„Ähm kennt man sich?“, fragte ich forsch und zog meine linke Augenbraue hoch, in der Hoffnung, er würde bald wieder verschwinden. Auf den ersten Blick wirkte er ja recht sympathisch und ich hatte wirklich kein Problem damit, neue Leute kennenzulernen, doch aber nicht abends, im Dunklen, auf einem verlassenen Feld. Oder war ich schon wieder zu verklemmt?
„Nein, aber man kann sich ja kennenlernen oder nicht?“ Kopfschüttelnd wendete ich meinen Blick von ihm ab und starrte wieder auf das Feld, während ich versuchte, ihn und seine Bemühungen, mich in ein Gespräch zu verwickeln, zu ignorieren.
„Ich bin Lucas“, lachte er und reichte mir vornehm seine Hand. Seufzend starrte ich erst sie und dann ihn an, bis ich nur ein Kopfschütteln von mir gab und mich wieder der Ferne widmete. Wie selbstverständlich setzte er sich neben mich auf die Bank und legte sein linkes Bein, angewinkelt, lässig über sein Anderes.
„Ähm was genau wird das jetzt?“
„Du sitzt auf meiner Bank, also habe ich mir erlaubt mich dazuzugesellen.“ Was schiebt der denn für einen Film?
„Deine Bank? Steht da irgendwo dein Name drauf oder was?“, fragte ich genervt und seufzte.
„Nein, aber ich komme jeden Abend hier her und noch nie bin ich auf jemanden gestoßen.“
„Ist ja auch ein absolutes Kaff.“
„Wie auch immer, ich bin Lucas und du?“
„Ich bin nicht interessiert und deinen Namen hast du eben schon erwähnt“, zischte ich besserwisserisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Was zur Hölle war er denn für ein Spinner? Dass die Situation mehr als nur komisch war, hätte ihm wohl bewusst sein sollen oder nicht? Und ich meine, wenn ein Vampir das schon dachte, dann musste es wohl äußerst ungewöhnlich sein. Ich war froh, dass ich ihm gegenüber einige Vorteile haben würde, ansonsten wäre ich schon lange in Panik geraten und hätte versucht zu flüchten.
„Wie auch immer dein geheimnisvoller Name sein mag, er ist mit Sicherheit schön.“
„Ähm...danke? Würdest du mich jetzt bitte in Frieden lassen? Ich suche gerade keinen Gesprächspartner.“
„Ach nein? Und warum haben deine Augen dann so gestrahlt, als du mich hast kommen sehen?“
„Was? Das haben sie gar nicht!“, quietschte ich verlegen und sprang von der Bank auf. Ich spürte schon jetzt, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Ja gut ,vielleicht hatte ich geschmunzelt, aber doch nur, weil es noch jemanden gab, der um diese Uhrzeit lieber an einem Feld hockte, als sich drinnen warmzuhalten. Außerdem hatte ich die Angewohnheit Leute anzulächeln, wenn sie auch lächelten. Das tat ich bei jedem, der sollte sich bloß nichts darauf einbilden. Und meine Augen hatten ganz sicher nicht gestrahlt! So ein Schwachsinn!
„Ach nein? Und warum wirst du dann plötzlich so rot?“, lachte er und stand ebenfalls auf, damit ich ihm auch ja nicht wegrennen konnte.
„Ich war nur erleichtert jemanden zu sehen, der auch keine Hobbys hat und Nachts auf Feldern abhängt. Das war, klar?“
„Wahrscheinlich. Vielleicht bin ich ja auch aus gewissen Gründen hier?“
„Ach ja?“
„Vielleicht suche ich nach einsamen, schwachen Mädchen, die eine unwiderstehlichen Hals haben?“
„Versuchst du mir gerade Angst zu machen? Wenn hier nie jemand ist, dann wird das wohl kaum der Grund sein, wieso du ausgerechnet hier nach diesen Mädchen suchst.“
„Wer sagt denn, dass ich nicht lüge?“, murmelte er plötzlich mit einer ganz anderen Stimme. Viel rauer, verruchter und irgendwie bedrohlicher. Mit zusammengekniffenen Augen machte ich einen Schritt auf ihn zu und nahm mir fest vor, mich nicht einschüchtern zu lassen. Dann war er eben ein Vampir, das war ich auch und laut Leandro, war ich gut. Also wenn ich mich nur groß genug machte und vielversprechende Reden schwingen würde, dann müsste er mich in Ruhe lassen. Mit einem fiesen Grinsen hob er seine Hand und wollte mir die Haarsträhnen vom Hals streichen, um ihn besser betrachten zu können. Doch schnell schlug ich sie weg, wobei ein heftiges Kribbeln meinen Körper durchzuckte. Bei diesem Ruck wurden seine Augen auf einen Schlag ganz groß und in seinem Gesicht stand ganz deutlich geschrieben, wie überrascht er war.
