Eine Weile starrte ich das laufende Blut einfach nur an und konzentrierte mich darauf, weiter atmen zu können, da die Luft mittlerweile unglaublich stickig geworden war und meine Kehle immer enger wurde. Doch irgendwann erwachte ich aus dieser Starre, sprang panisch auf und versuchte ein weiteres Mal, das Wasser abstellen zu können. Endlich hatte ich Erfolg, das Wasser verschwand und auch die Tür war nicht mehr verklemmt. Schwer atmend stolperte ich aus der Dusche und legte mich erleichtert auf den kalten Boden. Er kühlte meinen erhitzten Körper nicht lange und als das angenehme Gefühl verschwunden war, rappelte ich mich wieder auf. Bevor ich an irgendetwas anderes denken konnte, band ich mir die Kette mit dem Amulett wieder um und hoffte, dass meine Schnitte sofort heilen würden. Doch mit diesem Denken lag ich falsch, es passierte nichts und das Blut rann weiter meine Handgelenken runter. Kopfschüttelnd griff ich nach dem Handtuch, was ich mir zuvor zurecht gelegt hatte und band es mir um.
Plötzlich drang ein energisches Quietschen in meine Ohren, was mir eine gewaltige Gänsehaut über den Rücken jagte. Ruckartig drehte ich mich zum beschlagenen Spiegel um und erschrak, als ich eine dunkle Gestalt davor erblickte. Sie war klar zu sehen, ich konnte sie deutlich erkennen, trotzdem trat nur Schwärze in meine Augen und ihr breiten Grinsen blieb in Erinnerung. Große, breite und scharfe Zähne lachten mir entgegen. Nicht freundlich, eher tückisch und bedrohlich. Sie, ja ich war mir sicher, dass es ein Mädchen war, schloss ihre feurigen Augen, wendete sich dem Spiegel zu und fing an mit triefenden Blut, Buchstaben zu schreiben:
„Verschwindet aus diesem Haus. Oder ich reiße euch in Stücke, trinke euer Blut!“ Das Quietschen verschwand und gleichzeitig auch sie. Bewusst versuchte ich meine Atmung zu kontrollieren. Es brachte mir jetzt rein gar nichts, wenn ich den Verstand verlor. Ich kannte dieses Geisterspiel und ich hatte es schon ein Mal überlebt, also sollte dieses hier, ein Leichtes für mich sein! Kritisch kniff ich meine Auge zusammen und wartete auf den Moment, wo sie wieder auftauchen würde und mich erschrecken wollte, doch dieser Moment fiel aus. Verwirrt von ihren Absichten, rückte ich mein Handtuch zurecht, griff nach meinen Klamotten und flüchtete auf den Flur.
Meine schnellen Schritt gingen in ein flinkes Rennen über, was immer unkontrollierter wurde. Zugegebener Maßen hatte sie mich verschreckt und so konnte ich nicht anders, als meinen Blick beim Rennen, immer wieder nach hinten zu richten, um mir sicher sein zu können, dass sie mir nicht folgte. Auch wenn mein Zimmer fast genau gegenüber des Badezimmers war, so kam mir der Flur dieses Mal ungewöhnlich lang vor.
Plötzlich verlor ich jedoch die Kontrolle über meine Füße, stolperte über eine angehobene Diele und fiel in starke Arme. Sofort liefen meine Wangen knallrot an, nicht etwa, weil ich nur mit einem Handtuch bekleidet, direkt vor ihm stand, sondern weil meine Handgelenke immer noch tierisch bluteten und ich nicht wissen wollte, was er von mir denken würde. Mit großen Augen starrte ich ihn an und er tat das auch. Wie angewurzelt stand er da und betrachtete meinen halbnackten Körper, von oben bis unten.
Ohne ein Wort wandte ich mich wieder aus seinen Armen, nickte ihm dankend zu und wollte verschwinden, doch er zog mich zurück und blickte mir auffordernd entgegen. Ich wusste, dass er mit mir über die Situation von vorhin reden wollte.
Doch ausgerechnet jetzt? Mit immer noch erhitzten Wangen, stapelte ich die Kleidung über meine Arme und versuchte zu ignorieren, dass das ganze Blut meine Kleidung völlig versauen würde. Er sollte die Schnitte bloß nicht sehen. Er würde sich unnötige Gedanken machen, wahrscheinlich sogar mit meiner Mum darüber sprechen und am Ende würden sie versuchen mich in eine Klapse zu stecken und das, hatte ich wirklich nicht nötig.
