Schriller Lärm weckte mich unsanft aus dem Tiefschlaf. Mürrisch drehte ich mich zur Wand um, legte das Kissen über meine Ohren und versuchte den Lärm des Weckers zu ignorieren. Das Klingeln wollte mich jedoch nicht in Frieden lassen und wurde von Sekunde zu Sekunde lauter. Schlaftrunken versuchte ich mein Handy in der Morgendämmerung zu finden und fiel dabei fast aus dem Bett. Endlich hatte ich es gefunden und schaltete den Alarm seufzend aus. Verschlafen starrte ich auf den grellen Bildschirm. 09.01.2017, 6:50 Uhr. Seufzend legte ich mich wieder ins Bett und kuschelte mich unter die warme Bettdecke. Ich hatte mein Fenster aus versehen weit offen gelassen und nun war es so kalt, wie in der Antarktis. Nie im Leben würde ich mein Bett jetzt verlassen. Mit dem Risiko wieder einzuschlafen, wollte ich mich umdrehen und die Augen schließen, als mir plötzlich zwei grüne Augen, erwartungsvoll entgegenblickten und mir eine Gänsehaut über den Rücken jagten.
Verkehrt herum hing das Geistermädchen an der Decke und grinste mich fast freundlich an. Sie hatte bis eben jedenfalls nicht geschlafen und wirkte im Gegensatz zu mir putzmunter. Als wären ihre Füße an der Decke festgeklebt, hing sie dort mit einer Leichtigkeit und musterte mich aufmerksam. Schließlich ließ sie sich auf mein Bett fallen und flüsterte mir ein gruseliges „Guten Morgen”, ins Ohr. Verdutzt über diese beinahe harmlose Begrüßung, rappelte ich mich langsam auf und blickte ihr verschlafen entgegen. Müde rieb ich in meinen Augen herum und gähnte in meinen Pullover.
„Vergiss mein Blut nicht!” Mit diesen Worten verschwand sie so leise, wie sie gekommen sein musste und ließ mich wieder allein. Jetzt war ich eh wach, dann konnte ich auch aufstehen und pünktlich zur Schule gehen.
Immer noch etwas verträumt, lief ich ins Badezimmer und versuchte etwas munterer zu werden. Ich wollte am ersten Tag nicht besonders auffallen. Also zog ich nur eine einfach Jeans und einen langärmligen Pullover an, der nach oben etwas höher geschnitten war. Ich musste in den nächsten Tagen besonders darauf achten, dass niemand die Schnitte und den Biss sehen würde. Zum Glück hatte sie ziemlich weit unten an meinem Hals getrunken, sodass ich den Biss ganz gut verstecken konnte. In der Schule würde das für eine Menge Aufregung sorgen und zuhause sowieso. Darauf konnte ich gut verzichten und so müsste ich mir die nächsten Wochen etwas einfallen lassen. Zum Glück hatten wir Winter und es war nicht ungewöhnlich mit langen Klamotten durch die Gegend zu laufen.
Meine langen Haare wollten sich heute ganz besonders ins Zeug legen und so blieb mir nichts anderes übrig, als sie mit einem langweiligen Zopf zu bändigen. Der Fakt, dass ich mich nie wieder im Spiegel sehen würde, nervte mich immer noch und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich mich daran jemals gewöhnen könnte. Was, wenn ich einen riesigen Pickel im Gesicht hatte oder irgendwas zwischen den Zähnen?
Als ich fertig war, schlürfte ich langsam nach unten und setzte mich für ein paar Minuten an den Esstisch. Vertieft starrte ich auf mein Handy und hoffte endlich wach zu werden. Tomi aß ganz zufrieden sein Frühstück und hatte die Ereignisse des gestrigen Tages schon längst vergessen. Meine Mutter hingegen strafte mich immer noch mit wütenden Blicken und hatte sich nicht mal dazu aufraffen können, mein „Guten Morgen“, zu erwidern.
