griff bekommst!“, brüllte ich wütend und verschwand mit schnellen Schritten die Treppe hinauf. Was bildete sie sich eigentlich ein? Wem hatte ich nicht alles zugehört und geholfen? Sie hatte doch keine Ahnung was in meine Leben vor sich ging und ich hatte wirklich keine Lust ihr auch nur irgendetwas davon zu erklären. Sie hatte nie danach gefragt, wie es mir ging und selbst wenn ich ihr etwas von mir erzählen würde, würde sie mir doch eh nicht zuhören oder meine Probleme nicht ernst nehmen. Nicht nur sie und Tomi hatten Dad verloren, auch ich hatte das und ich war diejenige gewesen, der er gegenüber gestanden hatte, als mir zugeredet worden war, ihn zu töten. Sie hatten von mir verlangt, dass ich jemanden umbrachte, der eins zu eins wie mein eigener Vater aussah. Und nicht ein einziges Mal wurde ich gefragt, wie es mir ging. Von niemanden von ihnen!
Kopfschüttelnd stürmte ich ins Zimmer, warf die Schultasche aufs Bett und begann das unwichtige Schulzeug auf dem Boden zu verteilen. Ich hatte eine wütende Miene aufgesetzt und musste mich zusammenreißen in seiner Gegenwart keine Selbstgespräche zu führen, in denen ich mich über alle aufregen würde. Doch so ganz konnte ich meine schlechte Laune nicht verbergen, denn als ich anfing die Sachen mehr und mehr auf den Boden zu werfen, zog ich seine Aufmerksamkeit auf mich.
„Was genau wird das?“, fragte er verwundert und war bereit für einen Moment seine Mathehausaufgaben zu unterbrechen.
„Ich räume auf“, zischte ich wütend, packte die Schultasche und drehte sie über Annes Teppich um. Der Dreck der letzten Tage fiel auf ihren weißen Teppich und färbte ihn nach und nach schwarz.
„Du hast eine ziemlich eigenartige Weise aufzuräumen.“
„Na und, hast du ein Problem damit?“
„Ich nicht, aber Anne vielleicht.“
„Die kann mir doch egal sein“, entgegnete ich mürrisch und funkelte ihn böse an, mit der Aufforderung, er solle mich jetzt bloß nicht provozieren. Nachdem ich jeden einzelnen Krümel auf ihrem Teppich verstreut hatte, machte ich mich an ihrem Kleiderschrank zu schaffen und suchte mir ein paar akzeptable Klamotten zusammen. Sie hatte mich so oft erniedrigt und unfair behandelt, sodass es ihr nur recht geschah, wenn ich ein paar ihrer Sachen mitgehen ließ. Die meisten Klamotten würde sie eh nicht vermissen und Geldprobleme hatte sie mit Sicherheit auch nicht. Diese hochnäsige Zicke würde irgendwann schon ihr schlechtes Karma zu spüren bekommen, doch wenn ich da etwas nachhelfen würde, konnte das wohl kaum schaden.
„Alex komm mal runter. Was ist denn passiert?“, fragte er besorgt und drehte sich auf dem Stuhl etwas mehr zu mir nach hinten um.
„Gar nichts okay?“
„So siehst du aber nicht aus. Komm schon, was ist los?“
„Nichts! Lass mich doch einfach sortieren“, antwortete ich wütend und schmiss ein paar ihrer Oberteile zu Boden, die ich nicht mitnehmen wollte.