„Warte, du bist ein Vampir?“
„Ja. Hast du n Problem damit?“, knurrte ich und schaute ihm finster in die Augen.
„Nein, ich bin nur verwundert, hier jemanden zu begegnen. Trotzdem hast du einen hübschen Hals.“
„Krümm mir ein Haar und ich katapultier dich quer übers Feld, bis du nicht mehr aufstehen kannst.“
„Gewagte Worte. Was wenn ich das Gleiche mit dir mache?“
„Das wagst du nicht, es sei denn du stehst auf Niederlagen.“
„Oh jetzt hab ich aber Angst.“
„Solltest du auch“, antwortete ich, obwohl ich mir sicher war, dass er es nicht ernst gemeint hatte.
„Keine Sorge, ich werd dir nichts tun. Von wo kommst du?“, fragte er interessiert und setzte sich wieder. Kurz zögerte ich und starrte immer wieder zwischen der Bank und dem Weg nach Hause, hin und her, dann aber gesellte ich mich doch zu ihm. Irgendetwas interessantes hatte er an sich, außerdem hatte ich mir vorgenommen, offener gegenüber neuen Dingen zu sein. Gut, dass ich ausgerechnet mit einem Vampir anfangen würde, hatte ich nicht gedacht.
„Berlin, du?“
„Berlin also? Schöne Stadt.“ Seine Stimme war wieder normal geworden, so wie zu Beginn unseres Treffens und so gefiel sie mir eindeutig besser.
„Ja, ist ganz okay dort. Von wo kommst du?“
„Auch aus Berlin.“ Ich runzelte erneut die Stirn und fragte mich, ob er tatsächlich die Wahrheit sagte. Warum sollte er ausgerechnet aus Berlin kommen? Gab es dort etwa genauso ein Quartier, wie ich es aus England kannte? Waren diese Quartiere vielleicht über die ganze Welt hinweg verstreut?
„Und was verschlägt dich nach Hamburg?“, fragte ich interessiert und musterte ihn ganz genau, um zu erkennen, ob er log. Bei Fremden war das so verdammt schwer und ich wusste, dass ich immer noch so naiv war.
„Stress in der Familie, aber das müsstest du nur zu gut kennen. Immerhin bist du auch von deinem Aufwachsort weggezogen.“
„Hm. Nicht direkt Stress in der Familie. Es gab eher allgemeine Probleme.“
„Seid ihr bei den Menschen aufgeflogen oder wie?“
„Nein. Ich meine Stress mit Werwölfen und einem machtsüchtigen Grafen. Aber ich will dich nicht mit Details langweilen“, sagte ich entschlossen und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die aus meinem Zopf gefallen war. Möglichst unauffällige schaute ich ihn an und fragte mich, wie er wohl so drauf war. Ob er wirklich Mädchen einschüchterte und ihr Blut trank? So wie er es am Anfang angedeutet hatte?
Seine Haare flogen wild im Wind und ich hatte das Gefühl, er wüsste genau, wie nervig das sein konnte. Er war sehr hübsch, mit seinen stark ausgeprägten Wangenknochen und den Sommersprossen, die auf der hellen Haut, mehr als offensichtlich waren. Ja ich weiß, dass ich ihn so nicht betrachten sollte und natürlich vergaß ich auch Leandro nicht, aber er schien schon jetzt ein besserer Zuhörer zu sein, als Leandro es je werden könnte. Ich weiß nicht genau was es war, aber trotz des merkwürdigen Aufeinandertreffens, fing ich an ihn sympathisch zu finden.
