„Jetzt warte doch mal“, rief ich Leandro gehetzt hinterher und versuchte ihn einzuholen. Als hätte der jedoch einen Termin verpasst, lief er in schnellen Schritten vom Schulgelände und drehte sich kein einziges Mal um.
„Leandro, bleib gefälligst stehen!“, brüllte ich nun energischer. Endlich wurde er langsamer und ich hatte die Gelegenheit ihn einholen zu können. Ich war völlig außer Atem, als ich endlich bei ihm war und legte meine Hand vergewissernd auf seine Schulter, damit er nicht jede Sekunde wieder losrennen konnte. Ihm war wohl klar, dass ich reden wollte und offensichtlich hatte er keine Lust dazu, aber das war mir egal! Ich brauchte endlich Gewissheit und jetzt würde er mit keiner einzigen Ausrede mehr davon kommen!
„Was ist denn?“, fragte er genervt.
„Da wir in einem Haus wohnen, dachte ich, wir würden zusammen fahren oder nicht?“
„Von mir aus.“
„Willst du vielleicht noch in die Stadt fahren?“
„Und dann?“
„Hm... wir können einen Kaffee trinken gehen oder uns einfach die Umgebung anschauen?“ Wie aus dem Nichts blieb er stehen und musterte mich mit hochgezogener Augenbraue. Falten legten sich auf seine Stirn und gaben mir das Gefühl, dass dieser Vorschlag lächerlich gewesen sein musste.
„Du willst Kaffee trinken gehen? Den kriegst du auch Zuhause und das sogar um sonst.“
„Wir können auch einfach nur rumlaufen oder uns in einen Park setzten?“
„Aha.“
„Du musst ja nicht, wenn du nicht willst. Ist ja nur ein Vorschlag“, brummte ich nun etwas grimmig, zwang mir trotzdem ein Lächeln auf. Ich wollte ja, dass wir uns aussprachen, also musste ich wenigstens versuchen zu vermeiden, dass wir wieder in einem Streit landen würden. Von Zeit zu Zeit hatte ich ihn immer mehr vermisst und mittlerweile sehnte ich mich plötzlich wieder nach der Zeit, wo wir tagelang nur im Bett gelegen und Filme gesehen hatten. Klar, in dieser Zeit war rein gar nichts perfekt gewesen, aber immerhin hatten wir uns so gut verstanden, dass wir miteinander auskamen. Dass ich in seinen Armen hatte liegen können und er mich ab und zu küsste. Ich sehnte mich am meisten nach seiner Geborgenheit, nach seiner Nähe. Ich wollte ihn umarmen, ich wollte ihn fest an mich drücken. Ich wollt ihn küssen, ich wollte endlich wieder seine weichen Lippen auf meinen spüren, ohne ständig darüber nachdenken zu müssen, wann wir uns wieder von einander entfernen würden. Ich wollte so viel und doch wollte ich eigentlich nur einen Menschen. Anscheinend aber war das zu viel verlangt.
Nachdenklich räusperte er sich und blickte mir endlich in die Augen. Dieser Blick war ungewohnt, nicht kalt, aber auch nicht freundlich, er wirkte beinahe besorgt. War es Sorge oder Angst? Hatte er vielleicht Angst davor, mir sagen zu müssen, dass er es beenden wollte?
„Willst du das nicht eher mit deinem Lucas machen?“
„Bitte was?“ Verdutzt starrte ich ihn an.
„Wenn ich mit Lucas in die Stadt hätte fahren wollen, denkst du nicht, dass ich ihn dann gefragt hätte?“ Er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und wandte seine Augen wieder von mir ab, während er an dem Saum seines Pullovers herumspielte.
„Also was sagst du?“
„Keine Ahnung, warum muss es denn unbedingt heute und in der Stadt sein?“
„Weil wir dringend reden müssen und ich meine wirklich dringend. Und nein, dieses Mal kann es nicht warten.“
„Hm.“
„Ich muss dir wohl einiges erklären und auch du solltest ehrlich zu mir sein. Und vor allem müssen wir uns endlich klar darüber werden, was das hier noch ist und was es sein sollte!“ Mit riesigen Augen starrte er mich an und hörte endlich auf seinen Pullover herumzufummeln. Ich spürte, wie ich zunehmend nervöser und unruhiger wurde. Was würde er jetzt darauf antworten, wollte er es beenden? Seufzend schloss ich die Augen für einen Moment und ließ diesen Gedanken wieder verschwinden, denn ich merkte, wie die ersten Tränen in meine Augen schossen. Ich konnte sie momentan echt nicht gebrauchen, aber sie zeigten mir, dass er mir kein bisschen egal geworden war. Die Frage war nur, ob ich ihm egal geworden war.
„Wie sollte es denn sein?“
„Anders, als jetzt. Willst du das denn überhaupt noch?“
„Ob ich noch eine Beziehung will?“ Zögernd nickte ich. Mein Bauch zog sich zusammen und ich hatte die Befürchtung mich übergeben zu müssen. Was sollte ich denn ohne ihn machen? Er durfte jetzt einfach nicht nein sagen! Er würde meine ganze Welt zum Zerbrechen bringen. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, während ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Mein Magen fühlte sich an, als hätte er einen Tritt abbekommen und begann immer mehr zu rebellieren. Meine Kehle schnürte sich zu und meine Hände wurden schweißnass vor Angst.
Unsicher sah ich in seine Augen und hatte Angst was sie mir sagen würden. Am liebsten wäre ich weggerannt vor ihm. Ich hatte solch eine Angst vor seinen Worten, dass ich mir mittlerweile nicht mal mehr vorstellen konnte, dass er mich noch wollte.