„Du sortierst nicht, du packst. Willst du etwa abhauen?“, fragte er erschrocken und sprang vom Stuhl auf, als müsse er mich vor einem schlimmen Fehler bewahren. Er ging mir gerade gehörig auf die Nerven und in diesem Moment hätte ich ihn am liebsten aus dem Zimmer geworfen, doch das konnte ich natürlich nicht. Ich wollte hier so schnell es ging weg. Alles an diesem Ort nervte mich. Jeder nervte mich. Und ich wusste nicht einmal warum ich so genervt war. Klar meine Mutter hatte dieses Gefühl ausgelöst, aber das konnte nicht der einzige Grund gewesen sein. Einfach jeder einzige Gegenstand in diesem Zimmer machte mich sauer. Ihre perfekten Sachen, die sie jeden Tag so gut kombinierte, dass man nie auf die Idee kommen würde, sie hätte je in ihrem Leben einen schlechten Style gehabt. Diese perfekt geputzten Fenster. So sauber, dass man sich in ihnen hätte spiegeln können. Ihr Bett, was sie jeden Morgen akkurat wieder ordentlich machte und vor allem dieser große Schminktisch, bei dem jeder Kosmetikartikel seinen eigenen Platz hatte. Bei dem alles so ordentlich war, dass man sich nicht einmal traute irgendwas davon anzufassen. Wenn ich dieses Teil anstarrte musste ich mich immer wieder daran erinnern, dass ich mich nie wieder schminken könnte. Das ich nie wieder sehen würde, wie ich mich veränderte. Wie meine Haare aussahen, ob ich Augenringe hatte oder ob sich wieder mal ein Pickel auf meine Haut verirrt hatte.
„Und du nervst! Verpiss dich doch einfach, wenn es dir nicht passt!“, keifte ich und warf mit vollem Schwung ein paar Turnschuhe zu dem Rest der Sachen.
„Komm mal runter, wie redest du denn mit mir?“, fragte er entsetzt von meiner Wortwahl und machte einen Schritt auf mich zu.
„Du bist nicht meine Mutter, also hör auf dich so aufzuführen!“
„Was ist denn in dich gefahren? So kenne ich dich gar nicht.“
„Toll und jetzt? Lass mich doch einfach in Ruhe und verschwinde, wenn dir mein Ton nicht passt.“
„Eyy, was auch immer es ist, das wird schon wieder. Ich gehe doch nicht, wenn du mich brauchst“, antwortete er beruhigend. Diese Aussage war ja mal was ganz neues. Seine guten Vorsätze schien er echt ernst zu nehmen. Langsam machte er noch einen Schritt auf mich zu, legte seine kalten Finger an meine Hüfte und zog mich näher zu ihn ran. Für diesen kurzen Augenblick hielt ich die Luft an und versuchte mich wieder zu beruhigen. In seiner Gegenwart war ich viel ausgeglichener und rastete nicht so schnell aus und genau deswegen hätte es auch funktionieren können, wenn er mir diese eine nervige Frage nicht schon wieder gestellt hätte. Jedes Mal verneinte ich sie und jedes Mal ließ er mich trotzdem nicht damit in Ruhe. Seit Tagen schon nervte er mich damit und dachte wohl immer noch, dass ich ihn anlog. Dabei sagte ich die Wahrheit.
„Hast du Durst?“ Zum tausendsten Mal hatte er mich das nun gefragt und ich war es leid immer die gleiche dumme Antwort darauf zu geben.
„Nein, ich weiß schon wo die Getränke und Gläser stehen.“
„Du weißt genau was ich meine“, sagte er nun selbst etwas genervt und ließ mich wieder los. Ich hatte einfach keinen Durst nach Blut, auch wenn ich nun schon eine Weile nichts getrunken hatte. Wieso konnte er mir nicht einfach glauben, wenn ich ihm felsenfest versicherte, dass ich keinen verdammten Durst hatte? Wahrscheinlich war er selbst durstig und versuchte an Blut ranzukommen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.
„Weiß ich eben nicht und wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss weiter packen.“
„Du streitest seit Wochen ab, dass du kein Blut brauchst. Ich kann dir nicht glauben, dass du kein Verlangen danach hast“, sagte er knapp und begann im Schubfach herumzuwühlen.
„Und du übertreibst schon wieder. Es sind keine Wochen, außerdem bin ich vielleicht nicht so blutbesessen wie du.“
„Ich? Blutbesessen? Jetzt reichst, du kannst mich mal. Ich versuche dir zu helfen und dir zuzuhören und du weist mich ab, als hätte ich dir irgendwas getan.“
„Ach komm, heul doch nicht so rum“, lachte ich und warf ihm einen arroganten Blick zu.
„Mach doch was du willst!“, brüllte er wütend durchs Zimmer und verschwand mit einem lauten Knall durch die Tür.