Nachdem ich meine Sachen von oben geholt hatte, Tomi endlich fertig war und Leandro aus seinem Loch gekrochen kam, setzten wir uns ins Auto und meine Mutter fuhr uns alle samt zur Schule. Tomi warf sie als erstes raus und nun herrschte wieder diese bedrückende Stille. Doch dieses Mal ignorierte ich sie gekonnt und nutzte die Ruhe, um noch etwas dösen zu können. Im Hintergrund lief das Radio, wo sie zur Abwechslung wirklich mal Musik spielten. Das brachte mich erst recht in eine eigene Welt und ließ mich verträumt vor mich hinstarren. Das Schweigen brach, als wir auf einen Parkplatz fuhren und endlich aussteigen konnten. Über ein Abholen hatte sie kein Wort verloren und einen guten Tag hatte sie uns auch nicht gewünscht, aber es gab schlimmeres als das.
So selbstbewusst wie nur irgendwie möglich lief ich weiter und ließ sie ohne ein Wort davon fahren. Mittlerweile bereute ich es etwas, wie ich gestern mit ihr umgesprungen war, trotzdem hatte auch sie sich falsch verhalten, also wäre es wohl nicht zu viel verlangt, wenn sie um ein klärendes Gespräch bitten würde. Ich verlangte ja nicht, dass sie sich zuerst entschuldigen würde... okay gut, vielleicht verlangte ich das ja doch. Vielleicht verlangte ich ja auch von den anderen zu viel. Vielleicht sollte ich erst mal bei mir selbst anfangen? Kurz dachte ich über mich selbst nach und fragte mich, ob ich vielleicht diejenige sein sollte, die auf meine Mum und Leandro zugehen sollte. Bei meiner Mum könnte ich das tatsächlich eher in Betracht ziehen, als bei Leandro. Wenn es um ihn ging, war ich wohl besonders stur und eigensinnig. Eigentlich beschäftigten mich diese Überlegungen noch eine ganze Weile, aber jetzt stand wichtigeres vor mir und sie traten erst mal in den Hintergrund.
Zusammen liefen wir auf den Schulhof. Ich hatte ihm gegenüber immer noch eine abwehrende Haltung eingenommen und war fest davon überzeugt, dass ich nur das Nötigste mit ihm besprechen würde. Doch plötzlich, aus dem Nichts, griff er hilfesuchend nach meiner Hand und drückte diese fest. Diese unerwartete Berührung brachte mich ungewollt zum Lächeln. War das etwa seine Art sich bei mir entschuldigen zu wollen? Dafür müsste er sich aber mehr einfallen lassen! Der Schulhof war nicht besonders groß, trotzdem gab es einige Ecken, in denen ich mich zurückziehen könnte.
„Und wo hin nun?”, fragte ich verloren in dem ganzen Trubel und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er zuckte jedoch nur gleichgültig mit den Schultern und fing an mit seinem Fuß im Sand ein paar Striche zu zeichnen, ohne mich dabei eines Blickes zu würdigen. Jetzt zweifelte ich wieder an seinen Versöhnungsabsichten und überlegte, ob das Greifen meiner Hand, nicht doch nur zum stärken seines Selbstbewusstsein gedacht war. Ich seufzte. Okay eigentlich wollte ich ihn nicht auf gestern ansprechen. Aber wir mussten irgendwann darüber reden. Wir konnten schließlich nicht noch Jahre zusammen wohnen und kaum ein Wort mit einander sprechen. Außerdem gingen wir in die gleiche Klasse. Ich musste diesen Streit jetzt geklärt haben, sonst könnte ich mich den ganzen Tag auf nichts anderes konzentrieren. Vor allem dann nicht, wenn er so widersprüchliche Signale von sich gab und ich ihn den ganzen Tag sehen würde. Also zog ich ihn kurzerhand in eine eher unbelebte Ecke und versuchte seine Blicke zu fangen.
„Was?“, fragte er unfreundlich und ließ meine Hand los. Gehetzt folgte er den laufenden Schülern mit seinen Augen und wünschte sich wohl, dass wir einfach mit der Menge mitgehen würden.
