Die Stimmung war erdrückend. Im Auto war es ungewöhnlich still, nicht einmal das Radio wurde eingeschaltet. Die Geräusche von den den Straßen waren nur dumpf zu hören und es gab nichts, was mich von meinen Gedanken hätte ablenken können. Keiner von uns wusste was mit ihr passiert war und niemand hatte eine Ahnung wie schlimm es tatsächlich sein würde. Mir ging die Befürchtung nicht mehr aus dem Kopf, dass es sich bei Mia`s Unfall um einen Racheakt der Werwölfe handeln würde. Die Gedanken in meinem Kopf wurden immer verrückter und sie machten mir von Sekunde zu Sekunde mehr Angst.
Leandro begann nervös mit seinen Fingernägeln über den dicken Stoff seine Jeans zu wetzen. Unruhig wanderten seine Augen durch das Auto. Ob er an das gleiche dachte wie ich? Ungewollt starrte ich für einen Moment in seine kalten Augen und am liebsten hätte ich diesen Blicke niemals gesehen. Leandro sah ungewöhnlich beunruhigt aus, so sehr, dass er es nicht mal mehr verheimlichen konnte und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mir zudem auch noch Vorwürfe machte. Ja vielleicht hatte ich an diesem Tag etwas überreagiert, doch für diese Gedanken und Schuldgefühle hatte ich jetzt keinen Platz mehr.
Meine Nervosität stieg, umso näher wie dem Krankenhaus kamen. Unvermeidbare Gedanken und Sorgen kamen auf. Ich stellte mir vor, wie ich sie schwer verletzt in einen dieser kalten Krankenhausbetten sehen müsste. Wie die Ärzte auf uns zu kommen und uns sagen würden, dass sie es nicht schafft. Dieses mulmige Gefühl wurde immer größer, desto mehr ich darüber nachdachte, warum mir Katja am Telefon nichts genaueres gesagt hatte.
Endlich schien das erdrückende Schweigen zu brechen, als wir auf dem Parkplatz des Krankenhauses ankamen und ich vorm Eingang Katja stehen sah, die nervös auf und ab lief. Schnell sprang ich aus dem Auto und lief auf Katja zu, ohne auf die anderen warten zu wollen.
„Endlich seid ihr hier“, rief sie mir aufgelöst entgegen und versuchte die Fassung zu bewahren. Der Rest von uns war schnell hinter hergekommen und schon standen wir alle erwartungsvoll vor Katja, die kaum ein Wort herausbringen konnte. Sie war besorgt und mied auffällig stark den Blickkontakt.
„Es tut mir ja so leid, ich... ich weiß nicht... wie das passieren konnte...“, begann sie zu stammeln.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich ungeduldig. Die Ungewissheit fraß mich auf. Wo war Mia? Wie ging es ihr? Und was war verdammt noch mal passiert? Meine Knie wurden weiche und ich spürte wie leicht zu zittern anfing.
„Ich habe mich nur kurz umgedreht und... also... ich wollte Malika helfen, sie war gestolpert und hatte sich das Knie aufgeschürft... und...“
„Und was?“, platzte es meiner Mum ungeduldig heraus. Ängstlich machte sie einen Schritt auf Katja zu und versuchte endlich die Informationen zu bekommen, die wir unbedingt brauchten.
„Sie wurde angefahren“, sagte Katja schließlich knapp und man konnte die Reue in ihren Augen sehen. Unsicher starrte sie zu Boden und fragte sich wohl, wie das überhaupt hatte passieren können.
„Was?“, schrie meine Mutter aufgelöst und stürmte in das Krankenhaus. Schnell griff ich nach Toms Hand und zog ihn hinter mir her.
„Wo ist meine Tochter?“, brüllte sie dem Nervenzusammenbruch nahe, einer Frau an der Rezeption entgegen und versetzte sie damit in Angst und Schrecken.
„Kannst du die Person beschreiben, die am Steuer saß?“, fragte ich Katja, die uns schnell hinterher gelaufen war.
„Nein, das ging alles viel zu schnell. In einen Moment spielte sie noch glücklich auf dem Rasen und im anderen, lag sie einfach angefahren auf der Straße, dabei war sie doch so weit weg von den Autos gewesen!“
„Seltsam.“ Die Möglichkeit, dass das nur ein unglücklicher Zufall war, sank und ich klammerte mich immer fester an die Behauptung, dass das Ganze eingefädelt war und Katja eigentlich nichts dafür konnte. Das wollte ich jedenfalls glauben.