„Du kannst vor Konflikten auch nur wegrennen, nicht war?“, rief ich ihm provozierend hinterher, denn ich war gerade erst so richtig in Fahrt gekommen und hatte langsam Lust bekommen, mich bis auf´s Blut zu streiten, doch er ignorierte es und ließ keinen Laut mehr von sich hören.
Kopfschüttelnd packte ich weiter die Sachen zusammen und versuchte nicht durchzudrehen. Es vergingen keine fünf Minuten in denen ich alleine sein konnte, bis sich der nächste Streit ankündigte.
„Kannst du nicht anklopfen?“, zischte ich, als jemand die Tür aufschlug und ungefragt in den Raum trat.
„N Scheiß kann ich!“, antwortete Anne wütend und stürmte auf mich zu. Was war denn jetzt schon wieder ihr Problem?
„Was is n mit dir?“
„Du bist sone Schlampe! Gott ich hasse dich so sehr! Packt eure scheiß Sachen zusammen und verschwindet aus diesem Haus!“, brüllte sie, während ihr jegliche Gesichtszüge entglitten und sie den Anschein machte, als würde sie jede Sekunde vor Wut zusammenbrechen. Ihr Kopf wurde knallrot und ihre Hände begannen zu zittern. Ihre Augenbrauen hatte sie tief runter gezogen, ihre Mundwinkel waren weit nach unten gefallen und ihre Augen starrten mich an, als versuchten sie mich umzubringen.
„Was hab ich denn jetzt schon wieder gemacht?“, fragte ich gleich gültig und versuchte mich zwischen zwei Tops zu entscheiden.
„Du bist sone verdammte Hure! Dachtest du etwa ich würde es nicht mitbekommen?“
„Was würdest du nicht mitbekommen? Und hör auf mich so zu nennen! Hau doch einfach ab, ich habe grad kein Bock auf dich!“, antwortete ich schnippisch und spürte wie die Wut in mir wieder zu kochen anfing. Irgendwie schien es das erste Mal gewesen zu sein, in dem ich ihr wirklich meine Meinung gesagt hatte und es fühlte sich gut an. Ich war bereit ihr all die Wahrheiten zu sagen, die ich die ganzen Jahre über für mich behalten hatte, denn jetzt hatte ich nichts mehr zu verlieren. Wir wollten weg von hier und auf eine Freundschaft mit ihr konnte ich getrost verzichten. Desinteressiert an ihren Bemühungen mir Respekt zu verschaffen, holte ich mein neues Handy aus der Hosentasche und tippte sinnlos darauf rum. Vor einer Woche hatte ich es bekommen, da meine Mutter das alte Ding in den Flammen hatte schmoren lassen.
„Nimm das scheiß Teil aus der Hand, wenn ich mit dir rede!“, kreischte sie hysterisch und schlug mir das Handy aus der Hand. Und dieses Mal entglitten mir alle Gesichtszüge. Empört starrte ich sie mit riesigen Augen an und hob mein Handy vom Boden auf, dem glücklicher Weise nichts passiert war. Meine Wut drohte überzukochen und das bekam Anne ganz genau mit. Doch sie fürchtete sich nicht davor. Stattdessen warf sie mir wieder diesen arroganten Blick zu, diesen Blick, mit dem sie mir sagen wollte, dass sie so viel besser als ich war und dass ich nie an all das rankommen würde, was sie hatte. Ich hatte keine Lust mehr mich zusammenzureißen. Wofür auch? Ohne länger drüber nachzudenken, hob ich meine Hand und klatsche ihr all die Ungerechtigkeiten der letzten Jahre ins Gesicht.
Ich war kein schlechter Vampir, ich war nur wütend und irgendwie schienen mich meine Emotionen heute überrumpeln zu wollen und blöder Weise gelang es ihnen auch, doch das kümmerte mich nicht länger. Jedenfalls nahm ich mir das vor. Anne hatte nichts anderes verdient und ich war mir sicher, dass ich deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte.
„Du bist doch völlig verrückt geworden! Verpisst euch aus meinem Haus und lass dich hier nie wieder blicken!“, zischte sie wütender den je und versuchte mich aus dem Zimmer zu schieben.