„Okay, da unser Gespräch gestern anders verlaufen ist, als ich es mir erhofft hatte, würde ich hiermit gerne einen zweiten Versuch starten.“
„Aha.“
„Dafür solltest du aber auch ein bisschen auf mich eingehen wollen. Das Ganze ist wohl zwecklos, wenn du nicht mit mir reden willst“, sprach ich geradewegs, als ich bemerkte, dass er schon wieder abweisend wurde.
„Mag sein, aber können wir das bitte ein anderes Mal klären?“
„Nein, können wir nicht, ich will damit nicht warten. Also, was ist los mit dir?“ Diese Frage hatte mich mehr Überwindung gekostet, als man denken möchte. Es hörte sich nur nach einer langweiligen, stink normalen Frage an, aber eigentlich hatte ich gehofft, dass er auf die Idee gekommen wäre, mich das zu fragen. So zu fragen, als würde es ihn wirklich interessieren.
„Mit mir? Gar nichts!“
„Ist klar, das sehe ich ja. Du willst dich nicht mit mir unterhalten, du willst mich nicht mehr umarmen und küssen willst du mich auch nicht mehr.“ Genervt verdrehte er nur die Augen und lief ein paar Schritte auf das Schulgebäude zu.
„Wie oft noch? Du hast auch nicht mit mir geredet oder mich umarmen wollen“, murmelte er leise und beschleunigte seine Schritte.
„Du weißt doch gar nicht was ich wollte. Außerdem will ich ja jetzt mit dir reden.“
„Also der Zeitpunkt ist nun wirklich nicht der Richtige. Und du weißt auch nicht was ich gewollt habe und was nicht. Und mal abgesehen davon, müssen wir ja wohl nicht den ganzen Tag aneinander kleben und uns die Zungen in den Hals stecken.“
„Du bist unmöglich! Du weißt genau was ich meine“, knurrte ich wütend über seine nicht weichende Sturheit und lief vor. Ich hatte zwar keine Ahnung in welche Richtung wir mussten, aber erst mal wollte ich weg von ihm. Nur blöd, dass wir genau in den gleichen Raum mussten. Er kannte mich gut genug. Er wusste genau, dass ich nicht die Art Mädchen war, die den ganzen Tag an seiner Seite klebte und nicht aufhören konnte rumzumachen. Das wusste er und er wusste auch, dass er mich mit dieser Aussage verletzten würde. Wollte er vielleicht gar nicht, dass wir es wieder hin bekommen würden? Hatte er sich vielleicht mit Laureen versöhnt und hoffte nun, mich so loswerden zu können? Bevor ich hier irgendwas im Sande verlaufen lassen würde, müsste ich ihn noch mal darauf ansprechen. Mittlerweile wollte ich nur noch hören, was verdammt noch mal sein Problem war. Ich wollte es endlich von ihm hören und ich nahm nun sogar in Kauf, dass mich seine Antworten wieder zerstören könnten. Vielleicht würde er es beenden, endgültig. Vielleicht musste das auch endlich mal jemand machen. Vielleicht wäre es besser so.
Es wäre scheiße, es wäre abgefuckte Scheiße! Aber ich könnte es nicht mehr ändern, ich konnte nicht mehr um ihn kämpfen. Jede Sekunde über ihn nachdenken und darüber was er machte und worüber er jetzt schon wieder nachdachte. Was er mir wohl schon wieder verschwieg. Ich hatte es satt, dass er die Hauptrolle in meinen Gedanken eingenommen hatte und sie viel zu oft dort spielte. Wenn wir es nicht endlich hinbekommen würden, dann müsste vielleicht sogar ich diese Sache beenden. Vielleicht blieb mir gar nichts anderes übrig. Zumindest war alles besser, als diese komische Stimmung, in der ich nicht mal wusste, ob ich ihn noch ansprechen durfte. In der ich das Gefühl hatte, ihn nicht mal zu kennen. Dann würde ich mich lieber trennen, versuchen ihn zu vergessen und alles löschen, was mich an ihn erinnert. Ich würde alles lieber machen, als dieses ständige Hin und Her. Ich würde ihn nachher damit so lange nerven, bis er mir endlich sagt, was in seinem Kopf vor sich geht!
