Nach drei nervenaufreibenden Stunden kamen wir endlich vor dem Tor unseres neuen Hauses an. Von der Rückbank aus musterte ich es kritisch und verzog mein Gesicht, als ich sah, wie heruntergekommen es wirklich war. Die Bilder mussten im letzten Jahrhundert entstanden sein. Seufzend lehnte ich meinen Kopf wieder gegen die Fensterscheibe und fragte mich, warum ich überhaupt nach so einer verlassenen Gegend gesucht hatte. Hier würde ich vereinsamen. Sicher gab es nur komischen Leute in diesem Kaff. Na ja, um unsere Geheimnisse zu verstecken, war dieser abgelegene Ort nahezu perfekt.
Nachdem sich eine Weile niemand geregt hatte, erbarmte sich Leandro, stieg aus dem Wagen und öffnete das Tor, damit wir auf die linke Seite des Grundstücks fahren konnten. Still fuhren wir auf das Kiesbett, parkten das Auto und stiegen schließlich still schweigend aus dem Wagen. Schnell machte ich die Taschenlampe von meinem Handy an, da das Grundstück in völliger Dunkelheit stand. Meine Mutter suchte unter der Fußmatte nach dem Hausschlüssel und öffnete schließlich die schwarze Tür.
„Ich schaue mich nach einem Zimmer für Tom um, ich möchte ihn nicht wecken“, erklärte sie und verschwand hinter den alten Wänden.
„Warte, ich komm mit“, rief ihr Leandro hinterher und folgte ihr. Erschöpft seufzte ich und drehte mich wieder zum Auto um. Verträumt betrachtete ich Tom durch die verregneten Fensterscheiben und fragte mich, ob er überhaupt verstand, was hier passierte. Bestimmt verstand er es nicht. Ich verstand es ja nicht einmal selbst. Immer noch klammerte ich mich an den Gedanken, dass ich sie irgendwie retten könnte, wenn Leandro mir endlich erzählen würde, was ich machen müsste. Die Traurigkeit war verschwunden und stattdessen begann ich nichts zu fühlen. Meine Gedankengänge waren klar und ich fühlte mich einfach nur leer.
Plötzlich zog ein kräftiger Wind auf, der die Baumkronen des Waldes zum knarren brachte und mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Im Wehen des Windes bildete ich mir ein meinen Namen gehört zu haben. Misstrauisch drehte ich mich um und erkannte schließlich Lynn, die mit ernster Miene auf mich zugelaufen kam.
Ich wusste nicht wie ich ihr gegenübertreten sollte. Mit Sicherheit hatte sie alles gesehen und wusste genau was passiert war.
„Hey“, murmelte ich leise und machte einen kleinen Schritt auf sie zu, da sie in einiger Entfernung zu mir stehen geblieben war.
„Ich,.. ich also... na ja. Ich wollte es dir schon die ganze Zeit sagen, also... es wird dir jetzt wohl nicht helfen, aber...”, fing sie an, doch Leandro hatte sich unbemerkt zu mir geschlichen und sie, ohne es zu wissen, mit seiner Frage unterbrochen.
„Wir bringen Tom ins Bett, kommst du dann mit rein?” Ich nickte und lief ohne weitere Worte vor, um den beiden die Tür aufzuhalten. Um Lynn kümmerte ich mich nicht länger, ich ließ sie einfach im Regen stehen und verzog mich ins Haus. Ich hatte jetzt keinen Kopf für ihre Probleme. Ich wusste nicht wie ich ihr gegenübertreten sollte und wahrscheinlich wusste sie das auch nicht. Natürlich war der Tod der eigenen Schwester etwas, was man nicht so nebenbei wegsteckte. Aber ich sträubte mich dagegen ihr zu zeigen, wie sehr es mich mitnahm. Ich wollte nicht, dass mich irgendwer anders behandeln würde, als er es sonst getan hatte. Auch wenn die Trauer meinen Kopf noch nicht erreicht hatte, so war ich mir sicher, dass ich davon nicht verschont bleiben würde.
„Alex kommst du?“, fragte Mum, als sie schon oben im ersten Stock waren und ich immer noch im Eingang stand.