„Was ist?“, fuhr ich ihn unfreundlich an.
„Wir sollten reden.“
„Ja sollten wir, aber nicht jetzt.“
„Wieso? Willst du schon wieder davon laufen?“ Schon wieder? Er hatte genauso wenig versucht ein Gespräch zustande zu bekommen, bis eben zumindest.
„Quatsch, aber ich bin halbnackt und ich würde mich gerne anziehen.“ Verdutzt von meiner direkten Antwort, kniff er seine Augen fragend zusammen und seufzte.
„Also würdest du bitte?“
„Was?“
„Mein Arm“, drängte ich genervt. Schnell ließ er mich los und ich konnte endlich wieder auf Abstand gehen.
„Ich komm zu dir rüber“, murmelte ich bestimmend und verschwand endgültig. Sicher in meinem Zimmer angekommen, suchte ich hektisch nach einem Verbandskasten. Meine Sachen könnte ich mit Sicherheit wegschmeißen. Zum Glück fand ich ein paar Verbandsreste, die von dem Fahrradunfall meines Bruders übrig geblieben waren. Gestresst band ich mir so viel Stoff um, wie es nötig war und konnte mich endlich erleichtert setzen, als das Blut nicht mehr meinen Arm herunterrinnen konnte.
Einen Moment verschnaufte ich auf meinem Bett und versuchte ruhiger zu werden. Ich hatte schon tausend andere Sorgen, da brauchte ich ganz bestimmt nicht schon wieder einen Geist, der mir das Leben zur Hölle machen wollte. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, zog ich mir lange Sachen an und machte mich schließlich auf den Weg zu Leandro. Die blutgetränkten Sachen hatte ich vorerst in eine leere Schublade geworfen. Später würde ich mich darum kümmern.
Was er wohl mit mir besprechen wollte? Natürlich wollte er über den Streit mit meiner Mutter reden, da war ich mir sicher. Aber würde er auch über uns sprechen wollen? Ich meine, würde er wirklich über uns sprechen können? Würde er mir erzählen, wo er die ganzen Nächte gewesen war? Müsste ich ihm erzählen, wo ich die ganzen Nächte gewesen war? Was auch immer er alles besprechen wollte, ich würde in Erklärungsnot kommen und das machte mir Angst. Aber jetzt war es zu spät, um zu kneifen. Ohne mich anzukündigen platzte ich in sein Zimmer und setzte mich wie selbstverständlich auf sein Bett, während ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.
„Setzt dich doch“, murmelte er kopfschüttelnd, während er sich gerade ein T-Shirt über den Kopf zog und sich zu mir umdrehte.
„Hab ich ja. Also was willst du mit mir bereden?“
„Ne Menge“, schnaufte er und ließ sich neben mich aufs Bett plumpsen.
„Auf ein mal? Wie kommt es?“ Meine Fragen ignorierte er gekonnt und stellte gleich eine Gegenfrage. Meinen Vorwurf hatte er ganz genau mitbekommen, doch er wollte nichts dazu sagen. Feigling!... So wie ich.
„Was war das mit deiner Mutter? Erst bist fröhlich und im nächsten Moment willst du dich mit ihr streiten?“ War ja klar, dass er mit diesem Thema anfangen würde.
„Ich wollte mich mit ihr streiten?... Ja okay, vielleicht. Aber ich hatte jeden Grund dazu. Du hast ihre Blicke auch gesehen und wir wissen beide, dass ich mit meinem Vorwurf Recht hatte. Sie gibt mir die Schuld am Tod meiner Schwester und das kann ich nicht auf mir sitzen lassen.“
„Du kannst sie doch nicht verurteilen, nur weil dir ihre Blicke nicht gepasst haben. Für Gedanken kann man nun mal nichts und ich bin mir sicher, dass du auch Gedanken hast, die du für dich behalten willst.“
„Klar habe ich sone Gedanken, aber doch nicht auf diese Art und Weise. Ich habe keine Sekunde daran gedacht, ihr die Schuld für Mia´s Tod in die Schuhe zu schieben.“
„Du kannst ihr das nicht übel nehmen. Sie hat ihre Tochter verloren und sie gibt sich mit Sicherheit auch die Schuld an ihrem Tod...“
„Nee, die gibt sie ja schon mir“, zischte ich eingeschnappt und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Für wen hielt er sich eigentlich? Er tat so, als wüsste er alles über mich und sie. Doch das wusste er nicht. Er hatte keine Ahnung mehr von meinem Leben und bis eben hatte er sich auch nicht dafür interessiert! War ja mal wieder typisch, dass er auf ihrer Seite stand.