Schrilles Klingeln breitete sich über den Hof aus und brachte alle Schüler dazu, durch die Eingangstüren zu strömen. Wir folgten den Massen und hofften irgendwo ein Sekretariat zu finden, wo wir uns informieren könnten. Ich seufzte erleichtert, als die Flure größer wurden und die Masse an Schülern sich so langsam in den verschiedenen Räumen und Treppenhäusern auflöste. Der stechende Geruch von penetranten Parfums löste sich langsam auf und auch die Schweißwolke von einigen Schülern verschwand. Ziemlich schnell fanden wir eine Beschilderung zum Sekretariat, wo wir uns meldeten und dann in den Raum 125 geschickt wurden.
Dort trafen wir mit dem Klingelzeichen ein und wurden sofort zur Zielscheibe aller Blicke. Krampfhaft versuchte ich diese zu ignorieren und mich darauf zu konzentrieren, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. Nachdem wir den Klassenraum gescannt hatten und feststellen mussten, dass es keine Reihe mehr gab, wo wir nebeneinander hätten sitzen können, trennten wir uns von einander und suchten alleine nach freien Plätzen. Ich wollte mich gerade neben ein nett erscheinendes Mädchen setzten, da stach mir ein bekanntes Gesicht in die Augen und brachte mich zum lächeln.
„Lucas“, flüsterte ich so leise, dass es niemand hätte hören können und setzte mich erleichtert neben ihn.
„Und ich dachte schon du wärst dir zu fein, um dich neben mich zu setzten.“
„Bin ich auch, aber ich wollte dich nicht schon am ersten Tag enttäuschen“, lachte ich, bis ich Leandro´s bitterbösen Blick zu spüren bekam und zu schweigen anfing. Lucas und ich versanken in unseren eigenen Gedanken, bis sich die Gespräche um uns herum gelegt hatten. Leandro setzte sich neben einen Jungen, zwei Reihen neben uns, verwickelte ihn jedoch in kein einziges Gespräch. Etwas anderes hatte ich von ihm auch nicht erwartet, aber vielleicht war es ganz gut, dass er von Anfang an so verschwiegen wirkte. Mir waren die anbetenden Blicke der ganzen Mädchen nicht entgangen. Gelegentlich würdigten sie mich auch eines kurzen Blickes und fingen dann an, leise mit ihren Freundinnen zu tuscheln. Wahrscheinlich philosophierten sie darüber, in welcher Verbindung wir zu einander standen. Leandro jedoch wendete seinen Blick nicht von Lucas und mir ab und ohne seine Gedanken lesen zu können, konnte ich mir gut vorstellen, was da oben bei ihm so vor sich ging. Warum zur Hölle war er nur so abweisend zu mir, wenn es ihn anscheinend doch interessierte was ich machte und vor allem, mit wem ich etwas machte.
Die Gespräche stellten sich ein, als die Klassentür aufgeschlagen wurde und eine Frau mittleren Alters in die Klasse gestürzt kam. Unorganisiert hatte sie zu viele Hefter übereinander gestapelt, sodass sie es nur knapp zu ihrem Schreibtisch schaffte und knapp die erste Katastrophe an diesem Morgen vermied. Die Miene die sie zog war ernst und kalt. Ohne sie ein einziges Mal reden zu hören, wusste ich schon jetzt, dass sie die Art von Lehrerin war, die niemand leiden konnte. Das würde ja ein toller Start werden.
„Morgen. Die neuen Schülern haben sich offensichtlich dort hinten versteckt”, rief sie energisch durch die Klasse. Schwer atmete ich aus. Ich wusste genau was als nächstes kommen sollte. Sie würde uns nach vorne bitten, damit wir uns vorstellen könnten und alle anderen die Genehmigung hätten, uns anzustarren, als wären wir eine Sonderausstellung.
„Aber glauben Sie bloß nicht, dass Sie sich so der mündlichen Mitarbeit entziehen können. Ich behalte Sie im Auge“, drohte sie und hob dabei ermahnend den Zeigefinger. Angestrengt versuchte ich ein Augenrollen zu unterdrücken und unpassende Kommentare stecken zu lassen.