„Ich weiß es nicht, was ist denn mit dir?“ Er wusste es nicht? Wie kann man so etwas Bedeutsames nicht wissen? Egal was zwischen uns passiert war und was nicht, ich hatte nie daran gezweifelt, ob ich eine Beziehung mit ihm wollte. Ich hatte nur daran gezweifelt, ob es gut für mich gewesen wäre, weil er zu unsicher war, seine Entscheidungen zu unsicher waren. Doch wenn ich nur nach meinen Gefühlen ging, dann wollte und konnte ich mir nichts anderes vorstellen. Ich wollte nur ihn, niemand anderen. Daran hatte ich nie gezweifelt und ich konnte mir nicht mal vorstellen, dass das irgendwann anders sein würde.
„Wow“, war alles was ich rausbrachte, ehe ich den Heimweg einschlug. Stumm folgte er mir, bis wir uns vor der Haustür standen. Der Weg kam mir länger, als sonst vor und die Stille drohte mich umbringen zu wollen. Tausend Gedanken waren in meinem Kopf und ließen mich nicht in Ruhe. Ich hatte so viele Fragen und so viele Ängste, aber ich konnte sie nicht in Wörter fassen. In meinem Kopf machte es Sinn und ich dachte ich wüsste was mein Problem wäre, aber wenn ich versuchte es auszusprechen, kam nichts über meine Lippen. Und dieses Mal lag es nicht daran, dass ich nach den richtigen Wörtern suchte. Ich wusste plötzlich nichts mehr. Nichts über ihn, über mich und erst recht nichts über uns. Ich konnte nicht einschätzen, wie er dachte, was er wollte, was er wirklich wollte. Und ich wusste auch nicht was ich wollte. Klar, ich wollte ihn, aber doch nicht, wenn das so immer wieder weiter gehen würde. Wenn wir uns nach kurzer Zeit doch wieder von einander entfernen und dann streiten würden. Ich wollte was Konstantes in meinem Leben, etwas wo ich nicht jeden Tag Angst haben musste, dass es bald wieder vorbei sein würde. Ich hatte es einfach satt, so viel nachdenken zu müssen!
„Würdest du denn trotzdem mit mir reden wollen?“, fragte ich schließlich in die Stille hinein, als wir mindestens schon zehn Minuten vor der Haustür gestanden hatten und im Schweigen vertieft gewesen waren.
„Ich denke das muss ich wohl.“
„Du musst gar nichts, ich frage ob du willst, ansonsten müssen wir es beenden.“
„Wenn wir jetzt nicht reden, dann willst du es beenden?“
„Ich halte es anders nicht mehr aus. Ich habe nicht das Gefühl dich küssen zu dürfen. Du scheinst so weit weg zu sein, auch wenn du mir gegenüber stehst. Und wenn du nicht mit mir reden möchtest, ja dann muss ich es beenden, denn anders halte ich es einfach nicht mehr aus.“
„Okay, dann lass uns reden, aber nicht hier.“ Erleichtert atmete ich für einen Moment auf. Nachdenklich führte ich ihn zu der Bank, wo Lucas und ich uns kennengelernt hatten.
Schweigend setzten wir uns und genossen für einen Augenblick die atemberaubende, weite Aussicht. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm. Wir saßen entspannt nebeneinander, so sah es nach außen vielleicht aus, aber in mir ging es auf und ab. Ich konnte nicht mal für eine Sekunde meinen Gedanken entkommen. So sehr ich auch wollte. Jetzt gab es kein zurück mehr und das war vielleicht auch gut so.
„Also, da du nicht anfangen wirst, muss ich das wohl. Was willst du wissen?“, fing ich an. Eine Weile noch saßen wir im Schweigen einfach nur da und versuchten unsere Gedanken zu sortieren.
„Was ist das mit Lucas?“
„Freundschaft, mehr nicht und mehr wird es auch nie sein.“
„Bist du dir da sicher?“, fragte er vorwurfsvoll und musterte mich kurz.
„Natürlich und selbst wenn etwas mit Lucas gelaufen wäre, hätte ich den Anstand gehabt, vorher Schluss zu machen. Ich will alte, vergangene Sachen nicht wieder hochholen, aber schon alleine, weil ich weiß wie weh Betrug tut, hätte ich dir das nie angetan.“ Meine Worte waren hart, weil er es mit mir gemacht hatte und ich ihn daran erinnerte, aber es war die Wahrheit und ihm wollte ich nichts anderes mehr erzählen... bis auf diese eine Ausnahme. Darauf antwortete er nichts mehr, also versuchte ich es weiter, auch wenn ich mich innerlich sehr dagegen sträubte. Verdammte Sturheit und verdammter falscher Stolz!
„Und ich bitte dich... nicht meine Gedanken zu lesen, nicht weil ich etwas zu verheimlichen habe, sondern, weil ich dich um Vertrauen bitte. Ich hoffe jedenfalls, dass du das immer noch kannst.“
„Ich hatte nie vor deine Gedanken zu lesen. Zumindest nicht, seitdem wir aus England raus sind.“
„Gut. Ich werde es auch nicht mehr tun. Und was ist mit den Nächten? Wo warst du da?“
„Woher kennst du diesen Lucas?“, hakte er immer noch misstrauisch nach, ohne dabei auf meine Frage eingehen zu wollen.
„Die Nächte, die wir beide nicht zusammen verbracht haben, in denen war ich nicht von Anfang an bei ihm.“
„Also warst du tatsächlich bei ihm? Hast du in seinem Bett geschlafen?“ Den Kopf zu Boden gesenkt nickte ich nur und wartete darauf, dass er aufstehen und gehen würde. Ich wollte nicht so schnell ins Detail gehen, ich wollte ihn vorher verstehen lassen, warum ich so gehandelt hatte, aber er ließ mir keine andere Wahl. Er hatte mich gefragt und ich wollte nicht lügen.