„Liebend gern, aber kann ich vielleicht noch meine Sachen mitnehmen?“, knurrte ich mit zusammengekniffenen Augen und hoffte, dass ihr nicht auffallen würde, dass „meine Sachen“, eigentliche ihre waren.
Mürrisch nickte sie mir zu und gab mir damit die Gelegenheit, den Rucksack zu packen und endlich aus dem Haus zu verschwinden. Ihren Wutanfall hatte wahrscheinlich jeder in diesem Haus mitbekommen, trotzdem hielt sie es für nötig, durch die Flure zu schreien, dass sie uns raus werfen würde. Schon jetzt konnte ich mir die Blicke meiner Mutter vorstellen und schon jetzt wusste ich, dass ich sie so gut es ging ignorieren müsste. Sie sollte sich mal nicht so haben, insgeheim wollte sie doch sowieso schon längst von hier verschwunden sein. Die stark befahrenen Straßen hatten ihr schon lange Kopfschmerzen bereitet und auch die Arbeit machte ihr keinen Spaß mehr.
Während ich draußen auf die anderen wartete, versuchte mich eine unbekannte Nummer mehrmals zu erreichen. Ich ließ das Handy jedoch klingeln und überlegte krampfhaft, wen ich vergessen hatte einzuspeichern. Kurz hatte ich gezögert, ob ich einfach ran gehen sollte, doch dann entschied ich mich dagegen. War sicher nur irgendeine Umfrage, die die Leute nerven wollte.
Nach dem vierten Versuch gab es der Anrufer auf und ich konnte für einen Moment entspannen. Nachdem Anne auch meine Mutter und Tomi zur Schnecke gemacht hatte und sie mit gepackten Taschen vor mit standen, ließ sie es sich natürlich nicht entgegen, einen Auftritt der extravaganten Art abzuliefern und mich vor aller Augen als Schlampe dastehen zu lassen. Anscheinend wusste sie genau wann sie was zu sagen hatte, damit es am meisten Schaden anrichten konnte. Natürlich wählte sie den Tag, der schon vollkommen chaotisch angefangen hatte und an dem mich so gut wie niemand mehr leiden konnte. Manchmal konnte sie einfach nur unausstehlich sein.
„Na hast du jetzt genügend Publikum zusammen, um mir endlich zu sagen was dein beschissenes Problem ist?“, schrie ich sie an, als sie langsam auf mich zu kam und mich mit herabwürdigenden Blicken anschaute. Alle hatten sich nun um uns herum versammelt und auch Leando hatte den Weg nach draußen gefunden und wartete nun gespannt auf unseren Zickenkrieg. Mir war es völlig egal wie das Ganze hier ausgehen und welche Worte ich in den Mund nehmen würde. An diesem Tag war ich mir sicher, dass jeder Ausdruck Anne hätte beschreiben können und genau deswegen tat mir kein einziges Wort mehr leid.
„Worauf wartest du? Was hab ich dir getan du kleines Miststück?“
„Alexandra, achte auf deine Worte!“, ermahnte mich meine Mutter, doch diese Äußerung konnte ich ohne größere Probleme ignorieren.
„Eigenartig wie sich manche Leute verändern, unter dem Einfluss falscher Menschen“, stellte sie fest und warf Leandro einen misstrauischen Blick zu, der mich befürchten ließ, dass sie wusste was zwischen uns lief. Aber was mich das noch interessieren? In ein paar Minuten würde ich sie und den Rest ihrer verblödeten Crew, nie wieder sehen.
„Wenn du meinst.“
„Du bist so eine Schlampe, wie konnte ich überhaupt all die Jahre geglaubt haben, dass du genau so, wie du es jetzt bist, nie werden würdest?“
„Vielleicht war ich auch schon immer so?“
„Unmöglich!“, zischte sie und versuchte die Worte zu finden, die mich vor allen bloßstellen würden. Die Worte, die sie wieder wie ein verdammter Engel dastehen lassen würden. So wie sie es jedes Mal machte.