„Auch sie hat deinen Vater verloren, ihren Mann. Versetz dich doch mal in ihre Lage.“
„Warum machst ausgerechnet du mir Vorwürfe? Sie hat sich auch nie in meine Lage versetzt und an Dad kann sie sich doch sowieso nicht mehr erinnern. Warum denkt hier nie jemand an mich? Ich habe auch meine Schwester verloren und meinen Dad. Und beides war nicht gerade einfach für mich“, entgegnete ich vorwurfsvoll und machte meinem Ärger etwas Luft. Nachdenklich sah mich Leandro an, doch er gab nur unbeteiligt ein Schulterzucken von sich.
„Das ist also deine Antwort darauf? Na vielen Dank auch“, zischte ich und sah ihn wütend an. Auf diese Art von Unterhaltung konnte ich getrost verzichten.
„Ich will dir keine Vorwürfe machen, aber...“
„Ach nein? So hört es sich aber an“, unterbrach ich ihn voreilig.
„Ich will dir nicht zu nahe treten, aber könnte es sein, dass dich der Tod deiner Schwester mehr aus der Bahn geworfen hat, als der deines Vaters?“, fragte er vorsichtig und versuchte dabei ganz ruhig zu bleiben. Erschrocken von diesem Vorwurf und der Befürchtung, dass er Recht haben könnte, zögerte ich einen Moment.
„Ist doch bei dir das Gleiche“, verteidigte ich mich.
„Das kann man nicht vergleichen und das, weißt du ganz genau. Du weißt was zwischen meinem Vater und mir vorgefallen ist, also sei vorsichtig mit deinen Worten.“
„Ich soll vorsichtig mit meinen Worten sein? Du behauptest, dass ich meinen Vater weniger geliebt habe, als meine Schwester und das, obwohl du nichts von uns weißt. Rein gar nichts über die Beziehung von mir und ihm!“
Seine Worte waren hart und ich bekam die Befürchtung, dass er wirklich Recht damit hatte. Auch wenn er gerade nicht in der Position gewesen war, mir das an den Kopf zu werfen. Vielleicht war das die Wahrheit, vielleicht hatte ich um meine Schwester mehr getrauert, als um meinen Vater. Vielleicht lag das an der Affäre, die er gehabt hatte und an der Bitte, Mum nichts davon zu erzählen. Ich wollte ihn dafür sogar hassen, dafür, dass er meine Mum so lange belogen hatte und dafür, dass er immer gewollt hatte, dass ich schweige. Ich wollte ihn wirklich hassen, aber wie konnte man jemanden hassen, der tot war?
„Wo warst du all die Nächte?“, fragte ich schließlich in die Stille hinein, um vom Thema abzulenken und endlich nicht mehr das Gefühl haben zu müssen, dass nur ich etwas falsch gemacht hatte.
„Kann dir doch egal sein. Wo warst du denn? Du hast so gesprochen, als wärst du bei jemanden gewesen? Einem Jungen?“ Seine Worte waren voller Eifersucht und das gefiel mir. Trotzdem verzog ich keine Miene. Ich wollte nicht über diese Nächte sprechen und vor allem nicht darüber, dass ich mit dem regelmäßigen Konsum von Blut angefangen hatte. Ein Gefühl sagte mir, dass Leandro versuchen würde es mir auszureden und das konnte ich momentan wirklich nicht gebrauchen.
„Geht dich nichts an.“
„Ich denke schon, immerhin bin ich dein Freund.“
„Ach ja? Bist du das? Du hast mich nie gefragt, ob ich deine Freundin sein möchte und so, wie du momentan mit mir umgehst, könnte man denken, wir wären nicht mal Freunde“, sagte ich klar und fühlte mich gleich etwas erleichtert. Es tat gut meine Gedanken auszusprechen, vielleicht hatte Lucas Recht gehabt. Trotzdem hatte ich Angst vor seiner Antwort und vor dem, wo dieses Gespräch enden würde.