„Es war auf einmal so neblig und an alles was ich mich noch erinnern kann, sind gelbe, kraftvolle Augen.“ Ein Geistesblitz der Bestätigung zuckte durch meinen Körper, der mich noch besorgter machte. Es war geplant gewesen, da gab es keine Zweifel mehr für mich. Sie waren tatsächlich zurückgekommen und hatte sich gerächt.
„Mum! Sie waren es tatsächlich, die gelben Augen. Ich habe von Anfang an gesagt, dass wir verschwinden sollten.“
„Die gelben Augen? Meinst du die Wer...“
„Ja, die meint sie“, fiel ihr Leandro schnell ins Wort, bevor sie Sachen aussprechen würde, die uns verrückt erscheinen lassen würden. Aber das wäre wohl unser geringstes Problem. Leandro warf mir einen strengen Blick zu, der mich zum Schweigen bringen sollte.
„Sie können sich ins Wartezimmer um die Ecke setzen“, schlug die Frau an der Rezeption unsicher vor und wies uns mit ihrer Hand nach links.
„Wir gehen nirgends hin! Wo ist sie?!“
„Sie ist noch im OP, sie können noch nicht zu ihr.“ Hätte diese Aussage meine Mutter nicht so sehr überrascht, würde sie wohl bis zum Rausschmiss diskutieren. Fassungslos starrten wir alle die Frau am Empfang an und hofften einige Informationen zu Mia´s Zustand zu bekommen.
„Können Sie uns nicht wenigstens sagen wie es ihr geht?“
„Tut mir leid, das kann nur ein Arzt und ich möchte keine falsche Auskunft geben.“
„Aber haben Sie sie gesehen?“
„Ja.“
„Und wie sah es aus? War sie bei Bewusstsein?“
„Nein, wie gesagt ich will keine falschen Hoffnungen oder Sorgen schaffen, also bitte gedulden Sie sich noch ein wenig.“ Die Mundwinkel weit nach unten gezogen ließ ich meine Hand vom weißen Tresen gleiten und versuchte den Weg zum Wartezimmer zu finden. Wir sollten uns gedulden? Ich wollte mal sehen wie geduldig sie wäre, wenn es um ihre 3- jährige Schwester oder Tochter ginge...
Meine Schritte wurden immer schwerer und langsamer, je näher ich dem Wartezimmer kam. Mit Sicherheit müssten wir hier Ewigkeiten verbringen und würden nicht wissen wie es ihr ging. Die düsteren Blicke der anderen hatte ich ganz genau mitbekommen. Sie machten mir Vorwürfe und die machte ich mir auch. Wir hätten schon viel früher hier sein sollen. Ich hätte diese blöde Handynummer nicht wegdrücken dürfen. Ich hätte nicht ausrasten dürfen und ich hätte sie dazu drängen müssen, dass wir schon viel früher aus Berlin verschwunden wären. Verzweifelt versuchte ich mir einzureden, dass es nicht meine Schuld war. Es war genau genommen seine Schuld. Er hatte dieses ganze Chaos in mein Leben gebracht. Ohne die Begegnung mit ihm, würde ich immer noch glauben, ich wäre nur ein normaler Mensch. Ich hätte meinen Vater noch bei mir und wäre nicht so reizbar gewesen.
Innerlich zerriss ich immer mehr. Ich ging alle Möglichkeiten durch, die Positiven und Negativen. Verzweifelt versuchte ich mir nicht zu viele Hoffnungen zu machen, ich musste mich auf das Schlimmste einstellen, aber das war schwerer als gedacht, wenn beinahe nur hoffnungsvolle Gedanken durch meinen Kopf schwirrten.
Im Wartezimmer war es vollkommen still, trotz der elf Leute, die dort Platz genommen hatten. Es war so leise, dass ich das Gefühl bekam, jeder in diesen Raum würde meinen Atem hören und meine aufgewühlten Gedanken spüren. Langsam schritt ich auf meine Mum zu, neben der noch ein Platz frei war. Jeder meiner Schritte war im Einklang mit dem Sekundenzeiger, der weißen Uhr, über der Tür. Elend langsam verstrich die Zeit, nachdem ich mich gesetzt hatte. Es war mir nicht danach auf mein Handy zu schauen, Zeitung zu lesen oder irgendeine belanglose Konversation zu führen. Es genügte mir den Sekundenzeiger anzustarren und die wirren und unklaren Gedanken zu sortieren.
Eine Weile blickte ich nur vor mich her, bis ich wieder in der Realität ankam und anfing mir eine Lösung einfallen zu lassen, wo wir diese Nacht schlafen sollten. Die verschiedensten Möglichkeiten gingen mir durch den Kopf, doch keine wollte mir so recht gefallen. Ich wollte in kein Hotel, ich wollte nicht zu Freunden und hier sein wollte ich auch nicht.