„Wenn du meinst. Anne deine Meinung interessiert mich nicht im Geringsten, also was hab ich so schlimmes verbrochen, dass du einen riesen Auftritt hinlegen musst, bis du es endlich aussprechen kannst?“
„Ach ja? Weißt du was? Genau das dachte ich mir schon, immerhin machst du dich ja auch an alles und jeden ran!“
„Okay Anne langsam gehst du mir so ziemlich auf die Nerven, entweder du sagst mir jetzt endlich was dein Problem ist oder wir gehen, denn wir haben heute auch noch so einiges zu erledigen.“
„Mein Gott tue doch nicht so! Ich rede von Albert!“ Albert? Was hatte den Albert mit der ganzen Sachen zu tun?
„Albert warte was?“, mischte sich Leandro verblüfft und verwirrt zugleich ein und machte einen großen Schritt auf sie zu, als wolle er sie dazu zwingen mit der Wahrheit rauszurücken. Ich hatte ihm von Albert erzählt, warum also schaute er mich dann plötzlich so verwirrt an? Warum musste ständig alles schief laufen? Warum konnten wir nicht einfach zusammen sein, ohne, dass wir ständig stritten?
„Ja Albert! Sie haben Händchen gehalten, sich geküsst und wer weiß was alles gemacht.“
„Stopp, also so jetzt auch nicht. Erstmal war ich völlig betrunken, außerdem geht es dich das gar nichts an oder? Ich meine du vögelst ja auch in der Weltgeschichte rum nicht wahr?“
„Alex!“, rief meine Mum empört und strafte mich mit Blicken, denen jeder hätte ausweichen wollen. Es lag vielleicht nicht direkt an ihr oder ihren Worten, aber in diesem Moment regte sie mich unheimlich auf und machte mich so wütend, dass ich wohl selbst kurz vor einem hysterischen Anfall stand.
Plötzlich spürte ich, wie sich in mir gigantischer Hunger breit machte, der mich immer verrückter werden ließ. Leandro schien diese Veränderung mitbekommen zu haben, denn während ich mit mir selbst kämpfte, niemanden an den Hals zu fallen oder schreiend zu Boden zu sinken, hatte er mich genaustens beobachtet. Einen Moment kämpfte ich mit mir selbst, ob ich einfach gehen sollte und alle anwesenden in den Glauben lassen sollte, dass ich eine echt schlechte Person war oder ob ich zur Rechtfertigung ansetzte sollte. Obwohl es allen doch scheiß egal sein konnte mit wem ich was hatte und mit wem nicht. Und erst recht Anna! Was interessierte sie das überhaupt? Auch wenn es für mich keinen Sinn ergab, dass sie wütend auf mich wären, setzte ich lieber zur Verteidigung an, so was musste ich mir wirklich nicht anhören.
„Ist doch wahr, wisst ihr überhaupt mit vielen Typen sie schon etwas hatte?“
„Alex!“, keifte Anne und blickte mir auffordernd entgegen, dass ich gefälligst den Mund halten sollte. Aber ich wollte nicht, nein jetzt hatte ich mich entschieden, so sehr zu provozieren, wie ich nur konnte und genau deswegen wollte ich das jetzt auch so durchziehen.
„Wie oft und wie vielen sie fremd gegangen ist?“
„Jetzt reichst!“, brüllte sie fest entschlossen mir eine rein hauen zu wollen und kam mit lauten Kampfgeschrei auf mich zu gerannt. Doch davon ließ ich mich nicht beeindrucken. Sie war nur ein Mensch und ich ein Vampir. Wer würde diesen Kampf also gewinnen? Noch bevor Anne überhaupt verstehen konnte was gerade passierte, packte ich sie am Hals und drückte sie gegen den nächsten Baum. Erschrocken riss sie ihre Augen auf und hielt die Luft an. Lächelnd stand ich vor ihr, die linke Hand fest an ihren Hals gedrückt und musterte sie von oben bis unten. Wer war nun der Loser von uns beiden? Es brachte mich zum Schmunzeln wie sehr sie sich vor mir zu fürchten anfing. Ihr Herzschlag ging schnell und als würde ich plötzlich alles um mich herum vergessen, konnte ich mich nur noch auf diese eine Ader konzentrieren, die an ihrem Hals verstärkt hervortrat. Nie war sie mir aufgefallen, doch gerade konnte ich meine Blicke einfach nicht davon abwenden.