„Du bist wie deine Mutter. Deine Sätze stecken voller Vorwürfe.“ Schon wieder wich er den Fakten aus und ich fing an daran zu zweifeln, dass ich jemals erfahren würde, wo er sich die Nächte über aufgehalten hatte.
„Du gehst schon wieder den wichtigen Dingen aus dem Weg. Außerdem steckt in jedem deiner Sätze ein Vorwurf gegen mich.“
„Du beschwerst dich darüber, dass ich nie gefragt habe was du abends machst, dass wir keine Zeit mehr zusammen verbringen, dabei hast du mich doch auch kein einziges Mal gefragt. Du verschwindest, wie ich, jede Nacht und auch du hast nie nach mir gefragt. Wenn du wirklich etwas hättest machen wollen, hättest du einfach gefragt.“
„Und warum muss ich das machen? Warum kannst du nicht mal den Anfang machen? Mich einfach mal fragen, wies mir geht und sich nicht mit einem „Okay“ zufrieden geben? Du weißt ganz genau, dass es mir nicht gut ging und es hat dich nie interessiert. Warum soll ich da noch auf dich zugehen?“
„Das Gleiche könnte ich dich fragen. Vielleicht sind wir beide einfach zu stur.“
„Aha, das ist alles was du dazu sagst?“, fragte ich enttäuscht. Das wars also? Wir waren zu stur für diese Beziehung?
„Was soll ich denn sonst dazu sagen?“
„Keine Ahnung, jedenfalls nicht das. Anscheinend juckt dich unsere Beziehung gar nicht mehr.“
„Dich doch auch nicht.“
„Okay anscheinend rede ich hier gegen eine Wand. Ich glaube du weißt ganz genau was ich meine, aber es interessiert dich einfach nicht.“
„Wenn du meinst.“
„Wow, du steckst hier echt viel Aufwand rein. Ich will mit dir darüber reden, das irgendwie wieder hinbekommen und alles was du von dir gibst, sind gleichgültige Antworten?“, fragte ich fassungslos, dass dieses Gespräch tatsächlich so enden sollte. Meine Angst vor diesem Gespräch war wohl mehr, als nur berechtigt gewesen. Alles was ich als Antwort bekam, war ein gelangweiltes Schulterzucken und ein emotionsloser Blick.
„Weißt du was? Du bist unmöglich! Alles was du kannst, ist mir Vorwürfe zu machen und dich wie jemand zu verhalten, der denkt, er könnte alles besser. Dabei bist du nur ein verschlossener Scheißkerl, der anderen gerne die Schuld gibt und Kritik nicht ab kann!“, zischte ich wütend und verließ das Zimmer, ohne ihm ein letztes Mal in die Augen zu sehen.
Klar, ich hätte ihn auch fragen können, Vorschläge machen sollen, aber wenn er so abweisend zu mir war, dann brauchte er sich echt nicht wundern, wenn ich darauf wartete, dass er auf mich zukommen würde. Er wirkte beinahe so, als hätte er nicht einmal Lust dazu, sich länger als fünf Minuten mit mir zu unterhalten. Darauf konnte ich getrost verzichten! Dann würden wir uns eben aus dem Weg gehen. Dann würden wir halt nicht mehr mit einander reden, na und? Er konnte mich mal kreuzweise! Ich hatte die Nase gestrichen voll. Es war ja doch sinnlos mit ihm zu reden, das Gespräch zu suchen. Vielleicht waren wir wirklich zu stur für diese Beziehung. Vielleicht hatte er Recht damit. Vorerst konnte ich mich mit dieser Erkenntnis zufrieden geben, doch ich wusste, dass ich ihn schon bald vermissen würde. Spätestens dann, wenn meine Wut verflogen wäre.