„Wie konntest du nur?“, brüllte er und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Wütend atmete er schwer aus und versuchte die Fassung zu bewahren.
„Lass mich ausreden!“ Er verstummte wieder und sah mich auffordernd an. Er versuchte die Enttäuschung in seinen Augen unbemerkt zu lassen, doch dieses Funkeln konnte mir nicht entgehen.
„An dieser Bank habe ich ihn das erste Mal getroffen. Er hat versucht mich einzuschüchtern und wollte mir einreden, dass ich sein Mitternachtssnack wäre, aber das hab ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen.“
„Natürlich nicht, also ist er auch ein Vampir?“
„Ja und von meiner Verteidigung war er begeistert, also wollte er mich kennenlernen. Ich stellte mich jedoch zu Beginn stur und wollte verschwinden.
„Wünschst du dir, du hättest es getan?“ Bleib bei der Wahrheit! Bleib bei der verdammten Wahrheit!
„Nein“, flüsterte ich, da meine Stimme vor Angst verschwunden war. Er wollte die Wahrheit. Hier war sie und sie würde ihn nicht ansatzweise so verletzten, wenn er mir die Gelegenheit geben würde, mich vollkommen erklären zu können.
„Nein? Du weißt, dass wir uns wegen ihm streiten oder? Wegen ihm und alles was nach dieser Nacht folgte?“
„Auch, aber selbst wenn ich ihn nie kennengelernt hätte, dann würden wir uns trotzdem streiten. Du kannst mir doch wohl nicht erzählen, dass du nicht gemerkt hast, wie wir uns entfernt haben? Oder viel mehr, dass wir uns so fremd sind, wie beim ersten Tag?“ Auf meine Frage bekam ich keine Antwort, außer Stille und so redete ich weiter:
„Wenn du es jedenfalls nicht gemerkt hast, dann vermisst du mich auch nicht und dann ist an der ganzen Sache sowieso etwas falsch.“ Diese Worte gingen nur schwer über meine Lippen, denn sie sprachen endlich das aus, was ich am meisten fürchtete. Doch wieder bekam ich keine einzige Antwort.
„Und bitte hör auf mich auszuschweigen, gib mir endlich eine Antwort!“, fluchte ich zunehmend angespannter. Die Stimmung schien zu kippen, wenn sie das nicht schon längst war und so war ich trotz meiner direkten Worte, unheimlich unsicher. Ich wollte nicht, dass er ging, gleichzeitig aber kam es mir nicht in den Sinn, mich zu verstellen und ihm Honig ums Maul zu schmieren. Angestrengt versuchte ich nett zu bleiben und dabei trotzdem meine Meinung zu sagen, was mir beinahe unmöglich erschien. Ich hatte auch eine ungemeine Wut in mir. Ich war enttäuscht, ich hatte Angst und ich wusste immer noch nicht, wo dieses Gespräch hinführen würde. Ich war auch verunsichert und trotzdem bekam ich den Mund auf. Warum konnte er mir dann nicht antworten, obwohl ich es ihm so einfach machte?
„Ja ich habe es gemerkt, in den letzten Tagen. Doch wenn ich ehrlich sein soll, dann muss ich zugeben, dass ich es in all den vergangenen Nächten nicht bemerkt habe.“
„Ich auch nicht richtig. Oder zumindest habe ich es verdrängt. Und Lucas hat mich davon eben ein wenig abgelenkt.“
„Also war da doch mehr?“, fragte er empört. Seine Frage klang aber eher wie eine Feststellung, an der er nicht zweifeln wollte.
„Nein! Ich schwöre beim Grab meiner Schwester! Er hat mir zugehört und das... war alles.“ Er schwieg und so wie ich es mir gedacht hatte, wollte er mir nicht glauben.
„Weißt du denn, warum du es nicht gemerkt hast?“
„Ja.“
„Und warum?“
„Darüber rede ich erst später, wenn du mir mehr über Lucas erzählt hast und über das, was ihr die ganzen Nächste getrieben habt.“ Ich wollte mich wirklich versöhnen und deshalb ignorierte ich die Tatsache, dass er sich wie ein Allwissender aufführte, der sich als was Besseres zu fühlen schien. Es sprach gegen all meine Prinzipien und würde ich mich nicht so abhängig von ihm fühlen, würde ich mir das mit Sicherheit nicht bieten lassen! Eigentlich war er mal an der Reihe, etwas von sich zu erzählen, aber gut, ich gab wieder nach...
„Okay. An dem Abend wo wir uns trafen, hat er mich dazu überredet zu bleiben. Wir setzten uns schließlich auf diese Bank und unterhielten uns einige Stunden, bis er mich zu sich nach Hause einlud und... diese Einladung habe ich angenommen.“
„Du bist mit ihm mitgegangen? Mit einem Fremden? Er hätte wer weiß was mit dir anstellen können!“, antwortete er erschrocken und sah mich an, als wäre ich verrückt geworden.
„Das weiß ich und das wusste ich auch zu diesem Zeitpunkt, aber es hat mich trotzdem nicht davon abgehalten.“
„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Gott, du bist so verdammt naiv! Was hättest du gemacht, wenn er einer von der bösen Sorte gewesen wäre?“
„Ich weiß es nicht, aber mir wäre schon etwas eingefallen. Lassen wir dieses Thema jetzt bitte. Es war meine Entscheidung, die ich nicht bereue und die ich nun mal getroffen habe, ich schätze aus einem Gefühl heraus. Bitte predige nicht weiter, es macht keinen Unterschied mehr.“
„Doch! Damit kommt vielleicht etwas mehr Verstand in deinen Kopf! Scheiße du hättest tot sein können!“, fluchte er energisch und gestikulierte aufgebracht in der Luft herum. Er konnte Lucas ohnehin schon nicht leiden und auf diese Weise versuchte er wohl auch mir einzureden, dass ich mich lieber von ihm fernhalten sollte.