Ihr Herzschlag dröhnte in meinen Ohren, so laut, als wäre er mein eigener und bei jedem Schlag wurde mein Appetit größer. Ich spürte wie sich meine Zähne streckten und mein Blut zu pulsieren begann. Mein Verstand schaltete sich aus und ich konnte mich nicht mehr gegen dieses Verlangen währen. Ich sah nicht mal mehr einen Grund, warum ich nicht auf der Stelle von ihrem Blut trinken sollte. Also zögerte ich nicht lange, ließ meine spitzen Fangzähne richtig hervortreten und biss in ihre weiche Haut. Sofort spürte ich ihr köstliches Blut auf meiner Zunge und genoss das Gefühl, wie es langsam meinen Hals hinunterrann. Der Geschmack machte mich immer gieriger und so ließ ich von ihrer linken Halsseite ab, um gleich danach meine Fangzähne in die rechte Seite ihres Halses zu stoßen. Wieder legte sich dieser unwiderstehliche Geschmack auf meine Zunge. Alles was ich wahrnehmen konnte war mein Hunger auf mehr und ihre panischen Schreie, die mich nur noch mehr in Rage brachten. Der Metallgeruch stieg mir in die Nase und benebelte meine Sinne zunehmend. Die Welt um mich herum vergaß ich, bis plötzlich zwei starke Hände nach mir griffen und mich mit einem Ruck von ihr weg zogen. Wäre ich nicht so in Trance gewesen, hätte Leandros Versuch vielleicht nicht einmal funktioniert. Noch bevor ich ganz verstehen konnte was geschah, waren wir plötzlich fünf Hausecken vom Geschehen entfernt und er ließ mich unachtsam zu Boden fallen. Schnell stand ich auf und versuchte endlich wieder klare Gedanken zu bekommen.
„Nimm das und wisch dir das Blut aus dem Gesicht. Ist ja ekelhaft! Ich werde mich wohl wieder mal um dein Chaos kümmern!“, zischte er angewidert, während er die Straße runter verschwand.
„Fuck!“, fluchte ich und rutschte an der Wand runter. Wie hatte das passieren können? Warum hatte ich so schnell die Kontrolle verloren? Vor allen? Vor Mum, vor meinem Bruder und vor Leandro. Vor Annes Mum und vor Anne selbst. Ich hatte wirklich geglaubt ich könnte mich beim nächsten Mal zusammenreißen, doch dieser Fehltritt hatte mir gezeigt, dass ich sie bis auf den letzten Tropfen Blut, leergetrunken hätte, wenn Leandro mich nicht davon abgehalten hätte. Auch wenn mir seine bevormundende Art oft auf die Nerven gegangen war, so war ich dieses Mal sehr froh, dass er sich eingemischt hatte. Gerade als ich für eine Sekunde versuchte meine Gedanken zu sammeln, kündigte sich die nächste Katastrophe an und mein Handy klingelte zum x-ten Mal. Da mein Verstand immer noch nicht klar war, griff ich einfach nach dem klingelnden Ding und nahm den Anruf unfreundlich entgegen:
„Was denn?“
„Gott, Alex endlich! Ich habe so oft versucht euch zu erreichen.“
„Katja?“, fragte ich überrascht und schon in der nächsten Sekunde waren meine Gedanken wieder klar. Katja, die Kindergärtnerin meiner Schwester, rief nur an, wenn etwas mit Mia war und dieses Mal klang sie erschreckend panisch. Sie stammelte kaum verständliche Worte vor sich hin und versuchte die Nerven nicht völlig zu verlieren. Meine Wut verschwand und stattdessen machte ich mir große Sorgen.
„Ja, es, es ist... etwas schreckliches passiert, ihr müsst kommen!“
„Was? Geht es Mia gut?“
„Ihr müsst kommen, ins Krankenhaus. Sofort.“ Noch bevor ich fragen konnte was passiert war und wie es ihr ging, hatte Katja aufgelegt und mich im Ungewissen gelassen.