„Weißt du was mich verwirrt?“
„Nein, deine Gedanken kann ich jedenfalls nicht lesen.“
„Du trägst ein Amulett.“
„Ja und? Ist das verboten?“, lachte ich und berührte den glänzenden Stein in der Mitte.
„Unsinn. Ich verstehe nicht warum du eins hast. Immerhin musst du dann zu einer Stammbaumfamilie gehören oder wirklich sehr, sehr gute Kontakte zu einer haben.“
„Und warum hälst du das für unmöglich? Seh ich dir etwa nicht adlig oder kontaktfreudig genug aus?“
„Ähm...doch, aber...“ Er zögerte. Fragend sah er mich an und versuchte seine verwirrten Gedanken zu ordnen. Nun gut, ich sah vielleicht wirklich nicht besonders adlig aus und meine Art zu reden, war auch nicht so vornehm, wie es sich vielleicht gehörte, aber seine kritischen Blicke ließen mich denken, dass er vermutete, ich hätte es geklaut.
„Dann musst du mich angelogen haben.“
„Wieso?“
„Soweit ich weiß gibt es in Berlin nur ein großes Quartier mit Vampiren, wo Stammbaumfamilien leben und in diesem Quartier habe ich selbst über hundert Jahre gelebt und dir bin ich kein einziges Mal begegnet. Also bitte erklär mir das“, hakte er stirnrunzelnd nach. Trotz seines Misstrauens und der gut durchdachten Fragen, klang er kein einziges Mal vorwurfsvoll. Leandro hätte schon längst diesen unterschwelligen Tonfall gehabt. Grob schilderte ich die vergangenen Monate und brachte somit Licht ins Dunkle. Tatsächlich war er sehr interessiert an meinem Leben und ich gab schon wieder mehr von mir preis, als ich es eigentlich wollte.
Gleichzeitig aber erfuhr ich auch so einige Dinge über ihn und seine Familie, was mich beruhigte und mich mehr und mehr dazu trieb, ihm mein Vertrauen zu schenken. Wir redeten mittlerweile schon mehrere Stunden miteinander und der Gesprächsstoff wollte uns einfach nicht ausgehen. Er war ein klasse Zuhörer und brachte eine Menge Verständnis mit sich. Keine Ahnung warum ich ihm so schnell vertraute und was ich mir davon erhoffte, aber es tat gut seinen Frust loszuwerden und die eigenen Ängste mit jemanden zu teilen, der mir wirklich zuhören wollte und kein Auslöser für diese Problem war.
„Also warum bist du nach Berlin gegangen?“, fragte ich neugierig, da ich einerseits mehr über ihn erfahren wollte und ich in der letzten halben Stunde fast ausschließlich von meiner Vergangenheit berichtet hatte.
„Nun, ich unterstütze einfach nicht den Lebensstil meiner Familie.“
„Wie meinst du das?“
„Na ja, ich weiß nicht inwiefern du aufgeklärt bist, aber in allen Quartieren ist es nun mal eine Art Brauch, sich Menschen sozusagen zu „halten“ und ihr Blut zu trinken.“
„Ja, ich habe davon gehört, doch soweit ich weiß machen das andere Wesen auch oder nicht?“
„Ja, das stimmt schon, unterstützen tue ich es trotzdem nicht. Ich habe ja eigentlich nicht mal ein Problem damit Menschen ein Teil ihres Blutes zu klauen, ist wohl einfach das Recht des Stärkeren, aber ich will ihnen ja nicht ihr Leben nehmen.“ Sympathisch und irgendwie genau meine Gedanken.
„Das sehe ich genauso. „Recht des Stärkeren“, ist für mich nur sinnloses gefasel, wir haben genauso wenig das Recht dazu, ihr Leben zu verändern oder sie einzusperren, wie sie es oft mit den Tieren machen. Diese ganzen Massentierhaltungen sind einfach eine Schande, kein Wunder, dass es immer mehr Vegetarier oder Veganer gibt.“
„Ist genauso schlimm, wie die ganze Verschwendung an Lebensmitteln und Ressourcen, aber wer fragt uns schon.“ Ich zuckte mit den Schultern und musste mich daran erinnern, dass es wohl möglich verstörend wirkte, wenn ich ihn weiterhin so anstarrte. Gleichzeitig aber faszinierte er mich, dass ich gar nicht aufhören wollte, ihn anzustarren. Er machte sich über Probleme Gedanken, die für mich bis eben gar nicht existiert hatten. Er schien tiefgründig zu sein und alle seine Handlungen zu hinterfragen. Er schien wirklich gut zu sein, von Grund auf gut und so wollte ich auch sein. Ob er naiv war? So wie ich? Ich wusste, dass meine Gedanken zu voreilig waren und jede normale Person hätte mir wohl einen Vogel gezeigt, wenn ich ihr nach so kurzer Zeit schon erzählt hätte, wie überzeugt ich von Lucas war. Aber gegen diese Einstellung konnte ich nichts machen und noch sah ich keinen Grund, warum ich ihm gegenüber vorsichtiger sein sollte.