„Mum?“, fragte ich heiser und stupste sie mit meinem Ellenbogen leicht an.
„Hm?“, brummte sie abwesend und nahm ihre Blicke nicht von der Zeitung, die sie noch nicht ein Mal umgeblättert hatte.
„Was machen wir hier nach?“
„Wovon redest du?“
„Wo sollen wir diese Nacht schlafen?“
„Keine Ahnung, so weit konnte ich noch nicht denken, frag mich das, wenn es Mia wieder gut geht“, fauchte sie. Wieder hatte sie mich wissen lassen, dass ein Haufen von Vorwürfen, mir gegenüber, in ihrem Kopf herumschwirrten.
„Das mit dem Hotel wird kein Problem sein“, mischte sich Leandro ein. Sein Unterton hatte mir schnell verraten, dass er von Hypnose sprach, damit wir nichts bezahlen müssten.
„Ich kann mir vorstellen auf was du hinaus willst, aber mit dieser Idee werde ich mich nicht anfreunden. Es wäre Betrug.“
„Aha, auf einmal bist selbstlos oder wie?“
„Leandro das reicht!“, ermahnte ihn meine Mum und versuchte wieder Stille zu schaffen, damit die anderen Leute aufhören würden, uns anzustarren. Was interessierte uns überhaupt die Meinung der anderen? Wir hatten viel wichtigere Probleme.
„Wir könnten versuchen in das neue Haus zu kommen. Es ist gerade mal 20 Uhr, der Besitzer wird noch zu erreichen sein“, drängte ich. Klar, wir waren alle gerade mit den Gedanken bei Mia, aber wir mussten uns auch um eine Unterbringung für heute Abend kümmern.
„Das ist mir egal, ich habe jetzt keinen Nerv dafür, mich mit etwas so unwichtigem zu beschäftigen.“
„Ach ja? Und wo willst du dann schlafen?“
„Hier.“
„Und wenn sie uns wegschicken?“
„Mia ist drei, da werden sie uns nicht wegschicken!“
„Dich vielleicht nicht, aber uns bestimmt.“
„Du nervst. Wie kannst du daran überhaupt denken? Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, wie ernst die Situation ist?“, fragte sie vorwurfsvoll und sah endlich von der Zeitung auf, um mir einen strengen Blick zuzuwerfen. Nein, wahrscheinlich wusste ich nicht, wie ernst es war, aber um eine Unterbringung mussten wir uns trotzdem kümmern. Und wenn sie das nicht tat, dann musste ich eben damit nerven. Außerdem war es besser, als die ganze Zeit stumm hier rum zu sitzen und in den ganzen ängstigenden Gedanken zu ersaufen.
„Versprechen kannst du´s nicht, also gib mir dein Handy. Dann haben wir etwas sicher, falls wir rausgeworfen werden“, versuchte ich sie umzustimmen und hielt ihr meine Hand auffordernd hin. Doch ihre Blicke waren immer noch misstrauisch und irgendetwas hinderte sie daran.
„Mum bitte, wir gehen deswegen ja nicht, ich will nur im schlimmsten Fall wenigstens eine sichere Option haben. Ich meine der Umzug ist in zwei Wochen geplant gewesen und angesichts dessen, dass uns Anne rausgeworfen hat, brauchen wir sowieso demnächst etwas Neues.“
Stille. Stur starrte sie wieder auf ihre Zeitung und machte nicht den Anschein, als würde sie mir nur ansatzweise entgegenkommen. Klar, für den Rauswurf bei Anne machte sie mir wahrscheinlich auch einen Vorwurf. Sollte sie halt machen, wenn sie mir endlich ihr Handy gab. Nur sie hatte die Nummer des Verkäufers und danach im Internet zu suchen, würde Stunden dauern.
„Bitte, ich geh auch raus“, murmelte ich leise und verschwand schließlich mit dem Handy in der Hand nach draußen. Es war kalt, aber ich genoss die Kälte für einen Moment. Sie kühlte meine glühenden Wangen und ließ mich etwas ruhiger werden.