„Ja“, flüsterte ich und ließ meine Finger über die abgebröckelte, schwarze Farbe des Türrahmens gleiten. Stumm folgte ich den anderen nach oben, in einen langen Flur. Im Haus war es immer noch völlig dunkel. Nur die Kegel der Taschenlampen leuchtete uns den Weg und ließen erahnen, in welchen Farben die Wände gestrichen waren. Die Wände des Flures langen sehr eng beieinander und gaben einem das Gefühl, in der stickigen Luft, nicht atmen zu können.
Mum und Leandro brachten Tom in eins der Zimmer. Ich hingegen blieb in dem langen Flur zurück und wartete darauf, dass sie mir ein Zimmer zuweisen würden. Nachdem sie sich einige Zimmer angesehen hatten, verschwand meine Mum in einen der Räume und Leandro kam wieder zu mir.
„Was machen wir jetzt?“, fragte ich vorsichtig und setzte mich auf die Treppenstufen. Ich war viel zu aufgewühlt, um jetzt einschlafen zu können. Außerdem hatte ich Angst mit meinen Gedanken alleine sein zu müssen. Ich wollte den Moment, in dem ich wirklich verstehen würde, dass ich sie nie wieder sehen könnte, unbedingt so lange herauszögern, wie es nur irgendwie möglich war.
„Ich werde versuchen zu schlafen und das solltest du vielleicht auch“, entgegnete er nur knapp und versuchte ein aufmunterndes Lächeln über seine Lippen zu bringen. Seufzend nickte ich nur und stütze mich auf meinen Knien ab. Mit leisen Schritten verschwand er hinter der dritten Tür, auf der linken Seite des Flures und schon legte sich die gefürchtete Ruhe über das Haus. Nachdem ich eine Weile den Holzboden angestarrt hatte, raufte ich mich zusammen, ging noch mal auf die Toilette und verschwand schließlich in dem mir zugeteilten Zimmer. Ich bezog das Zimmer gegenüber von Leandro. Auch mein Raum war dunkel und da ich nicht in der Stimmung war mir irgendwas genauer anzusehen, leuchtete ich nur das Bett ab. Das Bett war bezogen und gegen all meine Erwartungen schien die Bettwäsche sauber zu sein. Morgen, wenn es wieder hell wäre, würde ich es neu beziehen und einige Staubschichten von den Schränken entfernen. Seufzend legte ich mich ins Bett und versuchte in der neuen Umgebung einschlafen zu können. Doch so wie ich es mir schon gedacht hatte, konnte ich kein Auge zumachen. Verzweifelt versuchte ich die vielen Gedanken zu verdrängen und aufzuhören, die Quadrate an der Decke zu zählen. Es brachte nichts, wie sehr ich mich auch bemühte, wie viele Positionswechsel ich auch ausprobierte und wie oft ich mir auch vornahm, nicht mehr über sie nachzudenken, ich konnte einfach nicht einschlafen.
Irgendwann sprang ich frustriert wieder auf, zog mir meine Jacke über, da es in diesem alten Haus ziemlich kalt war und schlich mich aus dem Raum. Zögernd blieb ich vor Leandro´s Tür stehen und fragte mich, ob er schon schlief. Ob ich ihn nerven würde, wenn ich mich jetzt zu ihm schleichen würde? Ich brauchte Ablenkung, also dachte ich nicht länger nach, öffnete seine Tür und machte einen Schritt in sein Zimmer. Dieser Schritt hatte sich ganz eigenartig angefühlt und mich irgendwie an meine Kindheit erinnert. Meine Hände waren genauso schwitzig, wie sie es damals gewesen waren, wenn ich vor der Tür meiner Eltern gestanden und etwas von Ihnen gewollt hatte. Diese Unsicherheit war die Selbe. Nicht zu wissen, ob sie schon schliefen, sie eigentlich nicht stören und wecken zu wollen, obwohl man wusste, dass man ohne sie keine Ruhe finden würde. Und vor allem nicht zu wissen, wie sie reagieren würden.
„Leandro?“
„Schläfst du schon?“
„Leandro?“, drängte ich etwas lauter und machte einen leisen Schritt auf ihn zu. Mühsam drehte er sich um und hielt die Hand vor Augen seine, da er von dem Licht meines Handys geblendet wurde.