Ohne weitere Anweisungen drehte sie sich von der Klasse weg und versuchte ihren unübersichtlichen Kram zu sortieren. Diese Gelegenheit nutzten natürlich alle aus und so begann sich ein leises Gemurmel in der Klasse auszubreiten.
„Glaub mir, die anderen Lehrer sind echt nicht so schlimm. Wenn wir Physik überstanden haben kann der Tag nur besser werden.“
„Ich hoffe du hast Recht.” Lucas lächelte und sah sich dabei im Raum um. Als hätte er sich an etwas erinnert, wurde seine Miene plötzlich ernst und er fing an den Blickkontakt mit mir zu meiden. Stattdessen sah er gebannt nach vorne und versuchte sich von nichts ablenken zu lassen. Ob er Leandro´s eifersüchtige Blicke mitbekommen hatte? Geistesabwesend musterte ich Lucas und stellte fest, dass er im Gegensatz zu Leandro, einen ziemlich modernen Haarschnitt hatte. Er stand ihm gut, andererseits mochte ich auch Leandro´s längere, volle Haare.
Nachdem ich mit der Musterung von Lucas fertig war, wandte ich meine Blicke wieder Leandro zu und sah in versteinerte Augen. Schnell schaute er weg, als er bemerkte, dass ich ihn anstarrte und blickte nun den Tisch vor seiner Nase entgegen. Woran er gerade wohl dachte? Ich hatte so viele Fragen im Kopf und ich wusste langsam nicht mehr, wo ich die alle lassen sollte. Er hatte sich auch meine Gedanken angehört, also wäre es nur fair, wenn ich auch seine Gedanken lesen würde. Ich sträubte mich zwar eigentlich gegen diesen Vertrauensbruch, aber meine Neugierde siegte letztendlich doch. Unauffällig konzentrierte ich mich auf ihn und lauschte. Ich hatte es kaum für möglich gehalten, dass auch er tausende Gedankengänge haben könnte, doch so war es. Seine Gedanken schweiften von einem Thema, zum anderen. Wobei er jedoch jedes Mal wieder auf mich und Lucas kam. Er ahnte, dass ich all die Nächte bei ihm gewesen war und er war eifersüchtig auf ihn. Eigentlich hatte ich gedacht, dass er und ich nicht besonders vertraut gewirkt hatten, aber Leandro hatte tausend Szenarien im Kopf, wo ich Lucas küsste. Schon unsere Blicke hatten ihn gestört, dabei hatte ich Lucas wirklich nur, wie einen guten Freund, angesehen. Das dachte ich zumindest. Ich spürte seine Wut und ob ich wollte oder nicht, sie zauberte mir ein kleines Lächeln auf die Lippen. Diese Infos reichten mir. Zufrieden ließ ich Leandro´s Gedanken in Ruhe und versank in meiner eigenen Welt. Auch, wenn er ein verdammt stures Arschloch war, so wusste ich nun, dass er uns noch nicht vollkommen aufgegeben hatte und allein dieses Wissen war genug, um mich davon zu überzeugen, dass ich ihn heute Nachmittag weiter nerven müsste.
„Lucas, schön Sie auch mal wieder zu sehen. Ich hoffe Sie haben die letzten Tage fleißig mit lernen verbracht?”, riss mich plötzlich die Stimme der Lehrerin aus den Gedanken und löste das unruhige Gemurmel auf.
„Wie könnte ich mir etwas anderes erlauben?“, antwortete er selbstbewusst und lehnte sich lässig nach hinten. Schmunzelnd sah ich zwischen ihm und der Lehrerin, hin und her.
„Wie schön, dann rechnen Sie doch bitte zur Wiederholung etwas an der Tafel vor.“ Ihre Stimme war tiefer geworden. Sie wusste wohl ganz genau, dass Lucas keine Ahnung vom Stoff hatte und nutzte ihre Macht nun siegessicher aus. Wie ich solche Leute hasste! Erwartungsvoll starrten alle Schüler zu unserem Tisch und fingen an zu tuscheln.