Das Telefonat war schnell beendet. Verwundert starrte ich das Display an, als ich eine Nachricht von Leandro bekam, der mir sagen wollte, dass wir zu Mia ins Zimmer könnten. Er hatte mir ihre Zimmernummer geschrieben und versucht zu erklären, wo ich langlaufen müsste. Mit wackligen Knien machte ich mich auf den Weg. Unaufmerksam lief ich durch das Gebäude und versuchte mich zu konzentrieren. Aber das Gespräch von eben drang schnell in meine Gedanken und brachte mich zum Nachdenken, warum der Verkäufer so froh gewesen war, das Haus endlich loszuwerden. Den Schlüssel habe er einfach unter die Fußmatte gelegt. Einfacherer konnte er es potenziellen Einbrechern kaum machen. Es klang sogar so, als wäre er heil froh darüber gewesen, dass wir eventuell schon heute das Haus beziehen wollten. Verwirrend hatte er von mystischen Ereignissen gesprochen und, dass er nach der Unterschrift des Vertrages aus der ganzen Sache raus wäre. Er kam mir suspekt vor, aber um wirklich kritisch über seine Äußerungen nachzudenken, hatte ich keinen Nerv. Jetzt war Mia am wichtigsten und wenn wir das überstanden hätten, könnten wir uns mit dem anderen Kram beschäftigen.
Abrupt wurde mein Gedankengang von einem weißen Kittel und zwei starken Armen unterbrochen, die mich plötzlich festhielten.
„Ey was soll das?“, rief ich empört, als ich zwei freundlichen blauen Augen entgegenblickte.
„Entschuldigung junge Dame, sie sind in mich gerannt“, stellte er lächelnd fest und löste seine kalten Hände von meinen Schultern. Kalt... Kälte erinnerte mich zwangsläufig an Vampire und damit wurde ich ihm gegenüber misstrauisch.
„Warum haben Sie so kalte Hände?“, platzte es aus mir heraus, als wäre ich mir sicher, dass er etwas zu verbergen hatte.
„Es ist kalt draußen oder nicht?“
„Ja und? Hier drinnen ist es aber warm.“
„Aha, Sie haben schließlich auch kalte Hände“, lachte er ahnungslos und setzte einen Schritt zurück, um mich genauer betrachten zu können. Natürlich hatte ich kalte Hände, ich war schließlich auch ein Vampir. Die Frage war nur, ob er auch einer war.
„Wie auch immer, ich muss weiter.“
„Na dann viel Erfolg bei dem, was Sie vor haben. Wir werden uns ganz bestimmt noch über den Weg laufen“, sagte er und schmunzelte, während er seinen Weg fortsetzte.
„Ich denke eher nicht“, rief ich und verschwand hinter einer der kahlen Wände. Zuerst hatte ich seine wilden, braunen Haare als ungepflegt abgestempelt, aber umso länger ich über ihn nachdachte, desto mehr konnte ich mich damit anfreunden und überlegte, ob sie am Morgen vielleicht sogar ordentlich gewesen waren.
Verdutzt über meine abschweifenden Gedanken schüttelte ich den Kopf und lief noch ein paar Schritte weiter, bis ich die beschriebene Tür erreicht hatte. Ich nahm beruhigend einen tiefen Atemzug, bis ich zögerlich die Tür öffnete und in die Mitte des Raumes trat. Vorsichtig ihr Gespräch nicht unterbrechen zu wollen, hatte ich mich neben den großen und schlanken Arzt gestellt, der mit wissenschaftlichen Fakten um sich warf, denen sowieso niemand von uns folgen konnte. Vergebens suchte ich nach Katja, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Ob sie schon nach Hause gegangen war?
Seinem unverständlichen Gerede hörte ich schon lange nicht mehr zu und ließ stattdessen meinen Blick zu Mia schweifen, die in den viel zu großem Bett, mit den riesigen Kissen und der breiten Bettdecke, unterzugehen drohte.
Dort lag sie also. Blass, kalt und fast leblos. Wie selbstverständlich setzte ich mich neben sie und griff nach ihrer eisigen Hand. Ob ihr wohl kalt war? Gutmütig zog ich die Decke noch etwas weiter über ihre Brust und hoffte wenigstens so etwas für sie tun zu können. Ihre Augenlider zuckten gelegentlich, doch sie wollte einfach nicht aufwachen. Wie lange es wohl dauern würde? Gerade als ich mich wieder umdrehen wollte, um den Arzt danach fragen zu können, war er bereits durch die Tür verschwunden und man hörte wie sich seine schallenden Schritte, mit denen der anderen Ärzte und Schwestern vermischte.
„Was hat er gesagt?“ Alle schwiegen sie und ignorierten meine Frage. Seufzend setzte sich meine Mum auf die andere Seite des Bettes und betrachtete Mia ziemlich betrübt. Das schien nichts gutes zu heißen und eine Weile rang ich mit mir selbst, ob ich es wirklich wissen und noch einmal nachfragen wollte. Doch die Ungewissheit zerfraß mich und ich konnte mich keine Sekunde länger mehr gedulden.