„Wie auch immer, ich bin zu Lucas gegangen und dort haben wir geredet.“
„Geredet? Worüber? Und sonst habt ihr nichts gemacht?“
„Doch ab und zu einen Film gesehen und Süßigkeiten gegessen, aber meistens haben wir einfach nur geredet und das, über eigentlich alles. Er hat mir viel über sich und seine Vergangenheit erzählt. Er kommt eigentlich auch aus Berlin, hat dort mit seiner Schwester im Quartier gelebt und als sie volljährig wurde, sind sie dort abgehauen, weil er es einfach nicht mehr aushielt. Wusstest du, dass es in Berlin auch ein Quartier gibt?“, fragte ich euphorisch, zügelte mich jedoch zugleich, da ich nicht allzu sehr in Schwärmerei verfallen wollte.
„Natürlich, das hat man mir gelehrt.“
„Hm, mich hat es ziemlich verwundert.“
„Deine gewohnte Naivität eben.“ Verdammter, arroganter und hochnäsiger Vollpfosten!
„Berlin, ein schöner Ort für ein Quartiert. Was könnte ihm dort schon so schlimmes zugestoßen sein?“, fragte er spöttisch und seufzte, während er sich ein Mal kräftig streckte.
„Hör auf mit diesem Spott! Du weißt genau, wie es dort läuft! Sie haben ihn gezwungen Kinderblut zu trinken, bis er eins umgebracht hat und noch vieles Weitere, aber danach kannst du ihn gerne selbst fragen.“
„Ich verzichte und was weiß er von dir? Von mir?“
„Von mir weiß er fast alles, er hat mir zugehört und er hat mir die Aufmerksamkeit und Geborgenheit gegeben, die du mir nicht bieten konntest. Also habe ich ihm Vieles anvertraut und er hat mir geholfen. Ich habe über meine Ängste gesprochen und meine Bedenken, über die Vorwürfe, die ich mir mache. Ja er hat mir geholfen und war für mich da, wenn du weg warst.“ Trostlos sah er mich an. Er schluckte. Starrte auf das vernebelte Feld und verzog keine Miene mehr.
„Verdammt Alex, warum hast du nicht mit mir geredet?“
„Du warst weg, so oft und ich hatte einfach das Gefühl, du würdest mich nicht verstehen. Du würdest mich für schwach halten,... wenn ich vor dir weine und das hätte ich nicht vermeiden können.“
„Du denkst ich hätte dich nicht verstanden? Alex, ich habe alles verloren was mir jemals etwas bedeutet hat, ich hätte dich sehr gut verstanden. Und um Gottes Willen, ich würde dich nie für schwach halten, du bist für mich unglaublich stark“, flüsterte er nun und schaute mir intensiv in die Augen. Plötzlich war er verständnisvoll, als würde er auf einmal verstehen, wieso alles so gelaufen war, wie es nun mal gelaufen ist. Unglaublich gern wäre ich ihm einfach in die Arme gefallen, aber ich traute mich nicht, ich hatte Angst vor Zurückweisung.
„Du bist immer so stark und wirkst so, als könnte dich nichts aus der Bahn werfen. Ich habe dich noch kein einziges Mal wirklich weinen sehen und ich hatte einfach Angst, du würdest mich für schwach halten. Ich habe nicht daran gezweifelt, dass du nicht um deine Schwester und Familie getrauert hast, aber... ich weiß nicht, es wirkt einfach so, als könnte dich Traurigkeit nicht erreichen.“ Er sah mir entschuldigend entgegen, aber er wagte es nicht Worte in den Mund zu nehmen, die einer Entschuldigung gleich kämen. Dafür war er wohl immer noch zu stolz.
„Ich werde dir sagen wo ich die Nächte über war und dann wirst du verstehen, dass ich ganz und gar nicht so unverletzlich bin, wie ich vielleicht tue. Aber ich habe noch eine Frage an dich, hast du bei ihm geschlafen?“
„Ja, das habe ich und er hat neben mir gelegen und da ich dich nicht anlügen möchte, muss ich auch zugeben, dass ich in seinem Arm eingeschlafen bin, auf seiner Brust,... aber ich schwöre, dass weiter nichts war...“
„Wirklich...“, versuchte ich ihm zu erklären, während die ersten, unvermeidbaren Tränen in meine Augen schossen. Ich hatte nie darüber nachgedacht, was ich an diesem Abend wirklich gemacht hatte. Klar, es war nie mehr passiert. Aber reichte das nicht schon aus, damit er mir nicht mehr vertrauen könnte? Hatte ich wirklich sone Scheiße gebaut? Scheiße, so wie er?
„Du hast was? Du hättest zu mir kommen müssen, du hättest in meinem Arm liegen sollen!“
„Ich weiß und ja vielleicht bereue ich das, aber ich habe nur dort gelegen, weil ich nach Zuneigung gesucht habe, die ich eigentlich von dir wollte.“
„Wusste er, dass du einen Freund hast?“
„Ja, das wusste er, trotzdem kannst du ihm keinen Vorwurf machen, denn er wollte mich eigentlich von seiner Brust runter haben.“
„Und warum hat er sich bitte nicht durchgesetzt?“
„Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, dass er etwas an mir finden könnte. Er hat schließlich seine Emma und er wollte mich nicht aufwecken. Und ich habe darauf bestanden. Außerdem...“
„Außerdem was?“, drängte er aufgeregt und richtete sich auf.
„War ich betrunken.“
„Er hat dich auch noch abgefüllt?“
„Nein nicht direkt,... er...“ Ich verstummte wieder, nein ich durfte ihm nichts von dem Blut erzählen, er würde Lucas dafür hassen, wenn er es denn nicht schon jetzt tat und mich auch.