Müde schlüpfte ich in meine Schlafsachen und kuschelte mich ins Bett. Morgen wäre unser erster Schultag und auch wenn ich auf diesen ganzen Schwachsinn keine Lust hatte, freute ich mich doch ein wenig. Dann hätte ich immerhin etwas zu tun und einen Grund, warum ich früh aufstehen müsste. Vielleicht könnte ich mich sogar etwas von Leandro ablenken und wer weiß, vielleicht würde ich dort sogar Freunde finden. Eigentlich hatte ich echt keine Lust auf diesen ganzen Smalltalk und diese oberflächlichen Äußerungen, aber meine Freunde fehlten mir doch. Oder zumindest die Gespräche mit Gleichartigen. Vielleicht würde ich hier sogar eine Gruppe von Leuten finden, bei denen ich mich nicht verstellen müsste. Bei denen sich das Leben nicht nur um Klamotten und das Image drehte.
Gedankenversunken starrte ich die Decke an und hätte wohl noch Stunden einfach so daliegen können, wenn mich das Knarren der Schranktüren nicht aufmerksam gemacht hätte. Mit einem Mal saß ich kerzengerade in meinem Bett und schaute den weißen Schranktüren zu, wie sie sich hin und her bewegten. Sofort war mit klar, dass dies wieder eine dieser Aktionen sein musste, um mich in Angst und Schrecken zu versetzten. Doch sie machte mir keine Angst mehr. Sie war doch nur ein Geist, der Leute gerne erschreckte. Was könnte sie mir schon anhaben? Klar die Schnitte an meinen Handgelenken waren immer noch nicht verschwunden, aber das hieß noch lange nicht, dass sie stärker als ich war. Beim letzten Mal hatte sich mich einfach nur überrascht. Jedenfalls war ich mir sicher, dass ich sie dieses Mal nicht gewinnen lassen würde. Auf weitere Wunden konnte ich nämlich getrost verzichten.
Entschlossen sprang ich vom Bett auf, lief auf den Schrank zu und öffnete seine Türen. Fies blickten mir zwei froschgrüne Augen entgegen, die zwischen den langen, schwarzen Haaren hervorblitzen. Dunkle Augenringe lagen in ihrem Gesicht und so langsam bildeten sich tiefe Falten auf ihrer Stirn. Ihre Lippen waren spröde, genauso wie das zerzauste Haar. Siegessicher zeigte sie ihre spitzen Zähnen und hörte nicht auf mich anzustarren, während sie ihren Kopf ganz langsam, von der linken Seite, zu der Rechten drehte.
„Warum versteckst du dich im Schrank?”, fragte ich geradewegs heraus und stellte mich aufrecht hin. Sie sollte bloß nicht denken, ich würde mich vor ihr fürchten.
„Warte was! Du kannst mich sehen?”, fragte sie verblüfft. Ihr Grinsen verschwand und nun wirkte sie ernsthaft nachdenklich. Ich zuckte nur leicht mit den Schultern und reichte ihr meine Hand. Krampfhaft versuchte ich lässig und unbeeindruckt zu wirken, aber ich war mir sicher, dass mir das nicht gelang. Ein Augenblick verging, in dem sie ihr schiefes Lächeln wieder gefunden hatte und auf die nächste Schnapsidee kam. Unangenehmes Kribbeln durchfuhr meinen Körper, als sich unsere Hände berührten und ich sie mit einem Ruck nach oben zog. Kurz nachdem ich ihr in den Stand geholfen hatte, zog sie plötzlich ein scharfes Messer aus ihren schwarzen Lederstiefeln und wollte mir damit die Kehle aufschlitzen. Doch dieses Mal waren meine Reflexe schneller gewesen, sodass ich sie rechtzeitig abhalten konnte und ihr mit einer gekonnten Handbewegung das Messer aus der Hand schlug. Schnell trat ich es weg von uns.
„Was soll das?”, fragte ich empört und schubste sie kräftig nach hinten, damit sie nicht auf die nächste blöde Idee kam. Doch bevor auch nur ein Wimpernschlag verging, presste sie mich plötzlich gegen die Zimmerwand und biss ihre scharfen Reißzähne in meinen Hals. Ein Ziehen durchfuhr meinen Körper, als sie anfing mein Blut zu saugen. Meins! Einige Sekunden lang war ich wie hypnotisiert und ließ sie einfach machen. Ich fühlte mich, als wäre ich plötzlich in einem Rausch. Der Schmerz war auf eine eigenartige Weise angenehm und ich hatte plötzlich nicht mehr das Bedürfnis, sie von mir zu stoßen. Stattdessen legte ich meinen Kopf in den Nacken und fing an das Ziehen an meinem Hals zu genießen. Ich schloss die Augen und vergaß für einen Moment die Welt um mich herum. Es mag komplett verrückt klingen, aber das was sie mit meinem Hals machte, fühlte sich beinahe so an, wie die Küsse von Leandro an dieser empfindlichen Stelle. Nur intensiver und gefährlicher. Für den Bruchteil einer Sekunde stellte ich mir sogar ihn dabei vor, wie er seine schönen, scharfen Zähne in meine Haut beißen und mein Blut trinken würde. Dann aber begriff ich endlich, wie absurd und abartig das Ganze war, packte sie am Arm und schleuderte sie gegen die Wand.