„Und deshalb bist du gegangen? Ich meine du hättest dich doch diesem Stil nicht anpassen müssen oder?“
„An sich nicht, aber ich war in diesem Blutsauger Club nicht besonders angesehen, wegen meiner Einstellung und ein paar schlechten Entscheidungen meiner Eltern. Ich hatte keine Lust mich länger rumschubsen zu lassen. Sie hielten mir immer wieder frisches Kinderblut unter die Nase, erklärten mir wie gut es doch wäre und zwangen mich es zu trinken.“
„Sie zwangen dich?“
„Na ja, es ist quasi unmöglich zu widerstehen, wenn sie dir damit vor der Nase rumwedeln und es einem auf die Lippen schmieren. Gott, ich werde nie diese angsterfüllten Augen des kleinen Jungens vergessen, als ich ihn umbrachte, weil ich mich nicht mehr beherrschen konnte.“
„Du hast ihn umgebracht?“, fragte ich vorwurfsvoll. Erschrocken suchte ich nach Reue in seinen Augen. Sagte er das nur so oder bereute er es wirklich? Betrübt schaute er zu Boden und ich konnte tatsächlich etwas von Reue in seinen Augen erkennen. Ob Leandro es an seiner Stelle bereut hätte? Wenn, dann hätte er es mich nicht spüren lassen.
„Ja, leider und dafür hasse ich mich immer noch. Gott dieses Blut ist einfach so benebelnd und wie eine Droge. Kinderblut ist eine ganz andere Liga. Nicht vergleichbar mit dem von Erwachsenen. Es machte mich schwach und verletzbar. Sie konnten ihre Spielchen immer größer und heftiger werden lassen. Ich wurde so abhängig von diesem Blut und sie wussten, dass ich das werden würde. Sie wussten genau, was sie machen mussten, damit ich nach ihrer Nase tanzte.“
„Natürlich wussten sie das. Blut im Allgemeinen zu widerstehen ist eine Kunst, die ich nicht verstehe.“
„Du verstehst mich also? Du verstehst, dass ich ihn umgebracht habe? Du entschuldigst es?“, fragte er verblüfft und richtete endlich seine Haare, sodass ich sein komplettes Gesicht erkennen konnte.
„Was heißt verstehen, eher nachvollziehen. Mir ist es nicht anders ergangen.“
„Du hast auch jemanden umgebracht?“
„Nein, zum Glück nicht. Ich wurde von jemanden abgehalten.“
„Wie alt warst du da?“
„Ein Monat jünger als jetzt? Ich habe dir doch gesagt, dass dieser Vampirschwachsinn noch ziemliches Neuland für mich ist. Es war das erste Mal, wo ich trinken musste und ja irgendwie entwickelte ich ein ganz schön starkes Verlangen, unbedingt mehr zu wollen.“
„Richtig, ich hab vergessen, dass das bei dir etwas anders gelaufen ist. Aber warum wolltest du die Person umbringen? Es war doch nur normales Blut oder? Kein Kind?“
„Wie gesagt, es war mein erstes Mal und ich habe auch ziemlich lange nach meiner „Wiederauferstehung“, gewartet, bis ich mich an diese Aufgabe rangewagt habe. Ich war wohl ziemlich am Verdursten gewesen und ja hatte mich plötzlich einfach nicht mehr unter Kontrolle.“
„Und wer hat dich vom Töten abgehalten?“
„Ein Freund“, murmelte ich leise und überlegte. Wie sollte ich das Verhältnis zwischen Leandro und mir beschreiben, ohne, dass ich es lange erklären müsste? Offiziell waren wir nicht zusammen, er hatte mich immer noch nicht gefragt und bis das nicht geschehen war, müsste die Bezeichnung „ein Freund“, wohl ausreichen.