„Er hatte keine Ahnung, dass ich nicht viel vertrage.“
„Und du hast dich auch noch abfüllen lassen...“
„Ja, ich wollte endlich die Welt um mich herum vergessen, Mia. Ja ich wollte sie vergessen, sie und all der Schmerz, der mit ihrem Tod in Verbindung steht. Ich hatte es satt traurig zu sein und Zuhause gab es nun mal nichts anderes.“
„Und was bereust du davon?“
„Was ich bereue? Das ich nicht zu dir gegangen bin. Das ich so stur war und erwartet habe, dass nur du mich fragen kannst, wie es mir geht und nicht andersherum. Ja und das ich nicht früher mit dir geredet habe,...aber diese Überwindung... auf dich zuzugehen... bis ich das geschafft habe, hat es eben lange gedauert.“
„Okay.“
„Du hast es mir aber auch nicht leicht gemacht.“
„Warum auch? So wie du dich verhalten hast?“
„Was? Was soll das heißen?“, zischte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Sah er es immer noch nicht ein, dass es nicht nur an mir gelegen haben konnte? Er hielt mich für naiv, was ich zugegebener Maßen auch war, aber er schien kein Stück besser zu sein. Auch zu einem Streit gehören immer zwei Menschen. Ich hatte gerade meine Schwester verloren. Es war doch offensichtlich, dass er für mich hätte da sein müssen oder etwa nicht? Erwartete ich wirklich so viel?
„Wie du mit deiner Mutter umgegangen bist, das mit Lucas und vor allem, dass du es für selbstverständlich gehalten hast, dass nur ich dich ansprechen könnte. Dass ich dich um Entschuldigung bitten müsste, dass nur ich etwas falsch gemacht hatte.“
„Und warum bist du nicht auf mich zugekommen? Ich meine anscheinend hast du auch darauf gewartet, dass ich den ersten Schritt mache oder nicht?“, sagte ich nun vorwurfsvoll. Ich wollte es nicht einsehen, dass ich als einzige Schuld an der ganzen Situation war. Das war ich!
„Ja, vielleicht habe ich auch die letzten Tage darauf gewartet, dass du auf mich zukommen würdest, aber doch nur, weil du so unmöglich warst!“, verteidigte er sich und versuchte immer noch die ganze Schuld auf mich zu schieben.
„Und die Nächte davor habe ich es nicht wirklich bemerkt. Ich musste Sachen für mich selbst klären, mit mir selbst ausmachen. Ich war zu beschäftigt mit mir selbst.“
„Das war ich auch und dafür machst du mir einen Vorwurf.“
„Nein.“
„Doch, du machst mir einen Vorwurf dafür, dass ich mir jemand anderen gesucht habe, der mir zuhört. Wo ich wusste, dass er mich ernst nehmen würde. In einer Zeit, wo ich jemanden brauchte und wo du offensichtlich nicht für mich da sein konntest, weil du mit dir selbst beschäftigt warst“, fasste ich die ganze Situation zusammen und war mir sicher, dass er nichts mehr finden könnte, was dieser These widersprechen würde.
„Vielleicht aber habe auch ich dich mal gebraucht? Hast du darüber schon mal nachgedacht? Vielleicht brauchte ich dich und deswegen war ich die Nächte über weg. Weil ich wusste, dass du mir das nicht geben könntest.“ Er machte mir tatsächlich gerade einen Vorwurf darüber, dass ich nicht über alles nachgedacht hatte. Hatte er überhaupt eine Ahnung, wie viel ich wirklich nachdachte? Ansatzweise eine Ahnung? Seine Andeutungen ließen nichts Gutes vermuten und ich hatte die Befürchtung, dass er tatsächlich bei Laureen gewesen war.
„Ich muss dich noch mal fragen, willst du das noch?“
„Willst du nicht vorher wissen, wo ich die Nächte über war?“ Ja das wollte ich wissen, aber wenn er mir sagen würde, dass er das zwischen uns nicht mehr will, dann wollte ich es vielleicht doch nicht mehr wissen. Noch mal von ihm betrogen worden zu sein, würde mir mehr das Herz brechen, als wenn er jetzt einfach gehen würde. Da war ich mir sicher.
„Kommt auf deine Antwort an. Wenn du eh denkst, dass das nie was wird, dann nicht, nein.“
„Verstehe, was denkst du denn wo ich war?“, fragte er mit heiser Stimme und sah mir neugierig in die Augen.
„Ich habe tatsächlich keine Ahnung.“
„Hast du dir keine Gedanken darüber gemacht? Sei ehrlich!“
„Das bin ich, ich weiß nicht wo du gewesen sein könntest... ich...“
„Du was?“, fragte er energisch. Er wusste genau an wen ich dachte und er wollte mich dazu zwingen, dass ich es aussprechen würde.
„Ich habe die Befürchtung, dass du Laureen wieder gesehen hast.“ Er schluckte und schaute mich stumm an. Seine Reaktion reichte mir, um zu wissen, dass ich wohl Recht hatte. Ich konnte es nicht fassen, er machte so ein Drama um Lucas, dabei war zwischen uns nie etwas passiert und er traf sich heimlich mit ihr?
„Und was denkst du, was passiert ist?“
„Ich weiß nicht. Was soll ich denn denken? Wir wissen beide, dass sie für dich ein rotes Tuch ist. Ich will mir da nichts ausmalen, denn umso schwerer würde es mir fallen deinen Worten zu glauben.“
„Wir haben nur geredet.“
„Also hast du dich mit ihr getroffen?“
„Nein, wir sind uns nur ein Mal über den Weg gelaufen.“ Ich schluckte. Mein Misstrauen war riesig und es viel mir schwer, das geheim halten zu können. Warum hätte er sich dieses Mal zusammenreißen sollen? Wenn er es doch nicht einmal getan hatte, als ich in der Nähe gewesen war? Schwer seufzte ich und starrte in seine Augen. Er mied den Blickkontakt nicht und das ließ mich hoffen, dass er wirklich versuchte ehrlich zu sein.