„Was ist?“
„Ich...ich kann nicht schlafen...“
„Ja und jetzt?“ Enttäuscht von dieser Antwort, ließ ich den Kopf hängen und begann zu stottern:
„Ich... ähm, also... na ja ich... dachte, also.“
„Ja?“
„Egal, wir sehen uns morgen“, murmelte ich schließlich wieder mutlos. Er müsste wissen, wie ich mich fühlte. Er hatte seine ganze Familie verloren, er wusste genau welche Gedanken in meinem Kopf vor sich gingen, warum also war er dann so abweisend zu mir?
„Gut.“ Mit dieser Antwort drehte ich mich wieder um und wollte sein Zimmer verlassen, doch an der Türschwelle stoppte ich und musste noch etwas loswerden, was mir schon den ganzen Tag auf der Seele gebrannt hatte.
„Leandro?“
„Was ist denn noch? Ich will endlich schlafen“, brummte er mürrisch und seufzte, während er versuchte sich etwas aufzurichten.
„Ich... es tut mir leid.“ Ein Weile schwiegen wir und gerade als ich mich damit abfinden wollte keine Antwort zu bekommen, äußerte er sich endlich und bot mir das an, auf was ich schon die ganze Zeit gehofft hatte:
„Alex bleib hier.“ Ein sanftes Lächeln huschte über meine Lippen und ich lief in die Mitte seines Zimmers, um dort auf eine weitere Einladung zu warten.
„Na komm, steh da nicht so rum. Komm her“, schlug er vor und hob seine Bettdecke hoch. Ich zögerte nicht länger, warf meine Jacke auf den Sessel, kroch unter die Decke und kuschelte mich in seine warmen, beschützenden und beruhigenden Arme. Auch wenn ich eigentlich keinen Grund zum Lächeln gehabt hätte, so reichte mir seine Nähe, um etwas schmunzeln zu können. Ich genoss den Moment in vollen Zügen. Er kuschelte sich dicht an mich, strich mir sanft durchs Haar und verpasste mir mit seinem warmen Atem, an meinem Nacken, eine gewaltige Gänsehaut. Es fühlte sich echt an und ich hatte tatsächlich das Gefühl, als würde er wirklich anfangen mich zu mögen. Vielleicht würde es doch funktionieren, vielleicht war es kein Fehler gewesen, mich wieder auf ihn eingelassen zu haben.
„Alex?“, fragte er plötzlich in die Stille hinein und machte mich nervös. Verwundert über dieses Gefühl, ließ meine Antwort etwas auf sich warten und ich versuchte einen Grund für diese Nervosität zu finden. Er kannte mich mittlerweile wohl ziemlich gut, hatte so einige Gefühlszusammenbrüche miterlebt und kannte meine verzickte Seite, also wenn er jetzt immer noch da war, dann konnte ich wohl kaum etwas falsches sagen oder?
„Ja?“
„Machst du dir Vorwürfe?“
„Vorwürfe? Denkst du denn ich sollte mir welche machen?“, fragte ich stattdessen, da ich diese Frage nicht beantworten wollte. Natürlich machte ich mir Vorwürfe, aber ehrlich gesagt machte ich das fast jedem hier. Er hätte sie beschützen müssen, es wäre seine Pflicht gewesen und das Gleiche galt für mich. Wenn ich mich dem Blut nicht hingegeben hätte, keine Zeit mit dem Arzt verschwendet hätte,... ja vielleicht würde sie dann noch leben. Genauso aber bereute ich es, dass ich mich an diesem Tag so unheimlich zickig, arrogant und kindisch aufgeführt hatte. Besonders erwachsen war ich tatsächlich nicht gewesen. Eine richtige Entschuldigung war wohl schon längst fällig.
„Nein, das solltest du definitiv nicht! Es ist eben einfach blöd gelaufen.“
„Blöd gelaufen? Nein, ich hätte nicht einfach ohne Worte verschwinden sollen, ich hätte mich meiner Gier nicht hingeben sollen und ich hätte darauf bestehen müssen, dass du mir die Wahrheit sagst. Also ja, natürlich mache ich mir Vorwürfe und das sollte ich auch.“
„Das ändert aber nichts an der Tatsache und du hättest nichts machen können. Ich hätte dir niemals die Wahrheit gesagt und ich glaube, das wusstest du ganz genau.“
„Du hast mir also nicht die Wahrheit gesagt!“, ertappte ich ihn und setzte mich wieder aufrecht ins Bett.