„Es freut mich irgendwie jemanden kennengelernt zu haben, der genauso denkt und mich nicht verurteilt.“
„Wer hat dich denn dafür verurteilt?“
„Niemand, außer meine Eltern. Aber bisher bin ich auch auf niemanden gestoßen, der so denkt, wie ich.“
„Deine Eltern haben dir Vorwürfe gemacht? Und wie bist du dann in Berlin gelandet und wie alt warst du da?“
„Naive 114 Jahre und meine ältere Schwester hat mich nach Berlin verschleppt. Sie konnte es nicht mit ansehen, wie ich dort fertig gemacht wurde und als sie endlich 118 war, nahm sie mich mit und wir verschwanden. Von meinen Eltern habe ich seitdem nichts mehr gehört, aber das ist wohl auch gut so, sie würden mich wohl immer noch verachten. Vor allem seitdem ich mich nur noch von Blutspenden ernähre.“
„Krass, dass du so über deine Eltern denkst.“
„Sie haben nichts anderes verdient“, meinte er plötzlich etwas energischer und funkelte mich fast böse an, als wolle ich sie in Schutz nehmen. Plötzlich erinnerte er mich sehr an Leandro und der Hass, den er auf seine Eltern hatte, schien der Gleiche zu sein, den Leandro auch auf seinen Vater gehabt hatte. Vielleicht gab es dort auch nur Missverständnisse, aber ich war nicht in der Position, um danach zu fragen und ehrlich gesagt hatte ich langsam die Nase voll von dem ganzen Drama, um mich herum.
„Trotzdem schäme ich mich dafür, früher so schwach gewesen zu sein. Ich habe vor meinen Eltern und allen anderen geheult, wie ein Feigling.“
„Immerhin sprichst du von der Vergangenheit, ich würde das gerne jetzt noch ablegen wollen, nur anscheinend stell ich mich dafür viel zu blöd an.“
„Ist ja auch schwer so etwas zurückzuhalten.“
„Ich bewundere dich trotzdem dafür. Du wirkst so erwachsen und irgendwie gefühlskalt, also nicht im negativen Sinne, einfach so, dass dich nichts mehr aus der Bahn werfen kann.“
„Bewundernswert wäre es vielleicht, wenn ich es alleine so geschafft hätte, aber mir hat ein Kumpel einen Trick verraten und ja seitdem, geht’s mir wirklich besser.“ Einen Trick? Hörte sich vielversprechend an.
„Einen Trick? Was meinst du?“ Er fing zu schmunzeln an und stand von der Bank auf. Ich tat es ihm gleich, da wir schon einige Stunden hier hockten und meine Beine langsam einschlafen wollten.
„Es ist einfach der regelmäßige Blutkonsum. Ich habe mich mittlerweile auf zwei Blutbeutel am Tag beschränkt. Zu Beginn braucht man etwas mehr und es kommt einem wie Verschwendung vor, aber auf lange Sicht gesehen, bringt es echt viel.“
„Du trinkst zwei Beutel am Tag? Okay das ist echt heftig, ich meine ich gebe mich einmal im Monat mit etwas Blut zufrieden, wenn überhaupt.“
„Ja und genau das ist der Fehler. Ich denke, nur wenige Vampire wissen, wie das Blut wirklich funktioniert. Du bist viel stärker, du musst weniger schlafen, dieses elendige Hungergefühl verschwindet und du wirst gleichgültiger.“
„Das klingt ja alles gar nicht so schlecht, aber ich will ja nicht gleichgültig werden.“
„Ja okay, das ist vielleicht auch das falsche Wort. Du bist einfach nicht mehr so verletzlich, ich weiß nicht wann ich das letzte mal weinen musste. Es trifft einen einfach nicht mehr so. Man ist endlich nicht mehr sensibel. Man denkt vielleicht, um so mehr Scheiße man im Leben durchmacht, desto abgefuckter und gleichgültiger wird man, aber ich kennen bisher nur Leute, die dadurch weinerlicher geworden sind und das Blut hat ihnen allen geholfen.“
„Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass man ohne das Blut gleichgültiger werden kann, von alleine. Und was ist mit den anderen Gefühlen? Liebe? Empathie? Werden die auch weniger?“
„Nein, um Gottes Willen. Es bezieht sich nur auf die negativen Gedanken und Gefühle. Also ich mache das jetzt wirklich intensiv und regelmäßig, circa seit einem halben Jahr und wie du siehst, geht’s mir blendend“, sagte er schmunzelnd und drehte sich ein Mal im Licht der Laternen, um uns herum. Zögernd musterte ich ihn und fragte mich, ob Leandro davon wusste und ob er es vielleicht sogar selbst ausprobiert hatte. Immerhin wirkte er fast so gefasst, wie Lucas.