„Also war sie hier? Hat sie nach dir gesucht?“
„Nein, das hat sie nicht und sie war auch nicht in der Gegend... ich habe sie in England getroffen.“
„England? Wann zur Hölle warst du in England?“
„Jede Nacht.“
„Bitte was? Jede Nacht? Aber wie?“, fragte ich ungläubig. Hatte ich davon wirklich nichts mitbekommen? War auch ich so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, dass ich nicht mal ansatzweise mitbekommen hatte, dass er in England gewesen war? Vielleicht waren seine Vorwürfe mir gegenüber ja doch zu Recht gewesen.
„Ich bin gerannt, es war so was wie mein privates Training.“
„Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du nur aus Trainingsgründen dort hingegangen bist? Was hast du dort wirklich gemacht? Hast du nach ihr gesucht? Oder nach jemand anderen?“
„Unsinn, ich habe nicht nach ihr gesucht, warum sollte ich das tun?“
„Du vertraust mir nicht oder?“, fragte er, nachdem ich ihm nicht gleich geantwortet hatte.
„Natürlich vertraue ich dir nicht. Zumindest nicht was sie angeht. Auch, wenn ich nicht ganz nachvollziehen kann, wie das zwischen euch ist und wie das allgemein in dieser verrückten Welt ist, so ist mir klar, dass es dir schwer fällt, die Finger von ihr zu lassen. Und erst recht dann, wenn sie sich richtig in Szene setzt. Und wir wissen beide, dass sie das gut drauf hat.“
„Du vertraust mir echt nicht?“, fragte er überrascht.
„Natürlich nicht. Wundert dich das etwa? Du hast mich mit ihr betrogen. Du hast mit mir gespielt. Und du hast mich so oft schon angelogen, dass ich es nicht mehr zählen kann. Und verschweigen tust du mir sowieso gefühlt alles.“
„So denkst du wirklich über mich? Dass ich dich immer anlüge“, fragte er verletzt und ließ mich zweifeln, ob meine Worte nicht zu hart gewesen waren. Aber sie sagten doch nur die Wahrheit. Das, wie ich wirklich fühlte.
„Spuks endlich aus! Was hast du in England gemacht?“, drängte ich, als ich nicht länger mit ansehen konnte, wie geknickt er von meiner Antwort war. War er sich vielleicht nie im Klaren darüber gewesen, wie er mit mir umgesprungen war? Was er mit mir gemacht hatte?
„Ich... ich war... also.“ Er verstummte wieder und brachte meine Neugierde damit fast zum überkochen. Wen hatte er dort treffen wollen? Und verdammt noch mal, warum hatte er mir nichts davon erzählt?
„Was hast du dort gemacht?“, flüsterte ich mit versuchtem Verständnis und rückte etwas näher an ihn heran. Jetzt waren seine Augen nur von Besorgnis gefüllt und ich fragte mich, ob meine das auch hätten sein sollen. Die Worte, die er mir sagen wollte, schienen ihm Angst zu machen, aber was fürchtete er? Bisher hatte ich geglaubt, dass ihm nichts Angst machen konnte. Er war dieser starke Mann. Der nichts fürchtete, der nie weinte und der immer die Kontrolle hatte. So hatte ich ihn kennengelernt und auch, wenn ich mir gewünscht hatte, eine andere Seite an ihm zu sehen, fiel es mir schwer, mir das vorstellen zu können.
„Hast du Angst mir zu vertrauen?“, fragte ich in die Stille hinein, nachdem er immer noch erklären konnte, worüber er nachdachte.
„Nein, ich... du meintest ich wäre stark, dass mich nichts verletzbar machen könnte..., aber das ist falsch und ich frage mich, was du von mir denken wirst, wenn ich es dir erzähle.“
„Das kann ich dir erst beantworten, wenn ich davon weiß.“
„Ich war jede nach beim Friedhof. Habe stundenlang an den Gräbern gehockt und versucht mich zu entschuldigen, für meine Ungläubigkeit.“
„Du warst bei ihren Gräbern?“, fragte ich mit zittriger Stimme. Bereits die Tatsache, dass er von Gräbern... also in der Mehrzahl sprechen musste, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Er hatte tatsächlich niemanden mehr und was das bedeutete, wurde mir erst jetzt bewusst. In dem Moment, wo sein Vater gegangen war, hatte er alles verloren. Für sie war er jede Nacht nach England gegangen? Nur um ihre Gräber zu besuchen? Aber wie war es möglich, dass er so einen weiten Weg auf sich nahm und wirklich um sie trauerte. Dabei jedoch vor uns nie die Fassung verlor? Das konnte nicht möglich sein!
„Ja.“
„Zu Beginn war ich auch jeden Abend an Mia´s Grab“, sagte ich und hoffte ihm zeigen zu können, dass er mit seiner Trauer nicht alleine war. Wir waren sone Trottel! War hatten die gleichen Probleme, die gleichen Gründe, warum wir in Trauer ertrinken wollten und trotzdem hatten wir nie darüber geredet. Stattdessen schafften wir uns nur tausend weitere Probleme.