„Welches Thema?“, fragte er gelangweilt und seufzte.
„Fallgeschwindigkeit, ich gebe Ihnen die Aufgabe, wenn Sie den Weg nach vorne gefunden haben.“ Schulterzuckend stand Lucas auf und hielt sich an die Anweisungen der Lehrerin.
Zu Beginn der Rechnung versuchte ich zuzuhören, doch schnell verlor ich den Überblick und damit auch das Interesse. Die Rechnung dauerte ewig, doch Lucas schlug sich gut und kehrte schließlich ohne weitere Nachfragen zu seinem Platz zurück. Misstrauisch betrachtete die Lehrerin seine Rechnung und versuchte krampfhaft einen Fehler zu finden, damit sie ihn lächerlich machen könnte. Doch sie blieb erfolglos. Erstaunt nickte ich ihm zu. Ob er die Aufgabe wirklich selbst gelöst hatte? Oder hatte er sich auf die Gedanken einiger Mitschüler verlassen? Das Unterrichtsgeschehen wurde zunehmend entspannter und ich war mir sicher, dass wir in ihrem Unterricht vorläufig nicht an die Tafel mussten. Angestrengt versuchte ich die ersten Minuten mitzuarbeiten. Der erste Eindruck zählte ungemein und, wenn man den verkackt hatte, konnte man die Schule verlassen.
Am Anfang konnte ich ihren Erzählungen folgen und schrieb mit, doch etwa nach einer halben Stunde driftete ich ab und verfiel in Träumerei. Ich dachte über vieles nach, doch erstaunlicher Weise nicht über Leandro. Umso verwunderlicher war es, dass ich plötzlich seine Stimme zu hören glaubte:
„Was will sie nur von diesem Idioten?” Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass ich schon wieder in seine Gedanken gerutscht war. Und dieses Mal war es wirklich unbeabsichtigt gewesen. Eigentlich wollte ich mich in seinen Monolog nicht einmischen, aber es war spannender, als das um uns herum und er sollte ruhig wissen, dass auch ich seine Gedanken hören könnte.
„Gar nichts will sie von ihm. Er ist nett und neue Freunde kann man immer gebrauchen. Außerdem wenn du nicht so furchtbar kontaktscheu wärst, hättest du den Jungen neben dir auch in ein Gespräch verwickeln können.” Eine Antwort gab er mir nicht. Nur einen genervten Blick warf er mir zu. Nicht nur er war davon genervt, dass man nun nicht mal mehr alleine denken konnte.
„Aus dir werd ich wohl nie schlau werden”, sagte er auf einmal, als ich dachte, dass das Gespräch schon längst wieder beendet war.
„Wie genau meinst du das jetzt?
„Erst kann ich deine Gedanken nicht lesen und plötzlich können wir uns sogar auf diese Weise unterhalten? Obwohl du ein Vampir bist? Das ist eigentlich unmöglich und es kommt nur sehr, sehr selten bei Vampirgeschwistern vor...“ Verdutzt von seiner plötzlichen Redelust und seiner Erinnerung daran, dass ich offensichtlich nicht „normal“ war, wenn man das als Vampir überhaupt sein konnte, unterbrach ich ihn schnell und musterte ihn arrogant.
„Was willst du damit andeuten?”
„Ähm,... nichts?”
„Ich weiß selbst, dass ich offensichtlich nicht zu den „normalen“ Vampiren auf dieser Erde gehöre, trotzdem musst du mir das nicht ständig unter die Nase reiben!”
„Vergiss nicht, dass du in meinen Gedanken bist”, sagte er spöttisch und sah mich plötzlich ganz eigenartig an.
„Ja und? Auch so reibst du es mir ständig unter die Nase, wenn du denn mit mir redest.“
„In meinem Kopf kann vor sich gehen, was ich will. Da hast du ja wohl kein Bestimmungsrecht und wenn es dir nicht passt, dann verschwinde doch einfach.“
„Scheiße, Junge! Lass mich doch in Ruhe!”, schrie ich und das leider nicht nur in meinen Gedanken.