„Ich weiß nicht, vielleicht probier ich`s mal aus.“
„Mach das, in schlechten Zeiten, kann das wirklich Wunder wirken.“
„Na dann wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt dafür“, murmelte ich fast aufmerksamkeits- bettelnd, stellte meinen linken Fuß auf die Kante der Bank und schnürte mir den Schuh zu.
„Okay, weißt du was? Ich könnte dir dabei helfen, also nur wenn du willst.“
„Wie meinst du das?“
„Ich habe genügend Vorräte Zuhause und meine Schwester hat da mit Sicherheit nichts gegen. Also der Anfang ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber wie gesagt, ich würde dir helfen.“
„Hmm,... ich weiß nicht.“
„Was hast du schon zu verlieren? Ein Versuch ist es wert und du kannst jeder Zeit wieder damit aufhören, wirklich.“ Ich zögerte wirklich lange und ich überlegte krampfhaft, was dagegen sprechen könnte, denn mein Bauchgefühl verriet mir, dass es keine gute Idee wäre, aber es gab einfach nichts schlechtes. Gut, ich kannte ihn noch nicht lange, aber das könnte man ändern und wie er schon sagte, falls es mir nicht gefallen sollte, könnte ich damit immer noch aufhören.
„Na gut, ich sollte es wohl wirklich ausprobieren und wann?“
„Jetzt, wir könnten zu mir gehen.“
„Jetzt? Und was ist mit deiner Schwester, wird sie nicht etwas verdutzt schauen, wenn ich da einfach antanze?“
„Quatsch, sie hat damit kein Problem. Du musst nicht, ist nur ein Angebot“, schlug er vertrauenerweckend vor und klimperte mit seinen langen Wimpern.
„Ja okay. Ist eigentlich nicht meine Art Fremden zu vertrauen, aber ich wollte mich eh ein wenig ändern, warum also nicht.“
„Wieso solltest du dich ändern wollen?“
„Du kennst mich nicht.“
„Stimmt, aber mein Gefühl täuscht mich selten.“
„Vielleicht bist du einfach naiv?“
„Das verletzt mich jetzt aber“, lachte er. Ich konnte nicht anders, als mitzulachen und es fühlte sich gut an. Ich mochte die lockere Stimmung, die zwischen uns herrschte und das Gefühl, wichtige Sachen vergessen zu dürfen.
Mit meinen zustimmenden Worten machten wir uns auf den Weg zu ihm und ich redete mir weiterhin ein, dass meine Entscheidung richtig war. Natürlich kannte ich ihn nicht, aber was sollte er mir schon böses wollen? Außerdem glaubte ich nicht, dass er mich mit etwas angelogen hatte. Ja wahrscheinlich war es naiv und dumm, aber das interessierte mich nicht länger, außerdem war er ein guter Zuhörer, den ich gerade einfach brauchte.
Zudem sollten sich meine Mum und Leandro, ruhig mal Sorgen machen. Er wollte eh nichts von meinen dunkelsten Gedanken wissen, also brauchte er sich nicht zu wundern, wenn ich mich jemand anderen anvertraute. Und aufregen konnte er sich auch nicht, ich ging ihm schließlich nicht fremd, sondern nutzte nur die Gelegenheiten, die mir geboten wurden. Ja mein Entschluss stand fest! Ich würde Lucas folgen und seinen Lebensstil ausprobieren. Aufgeregt und neugierig lief ich neben ihm her und war bereit für neue Eindrücke und Erfahrungen.