„Ich weiß, ich habe dich dort sitzen sehen und ich dachte du würdest, wie ich, nur dort hocken und... ja nachdenken.“
„Wenn du mich gesehen hast, warum bist du dann nicht zu mir gekommen? Hast mit mir geredet und mir erzählt, was in deinem Kopf vor sich geht?“
„Ich denke,... ich hatte Angst, du würdest deine Meinung über mich ändern.“
„Inwiefern?“
„Mich für schwach halten, ich denke, wir haben wohl beide das Selbe gedacht, nur nicht mit einander geredet. Ich hasse es über Gefühle zu reden. Ich hasse Gefühle. Sie machen einen schwach.“
„Mittlerweile denke ich sogar, dass man stark ist, wenn man darüber reden kann. Es ist doch der einfachere Weg, alles in sich reinzufressen, anstatt den Mund aufzumachen. Und wenn wir nicht mal mit einander darüber reden können, mit wem wollen wir dann darüber sprechen? “
„Du anscheinend mit Lucas.“
„Das stimmt, das kann ich, aber ich würde es viel lieber mit dir tun. Wahrscheinlich konnte ich mit ihm nur reden, weil er sich mir gleich geöffnet hat und... für ihn war es selbstverständlich, dass das nichts mit Schwäche zu tun hat... denke ich jedenfalls.“
„Und ich habe das nicht? Habe ich dir wirklich immer das Gefühl gegeben, du müsstest vor mir stark sein? Du hast vor mir schon geweint, warum hast du damit aufgehört?“
„Keine Ahnung. Du hast immer erwartet, dass ich meine eigenen Lösungen für Probleme finde. Und Weinen hat nun mal viel mit Problemen zu tun. Verstehst du? Wir haben aufgehört miteinander zu reden und ich fing an dich zu bewundern. All die Tage nach Mia´s Tod ging es mir so beschissen, ich hatte Schwierigkeiten überhaupt aufhören zu können, ständig weinen zu müssen und du? Du hast keine Träne in unserer Gegenwart vergossen und wirktest so unbetroffen und professionell, wie immer.“
„So tue ich, aber ich kann es nur aufgrund von Dummheit, die in meiner Vergangenheit liegt.“
„Wie meinst du das?“, fragte ich misstrauisch.
„Ich war jung und dumm, naiv...und ich habe schlechte Entscheidungen getroffen, die nun dafür verantwortlich sind, dass ich so abweisend sein kann und, dass es mir schwer fällt sich in andere hineinversetzen zu können, so wie du es tust. Und auch, wenn du es nicht immer zeigst, weiß ich, dass du es tust.“ Da hatte er wohl Recht. Ja ich konnte mich gut in andere hineinversetzten, aber nur wenn ich das wollte.
„Und was waren das für schlechte Entscheidungen?“, hakte ich nach, doch zu diesem Thema wollte er mir nichts sagen.
„Darüber spreche ich nicht.“
„Dann haben wir aber schon wieder was, das zwischen uns steht. Du hast immer noch Geheimnisse vor mir.“
„Irgendwann werde ich dir davon erzählen, aber nicht jetzt.“ Ich wusste, dass eine Diskussion zwecklos war und so ließ ich es bleiben. Zwischen uns herrschte wieder Stille, doch dieses Mal war sie nicht bedrückend, sondern nötig. Wir bekamen beide Zeit zum Nachdenken, die wir dringend nötig hatten.
Gedankenversunken ließ ich meinen Blick über die weitreichenden Felder schweifen und dachte darüber nach, was unser Gespräch gebracht hatte. Das mit Lucas sah er wohl immer noch ziemlich verbissen und er würde seine Meinung auch nicht ändern, bis ich keinen Kontakt mehr zu ihm hätte, aber das wollte ich unter keinen Umständen. Lucas war ein guter Freund geworden und ich wollte ihn nicht wegen unbegründeter Eifersucht verlieren. Die Frage war nur, ob Leandro das akzeptieren könnte. Irgendwie war er mir das ja schuldig. Nach all den Dingen mit Laureen, nach all den Geheimnissen und Lügen. Aber sah er es genauso? Laureen war bei ihm ein sensibles Thema und manchmal hatte ich das Gefühl, dass er gar nicht verstand, wie sehr er mir mit ihr wehtun könnte. Und das, obwohl er es selbst erlebt hatte.
„Also was ist jetzt?“, fragte ich nach einiger Zeit und hoffte endlich eine klärende Antwort zu bekommen.
„Mit uns?“ Es schien als würde er aufhören abzublocken und das ließ mich hoffen.
„Ja. Was denkst du? Wirst du mit Lucas klarkommen?“
„Muss ich ja wohl irgendwie. Er wird trotzdem nie meiner bester Freund werden.“
„Das soll er ja auch gar nicht. Und was ist mir mir?“, fragte ich vorsichtig.
„Mit dir?“
„Ja, also ich meine,... hast du denn überhaupt noch Gefühle für mich?“ Meine Worte waren schwer, schwer wie Blei und jede Sekunde die verging, ohne, dass er antwortete, war Eine zu viel. Darüber hätten wir schon längst sprechen müssen und doch wünschte ich mir, dass ich meine Frage wieder zurücknehmen könnte. Mir war furchtbar übel vor Aufregung. Immer noch konnte ich nicht einschätzen, wie er reagieren würde und das machte mir Angst. Nach diesem Gespräch verstand ich ihn besser und meine Wut über ihn war längst verschwunden. Ich hatte plötzlich nur noch Angst, dass er zugeben würde, nichts mehr für mich zu fühlen. Das es doch das Ende war. Ich wurde noch unsicherer, als ich in seine Augen sah und diesen merkwürdigen Blick nicht zu deuten wusste. Er war nicht kalt und abweisend, er war aber auch nicht versöhnend und entgegenkommend. Er war eher nachdenklich und geistesabwesend und das brachte meine verrückten Gedanken erst recht zum explodieren. Über diese Frage durfte man doch gar nicht lange nachdenken oder nicht? Egal wann er mich das fragen würde, ich hätte immer eine klare Antwort. Warum also zögerte er so lange?