„Dann sag sie mir wenigsten jetzt!“, forderte ich laut und drehte mich zu ihm nach hinten um, damit er meinen flehenden Augen auch ja nicht widerstehen konnte.
„Kann ich nicht, du würdest nur etwas Dummes anstellen.“
„Nein, würde ich nicht! Du kennst mich doch gar nicht gut genug, um zu wissen was ich tun würde. Ich kann ihr noch helfen? Richtig?“
„Nein“, antwortete er nur knapp, vermied aber jeglichen Blickkontakt, was mich sehr aufmerksam und stutzig werden ließ. Es gab etwas womit ich sie zurück holen könnte und es war noch nicht zu spät! Ich würde ihr helfen und das heute noch, egal was ich mit ihm anstellen müsste.
„Du lügst schon wieder! Was muss ich tun, damit du es mir erzählst?“
„Du kannst nichts machen. Ich kann und werde dir nichts sagen, verstanden?“
„Nein, das verstehe ich nicht! Sag es mir!“, zischte ich nun wütend. Wie konnte er mir das vorenthalten wollen? Wenn er etwas wusste, dann war es doch fast seine Pflicht, es mir zu sagen.
„Alex, es reicht jetzt. Sag mir lieber wo du gewesen bist. Warum hast du das Zimmer überhaupt verlassen? Warum bist du gegangen ohne etwas zu sagen? Hm?“, entgegnete er vorwurfsvoll, hörte auf über meinen Rücken zu streicheln und stieg aus dem Bett, um sich, mit den Händen in die Hüfte gestemmt, vor mir aufbauen zu können. Leichtsinnig von ihm zu glauben, dass er mich auf diese Weise einschüchtern könnte.
„Sag du mir nicht wann es reicht! Sie ist meine Schwester und ich muss ihr helfen, wenn es auch nur den Hauch einer Chance gibt. Noch würde es funktionieren? Oder?“, antwortete ich energisch und stand ebenfalls auf. Er sollte bloß nicht denken, dass ich irgendwann locker lassen würde.
„Ich mach das doch nicht um dich zu ärgern. Ich muss wenigstens dich vor einem großen Fehler beschützen“, flüsterte er plötzlich unsicher. Machte er sich etwa auch Vorwürfe für Mia´s Tod? Und ich hatte gedacht, dass ihn die ganze Sache kalt ließ. Trotz alledem würde ich mich nicht davon abbringen lassen endlich das zu bekommen, was ich unbedingt wollte.
„Du kannst mich nun mal nicht vor allem beschützen. Außerdem kann ich immer noch gut auf mich selbst aufpassen.“
„Aber vor diesem Fehler kann ich dich beschützen“, hauchte er mir sachte ins Ohr, nahm mein Gesicht in seine beschützenden Hände und küsste mich sanft. Kurz ließ ich es einfach geschehen, vergaß weswegen wir stritten, aber dann erinnerte ich mich wieder an die Wichtigkeit des Themas und hörte auf seinen Kuss zu erwidern.
„Ich kann ihr noch helfen, nicht wahr?“
„Nein!“
„Du lügst.“
„Nein tue ich nicht. Was soll ich machen, damit du mir glaubst?“
„Wenn du lügst, wagst du es nie mir in die Augen zu schauen. Und gerade eben hast du auch auffällig den Blickkontakt gemieden. Wenn du also so überzeugt davon bist, dass du die Wahrheit sagst, dann schau mir in die Augen und sag mir, dass ich ihr nicht mehr helfen kann!“
„Das stimmt doch gar nicht“, knurrte er beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust. Seufzend zog ich meine linke Augenbraue hoch und nickte ihm zu. Er sollte mir gefälligst sagen, was ich tun könnte, aber dafür war er viel zu feige. Widerwillig versuchte er es erneut und schaute mir dieses Mal ins Gesicht, während er beteuerte, dass er die Wahrheit sagte. Doch auch jetzt konnte ich ihm nichts glauben. Er traute sich immer noch nicht mir in die Augen zu sehen. Er starrte nur und das an mir vorbei, während er weiterhin versuchte mich anzulügen. Außerdem war dieses Schimmern aus seinen Augen verschwunden. Es fiel mir erst jetzt auf und ich überlegte, ob es schon eine Weile nicht mehr existierte.