Erstaunt seufzte sie, dachte aber nicht daran aufzugeben und so kam sie in ihrem super Speed auf mich zu gerannt. Unvorsichtig stieß sie mich zu Boden und begann ihre scharfen Nägel in meinen Hals zu krallen.
„Lass das!“, schrie ich empört und griff an ihre Kehle, um sie von mir runter zu stoßen. Endlich konnte ich mich aus ihrer Gewalt befreien, stieß sie mit vereinten Kräften weg von mir und ließ sie mit einem Kampfgeschrei gegen die Wand prallen. Wie eine tote Fliege rutschte sie dem Boden entgegen und hielt sich stöhnend den Kopf.
„Aua.“
„So, ich denke die Machtverhältnisse hätten wir dann geklärt. Würdest du mir jetzt bitte erklären was das Ganze soll? Das mit meinen Armen warst du doch auch oder? Ich hoffe für dich, dass ich davon keine Narben behalte!” Meine Worte waren ungewohnt kalt und ich fing an das zu mögen. Schwach und eingeschüchtert saß sie auf dem Boden und sah mir verunsichert in die Augen.
„Kennst du etwa die Vorgeschichte dieses Hauses nicht?” Böse starrte ich sie an und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.
„Das war nicht die Antwort auf meine Frage.”
„Vor vielen Jahren lebte hier eine kleine, bescheidene Familie...“
„Komm zum Punkt!“, zischte ich, als sie anfing entspannter zu werden.
„Von wie vielen Jahren reden wir hier?“
„Wir reden vom Jahre 1823. Ihr aller Leben nahm ein schnelles Ende. Der Mann des Hauses brachte sie alle mit einem Messerstich, in den Hals, um.“ Ihre Stimme war dumpfer und schwerer geworden, aber kein bisschen bedrückt. Dem Glitzern in ihren Augen und dem unterdrückten Lächeln nach zu urteilen, versuchte sie mir immer noch Angst zu machen. Ich zeigte mich jedoch unbeeindruckt und lehnte mich von der einen Seite, auf die andere.
„Das Haus blieb nicht lange unbewohnt. Viele Familien die nach Ruhe suchten, ließen sich hier nieder, bis man sie umbrachte. So ging es von Familie zu Familie, von Jahrhundert zu Jahrhundert. Keiner kam hier lebend raus. Bei manchen fehlte der Kopf, versteckt im Haus, ertränkt, verbrannt, erstochen, erschossen, erwürgt oder einfach nur leer. Jedoch ergaben alle Ermittlungen das Gleiche, jede Leiche war vollkommen leer“, sagte sie langsam und wurde leiser.
„Leer? Wie meinst du das?“
„Blutleer, kein Tropfen Blut hatte der Mörder übrig gelassen. Die Geschichten und Legenden über dieses Haus traten schnell in die Schlagzeilen. Viele Experten arbeiteten mit der Polizei zusammen, nahmen das ganze Haus auf den Kopf, doch sie fanden nie eine Spur von dem Täter. Manchmal blieben sie sogar Wochen in dem Haus und warteten darauf, dass etwas spannendes passieren würde. Manchmal war das sogar so, nur kamen sie dann nie lebendig aus diesem Haus raus. Die letzten 31 Jahre hatte dieses Haus leer gestanden. Der Vermieter war im Herbst 1985 aus dem Haus gestürmt und hatte es seitdem nie wieder betreten. Seitdem hat dieses Haus keiner mehr betreten, bis ihr am Ende 2016 eingezogen seid. Habt ihr euch nicht gefragt warum es so schnell ging? Warum der Besitzer kaum Geld dafür verlangt hat? Er wollte es doch nur loswerden“, lachte sie spöttisch, als hätten wir mit diesem Haus eine dumme Entscheidung getroffen. Doch das hatten wir nicht, da war ich mir sicher.