„Mum, was hat der Arzt jetzt gesagt?“
„Du warst doch dabei.“
„Ja, aber nicht von Anfang an, außerdem hat mich Mia´s Anblick völlig aus dem Konzept gerissen...also?“
„Nicht viel. Das Meiste habe ich nicht verstanden, aber er redete davon, dass sie wohl alle inneren Blutungen stoppen konnte, dass sie jetzt aber im Koma sei und es an ihr liege wieder aufzuwachen“, murmelte sie immer leiser werdender, während sie mit den Tränen kämpfte und hoffte, ihre Fassade nicht zu verlieren. Einen Moment lang starrte ich sie einfach an und versuchte zu begreifen, wie schlimm diese Situation für sie sein musste. Seit dem Tod meines Vaters hatte ich sie nicht mehr weinen gesehen und ich fragte mich, ob sie ihre Trauer und Gefühle nur versteckt hatte. Gut genug anscheinend, damit ich es nicht mitbekommen hatte. Entweder war sie mittlerweile wirklich gut darin geworden oder sie hatte recht gehabt, dass ich mich zu einem wirklich egoistischen Mensch entwickelt hatte, der nichts mehr von seinen Mitmenschen wahrnahm.
Eigenartiger Weise hatte es so ein Ereignis gebraucht, um mich aus meiner eigenen Welt zu befreien und wieder auf die anderen in meinem Umfeld zu achten. Erst jetzt fing ich wieder an darüber nachzudenken, dass auch anderen Leute Probleme hatten, dass ich nicht die einzige mit Problemen war. Egoistischer Weise hatte ich mich nie gefragt, wie meine Mutter mit dem Tod meines Vaters klar gekommen war, wie es ihr mit der Arbeit erging und ob sie Probleme damit hätte umzuziehen. Über Leandro hatte ich mir genauso wenig Gedanken gemacht. Machte er sich Vorwürfe, weil sein Vater gestorben war und sie das zwischen sich nie wirklich klären konnten? Vermisste er seine Mutter und Schwester? Und wie erging es meinem Bruder mit dem Tod unseres Vaters? Hatte er etwa gespürt, dass es Mum ziemlich kaputt gemacht hatte? Hatten sie meine Probleme bemerkt? War es im Nachhinein nicht völlig schwachsinnig gewesen, um die Zurückweisung von Leandro so ein Drama gemacht zu haben? Wenn wir doch alle gesund und beinahe glücklich gewesen waren?
Ich begann mich immer schlechter zu fühlen und die Vorwürfe, die ich mir selbst machte, wurden auch immer größer. Dringend brauchte ich jemanden zum reden. So was wie eine beste Freundin, die mir sagen würde, dass ich nicht egoistisch war, obwohl es nicht stimmte, nur um mich wieder aufbauen zu können. Aber so jemanden hatte ich nicht, also musste ich wohl so ziemlich bald mit denen reden, deren Bedürfnisse ich verdrängt hatte. Gerade als ich diesen Entschluss gefasst hatte, spürte ich wie mir die Tränen kamen. Es wäre mir ziemlich egal gewesen, wenn sie einfach die Wangen runter gekullert wären, aber etwas in mir hatte plötzlich unheimlichen Schmerz ausgelöst und die Tränen verschwinden lassen.
Mein ganzer Bauch zog sich zusammen. Eine Mischung von elendiger Übelkeit und Hunger überkam mich, während mein Körper anfing zu zittern und die Kulisse um uns herum, sich zu drehen anfing. Schnell sprang ich auf und ergriff die Flucht. Ich wollte nicht unnötig Aufsehen und Besorgnis hervorrufen, wenn ich in Ohnmacht fallen würde, wenn es eigentlich nur der Hunger oder eine Vision sein konnte.
Meine Schritte wurden immer unkoordinierter und ich begann mehr und mehr ins Schwanken zu geraten. Immerhin hatte ich gelernt in solchen Situationen ruhig zu bleiben. Natürlich, mein Herz konnte nicht mehr schneller schlagen, aber mein Blut konnte pulsieren, ich konnte zittern und Angstschweiß bekommen, doch dieses Mal versuchte ich mich einfach zu beruhigen und auf mysteriöse Weise verschwanden die Symptome, wodurch ich mich auf das Umkippen konzentrieren konnte. Eigentlich war mein Ziel das Bad gewesen, doch als bereits alles verschwommen war und ich eigentlich nichts mehr, als den Boden hätte berühren können, fingen mich zwei starke Arme auf und bewahrten mich vor einer harten Landung.