„Du kannst mich nicht anlügen! Bei meiner Mutter hat es auch funktioniert und das ganz ohne Probleme.“
„Man Alex, das ist kein Spiel!“, antworte er besorgt, als er verstand, dass er mich nicht mehr anlügen konnte.
„Das weiß ich!“
„Das Ganze steckt voller Risiken. Dass es bei deiner Mutter geklappt hat, war reines Glück. Ihre Zeit war wohl einfach noch nicht gekommen.“
„Aber Mia´s Zeit? Sie war drei Jahre alt! Wo bitte ist das fair?“
„Natürlich ist es nicht fair und ich verstehe, dass du wütend bist, aber du kannst ihr nicht mehr helfen. Selbst wenn ich dir sagen würde, wie es funktionieren könnte, heißt das nicht, dass du sie wiederbekommst. Vielleicht ist sie ganz anders, wahrscheinlich ist sie sogar schon viel zu lange tot. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es funktioniert, okay?“ Er war so verdammt stur wie ich, vielleicht noch etwas mehr und ich hatte einfach keine Kraft mehr immer wieder nachzufragen. Wenn er so über sie redete, dann fing ich mehr und mehr an zu verstehen, dass ich sie nie wieder sehen würde. Er würde mir nicht sagen was ich tun müsste und ich hatte keine Ahnung, wie ich das überhaupt noch rechtzeitig herausfinden sollte. Ich hoffe er war sich dessen bewusst, dass ich ihm dieses Schweigen niemals verzeihen könnte. Nie.
Ich schwieg, mir fiel nichts anderes mehr ein und zum ersten Mal fing ich wirklich an zu verstehen, dass ich nie wieder ihre zarte Stimme hören könnte. Nie wieder ihr niedliches Lachen sehen würde und nie wieder ihre kleinen Hände auf meiner Haut spüren könnte. Diese Erkenntnis brachte meine kleine Welt fast zum einstürzen. Bevor ich die Fassung verlieren würde verschwand ich aus seinem Zimmer, mit einer lächerlichen Ausrede und warf mich in mein Bett.
Die ersten Tränen flossen meine Wagen entlang und brachten mich zur Verzweiflung. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand ein Loch ins Herz geschossen. Der Schmerz des Verlustes zerriss mich und brachte mich dazu laut zu schreien. Eine Mischung aus Schreien, Schluchzen und dem Wort: „Warum“, entstand und erfüllte den kalten Raum. Alte Erinnerungen kamen in mir hoch und erschufen weitere Gefühle des Verlustes. In mir zog sich alles zusammen und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl mein Herz wieder spüren zu können. Es schlug nicht, aber es zog sich in meiner Brust zusammen. Leere füllte mich aus. Stille, Einsamkeit, obwohl ich nicht alleine war.
Unermüdlich rannen Tränen über meine Wangen, die mich zum ersticken brachten und mein Gesicht aufquollen. Meine Schreie wurden leiser und verstummten schließlich in dem Stoff meines Kopfkissens. Unzählige Erinnerungen kamen zum Vorschein und erst jetzt lernte ich sie zu schätzen zu wissen. Erinnerungen, die ich schon längst vergessen hatte. Doch jetzt waren sie goldwert und ich würde plötzlich alles dafür geben, irgendeine von Ihnen noch einmal erleben zu können. Und wenn ich sie nur streiten, sie weinen oder schreien sehen würde, ich würde alles dafür geben. Auch wenn ich wüsste, dass es nicht echt wäre, wenn ich wüsste, wie sehr es mich verletzten und zerstören würde. Ich würde einfach alles für einen Moment mit ihr geben. Sie war weg, sie würde nie mehr zurück kommen und es war meine Schuld, ich war schuld an ihrem Tod und ich konnte mir einfach nicht vorstelle, dass ich mir das jemals verzeihen würde. Wie könnte man sich so etwas überhaupt verzeihen? Wie sollte ich jetzt weiterleben? Wie sollte ich jeden Morgen aufstehen und zur Schule gehen? Gegenüber Fremden so tun, als gäbe es nichts Schlimmes in meinem Leben?