„Zu diesem Zeitpunkt hatte ich andere Sorgen.“
„Du hattest andere Sorgen? Ich fang gleich an zu weinen“, lachte sie wieder und stand endlich vom Boden auf. Über ihr plötzliches Selbstbewusstsein und die verschwundene Angst wunderte ich mich sehr. An meiner einschüchternden Art musste ich wohl noch ziemlich feilen.
„Mein Privatleben geht dich nichts an.“
„Oh, habe ich etwa einen wunden Punkt getroffen?“, fragte sie und grinste mir schadenfroh entgegen. Eins stand fest, mit der würde ich keine Freundschaft schließen! Wie hatte ich auch denken können, dass ich jemals wieder jemanden wie Lynn finden könnte.
„Du bist der Mörder! Ein Vampir, der starb und zum Geist wurde, deshalb die leeren Menschen. Und du wirst in dieser Welt festgehalten, weil die Presse und Leute nur die Legenden über diese Familie kennen, jedoch nicht die Wahrheit.” Dieses Mal hatte ich allen Grund für ein schadenfrohes Lächeln. Ihre Miene wurde von einem Moment auf den anderen ernst und sie verfiel für einen Augenblick in tiefe Gedanken. Doch sie fing sich schnell und versuchte den kurzen Moment ihrer Fassungslosigkeit zu überspielen.
„Gut Kombiniert! Mein Vater hätte uns nie angefasst. Nur waren seine Fingerabdrücke auf den Silberpflöcken, mit denen wir ermordet wurden und damit war der Fall abgeschlossen. Angeblich hatten wir Familienprobleme und eines Abends soll mein Vater ausgerastet sein, so sehr, dass er uns umgebracht haben soll. Zuletzt soll er sich selbst erstochen haben, da er angeblich Angst vor den Konsequenzen gehabt hatte. Unsinn!“
„Weißt du denn, wer euch stattdessen umgebracht hat?“ Nachdenklich schüttelte sie den Kopf und begann nervös durch die Gegend zu laufen.
„Wir haben geschlafen, alles was ich noch weiß und was ich jeden Tag spüren muss, ist der Schmerz, als das Messer in meinen Hals gestochen wurde.“
„Also wusste der Mörder was ihr wart?“
„Natürlich, die die unsere wahre Gestalt kannten fürchteten uns und schmiedeten ständig Pläne, uns töten zu können. Deshalb waren auch ständige Umzüge nötig.“
„Verstehe und warum hast du all die Leute umgebracht?“
„Was hätte ich denn sonst tun sollen? Wenn mir niemand zuhören will? Außer dir konnte mich keiner von ihnen hören.” Was diese Geister nur immer mit ihren Einschüchterungsmethoden hatten. Auch, wenn sie gerade mal der zweite Geist war, auf den ich in meinem Leben getroffen war, so war ich mir sicher, dass mich die ganze Sache noch Ewigkeiten nerven würde.
„Aber warum hast du sie umgebracht?” Wütend kniff sie ihr linkes Auge zu, lief ein paar Schritte auf mich zu und versuchte sich vor mir aufzubauen. Doch einschüchtern konnte sie mich nicht mehr. Sie war nur ein paar Zentimeter größer als ich und besonders stark konnte sie auch nicht sein, wenn ich sie mit einem einfachen Handgriff durch die Gegend hatte schleudern können. Also keinen Grund zur Panik!
„Ich wollte mich an den Menschen rächen, die mir nicht helfen wollten.”
„Du weißt doch gar nicht was sie wollten. Vielleicht hätten sie dir geholfen?”
„Oh nein! Es war immer das Selbe mit ihnen. Sie entdeckten die Bilder im Schuppen, widmeten sich einen kurzen Moment unserem Antlitz und vergaßen uns dann.“
„Vielleicht hatten sie auch andere Sorgen? Waren mit dem Umzug beschäftigt? Mit den Problemen des Alltags? Und, wenn sie dich nicht hören konnten, wie hätten sie dann ahnen sollen, dass du ihre Hilfe brauchst?“, sagte ich immer noch verständnislos und fragte mich, ob sie ihren eigenen Worten glaubte.