Was ging wohl in dem Kopf meiner Mutter vor sich? Machte sie sich Vorwürfe? Wie konnte sie diesen zerreißenden Schmerz aushalten? Ich war mir sicher, dass ich nie einen größeren Schmerz gefühlt hatte. Warum fühlte sich dieser Schmerz so viel schlimmer an, als Körperlicher? Die Gedanken wollten mich auffressen, ich wusste nicht mehr was ich noch machen sollte. Weinend krallte ich mich in mein Kissen, sprang in der selben Sekunde wieder auf, um dann kurz danach mein Gesicht erneut ins Kissen zu drücken. Apathisch begann ich auf dem Bett hin und her zu wippen. Versuchte die Gedanken zu verdrängen, doch es funktionierte nicht. Ich war kurz davor durchzudrehen und ich wusste nicht, wie ich mich davon abhalten sollte. Was machte jetzt noch Sinn? Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich dieses Bett jemals wieder verlassen sollte, warum sollte ich es auch verlassen? Wieso? Für was? Für wen? Ich fing an über die vergangenen Wochen nachzudenken und fragte mich, warum ich um Leandro so ein Drama gemacht hatte. Eigentlich hatte ich alles gehabt. Meine Mum, meine Schwester und Gesundheit, also warum hatte er mich so aus der Bahn werfen können? Er war niemand aus der Familie, er war nicht gestorben, also warum hatte er mir überhaupt so weh tun können? Warum erinnerte mich dieser Schmerz auch an Verlust? Es war lächerlich gewesen und im Nachhinein fragte ich mich wirklich, warum ich ihn nicht einfach hatte gehen lassen.
Seufzend griff ich nach meinem Handy und öffnete die Bildergalerie. Sie war fast leer, da mein altes Handy in den Flammen kaputt gegangen war und ich die Bilder nicht retten konnte. Und als ich diese Leere so betrachtete, rollten die nächsten Tränen meine Wangen runter und tropften auf das verschmierte Display. Ein einziges Foto konnte ich von ihr finden, tippte drauf und starrte es für eine Ewigkeit an.
Es war das eine Wochenende nach unserem spontanen Umzug zu Anne gewesen. Wir hatten beschlossen alle zusammen zum See zu fahren und dort abzuspannen. Mia hatte sich mit einem kleinen Jungen angefreundet, den sie dort kennengelernt hatte und zusammen waren sie tatkräftig dabei gewesen, ihre eigene kleine Hütte, aus Baumzweigen, zu errichten. Auf ihr Meisterwerk waren die Beiden so stolz gewesen, dass sie darauf bestanden hatten davor fotografiert zu werden. Jetzt war ich froh, dass ich mich dazu überwunden hatte aufzustehen und ein Foto von ihnen zu machen. Stolz stand sie vor der Hütte und grinste der Kamera mit einem breiten Lächeln entgegen.
Jetzt konnte ich sie wenigstens nicht mehr vergessen. Konnte man jemanden, den man wirklich geliebt hatte, überhaupt vergessen? Oder hört man nur auf ständig an diese Person zu denken? Ich zweifelte, aber dieses Foto beruhigte mich. Die Tränen waren langsam getrocknet, trotzdem war ich mir sicher, dass sie bald wiederkommen würden. Beinahe alles was ich sah schien mich an sie erinnern zu wollen. Farben, Geräusche, Gerüche, Stimmen, Formen, Dinge... einfach alles konnte ich mit ihr in Zusammenhang bringen. Wie sollte ich also jemals durch die Straßen laufen, ohne an sie denken zu müssen? Ohne diesen Schmerz spüren zu müssen? Könnte ich jemals wieder lachen? Könnte ich das? Sollte ich das überhaupt? Denn wenn ich das nicht könnte, wenn dieser Schmerz nicht weniger werden würde, dann konnte ich nicht sagen, wie lange ich noch leben wollte. Wofür auch? Ich weiß, es war ein harter Gedanke, es war ein Schwerer, aber er war da und ich wusste, dass er noch eine Weile in meinem Kopf herumschwirren würde.