„Willst du sie etwa in Schutz nehmen? Es ist ja nicht nur ihr Verhalten gewesen, das mir die Kontrolle entzog. Auf mir liegt ein Fluch, der mir untersagt das Haus zu verlassen. Demzufolge bin ich am verdursten gewesen.“
„Das gibt dir trotzdem nicht das Recht sie umzubringen, sie hatten ein Leben und auch, wenn sie vielleicht egoistisch waren, hättest du sie nicht töten dürfen.“
„Das lässt sich so leicht sagen, wenn man jederzeit Blut zur Verfügung hat.“
„Warum brauchst du überhaupt Blut? Geister brauchen kein Blut.“
„Ich brauche es auch nicht, schließlich bin ich tot, also so richtig tot, aber Blut ist in dieser trostlosen Welt das Schönste. Ich bin einsam und mit jedem Tag wächst die Wahrscheinlichkeit, dass ich an meinem Vorhaben scheitern werde und der Tod mich zu sich in die Hölle holen wird. Da ist Blut das Einzige, was mich vergessen und durchatmen lässt.“ Sie klang eigenartig ehrlich und ich zögerte einen Moment. Ich würde nie verstehen wieso Leute töteten. Also jedenfalls nicht, wenn sie gelangweilt waren und vor allem nicht, wenn sie Spaß daran hatten. Ihre Art zu töten war jedes Mal anders gewesen und das ließ mich glauben, dass sie es genossen hatte.
„Du hättest dich zusammenreißen müssen. Einsamkeit ist nicht schön, das weiß ich. Aber wenn du Menschen umbringst, nimmt dir das nicht deine Einsamkeit.“
„Ich hab es nötig meine Zeit mit dir zu verschwenden und du wirst mich ganz sicher nicht zur Besinnung bringen können!“, schrie sie energisch und machte einen großen Schritt auf mich zu. Innerlich zuckte ich zusammen, doch nach außen versuchte ich mich weiterhin unbeeindruckt zu geben. Sie war unberechenbar und ich war die ganze Zeit darauf gefasst, dass sie mich wieder angreifen würde.
„Wenn du so weiter machst, dann bezweifle ich, dass du überhaupt eine andere Wahl als die Hölle hast. Aber es ist nie zu spät, um sich zu ändern.“
„Ich brauche mich nicht zu ändern!“
„Okay wie du magst. Trotzdem brauchen wir eine Einigung.“
„Wieso?“
„Wir werden nicht ausziehen“, sagte ich entschlossen und machte nun auch einen Schritt auf sie zu, sodass wir uns unangenehm nah standen.
„Ohhh, das werdet ihr schon sehr bald bereuen!“
„Wie wäre es mit einem Deal. Du lässt meine Familie in Frieden und dafür versorge ich dich mit genügend Blut?“ Ich war mir sicher, dass sie diesen Deal nicht abschlagen könnte und reichte ihr daher meine Hand. Doch sie zögerte eine Weile und kniff die Augen nur misstrauisch zusammen.
„Wo willst du bitteschön Blut herbekommen?“
„Ich habe meine Kontakte.“
„Ich vertraue dir nicht und abgesehen davon reicht mir das nicht. Ich meine ich müsste vier Leute in Frieden lassen, das eine ganz schön hohe Zahl“, sagte sie grinsend und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Na gut, ich bringe dir jeden Tag Blut und ich werde dir helfen hier wegzukommen. Aber dafür musst du schwören, dass du niemanden in diesem Haus etwas antust!“, sagte ich fordernd und zog meine linke Augenbraue nach oben. Ihre nachdenklichen Falten legten sich allmählich und sie schlug vorsichtig ein.
„Niemanden, ist das klar?“ Mit einem Lachen verschwand sie einfach aus dem Raum und ließ mich wieder alleine. Na gut, das war ein Anfang. Sie war abhängig von mir, es wäre also dumm von ihr, sich nicht an meine Forderungen zu halten. Ich könnte sie schließlich auch umbringen und dann würde sie ohne Umwege in der Hölle landen.
Warum halste ich mir ständig irgendwelche Sachen auf? Sie war so verdorben und voller Hass, dass ich mir kaum vorstellen könnte, sie eines Tages zu mögen. Aber das musste ich vielleicht auch gar nicht.