„Natürlich habe ich noch Gefühle für dich...“ Erleichtert atmete ich auf. Er sagte nicht mehr viel, aber das war auch nicht nötig. Ich konnte ihm nicht mehr zuhören, ich konnte ihn nur noch anstarren und dankbar dafür sein, dass ich ihn nicht verlieren würde. Lächelnd stand er auf, reichte mir sein Hand und zog mich zu sich.
Mit großen Augen standen wir uns gegenüber. Er hatte meine Hand wieder losgelassen und starrte mir nun auch, einfach in die Augen. Wir waren uns so dicht, dass er meinen schnellen Atem mit Sicherheit auf seiner Haut spürte. Trotzdem berührten wir uns nicht. Ich musterte ihn. Seine müden Augen waren wieder wacher geworden und sein Gesichtsausdruck war endlich nicht mehr gelangweilt und abgefuckt.
„Und was ist mit dir?“
„An meinen Gefühlen zu dir habe ich nie gezweifelt. Verdammt, warum haben wir nicht früher miteinander...“ Mitten im Satz hörte ich auf zu sprechen, als er seine Hand an meine Wange legte und langsam darüber streichelte. Meine Frage geriet in Vergessenheit und auf einmal wurde ich von seinen Augen wieder so fasziniert, wie bei unserer ersten Begegnung. Sanft legte er seine Hände um meine Hüfte und zog mich näher zu sich. Ein Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus und verteilte sich in meinem ganzem Körper. Meine Aufregung kehrte zurück und brachte mich leicht zum Zittern. Sanft strich er mir durchs Haar und löste dabei Strähnen, die nun in mein Gesicht fielen. Glücklich lächelte er und fing an auf seiner Unterlippe herumzukauen. Sein Blick wanderte zu meinen Lippen und schließlich kam er mir langsam näher. Ruhig schloss ich meine Augen und spürte schon einen Moment später, seine weichen Lippen auf meinen Meinen. Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Noch nie hatte ich etwas so sehr gewollt, wie das.
Wir verschmolzen miteinander und ich fühlte, wie der Kuss immer inniger wurde. Wir wurden hektischer, intensiver und so drückte er mich immer enger an sich, bis ich kaum noch Luft bekam und das war perfekt. All die aufgestauten Gefühle, Sehnsüchte und Versuchungen überkamen mich und ließen mich immer verrückter nach ihm werden. Sie wollten mich umstoßen und hätte ich nicht seine starken Arme um meine Hüfte gehabt, wäre ich doch glatt zu Boden gefallen. Ich fühlte so intensiv, wie schon lang nicht mehr und das genoss ich vollen Zügen. Ich küsste seine Wange, seinen Hals und schließlich lagen wir uns einfach nur noch in den Armen. Mein Sehnsucht nach Geborgenheit wurde endlich wieder erfüllt. Ich konnte ihn kaum loslassen und drückte ihn immer mehr an mich.
„Ist alles okay?“, fragte er besorgt, als wir uns nach einigen Minuten von einander lösten und eine Träne meine Wange hinunter kullerte. Ich hatte es nicht mehr für möglich gehalten, dass er es weiterhin versuchen wollte. Ich hatte gedacht, dass dieser Streit unser Aus bedeuten würde.
„Ja, es ist perfekt.“ Entspannt ließ ich meinen Blick über das Feld schweifen und sah dem heulenden Wind zu, wie er abgestorbene Pflanzenreste über den Boden trug. Der wolkenverhangene Himmel riss über unseren Köpfen auseinander und brachte für einen Moment die Sonne zum Scheinen. Ich genoss die lauwarmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht und lauschte der Stille. Meine Gedanken hatten sich beruhigt und stattdessen war ich vollkommen zufrieden geworden. Doch dieser perfekte Moment hielt nicht lange an, als ich mich wieder an mein Geisterproblem erinnerte. Ich musste zu Lucas und ein paar seiner Vorräte klauen. Außerdem war er mir noch eine ordentliche Erklärung schuldig.
„Ich will echt nicht gehen. Ich würde am liebsten den ganzen Nachmittag mit dir im Bett verbringen und einfach nur kuscheln, aber ich hab noch eine Menge zu erledigen“, seufzte ich. Die Mathehausaufgaben hatte ich auch noch vor mir. Aus dem freien Nachmittag würde wohl nichts mehr werden.
„Kann ich dir dabei helfen?“
„Nein, ich muss mit Lucas reden. Wege Emma und noch einigen anderen Sachen“, sagte ich ruhig und hoffte er würde nicht weiter nachfragen. Ich wollte das Geisterproblem erst einmal für mich behalten. Ich war mir sicher, dass er ausrasten würde, wenn ich ihm davon erzählen würde, was sie mit mir gemacht hatte. Und das würde das Risiko mit sich bringen, dass sie meiner Familie etwas antun würde.
„Hm.“
„Ich werde versuchen mich zu beeilen und nachher kann ich ja dann zu dir kommen.“
„Was heißt nachher?“
„Na ja mit den Matheaufgaben muss ich mich noch auseinandersetzten und bei meiner Mum sollte ich wohl auch reden.“
„Du willst wirklich mit ihr reden?“
„Ja. So wie es momentan zwischen uns ist, kann es nicht weitergehen und vielleicht war ich auch etwas zu gemein zu ihr.“
„Wow, ich bin stolz auf dich“, murmelte er und gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Es war nur ein einfacher Kuss, aber er ließ mich dadurch noch geborgener fühlen und gab mir das Gefühl, er würde mir vertrauen. Er ließ mich zu Lucas gehen. Ohne mich auszufragen und ohne mir zu misstrauen. Dieses Gespräch hatte wohl mehr gebracht, als ich zu hoffen gewagt hatte.
„Landro?“, fragte ich unsicher, als wir uns eigentlich schon verabschiedet hatten und getrennte Wege gehen wollten. Eine Frage brannte mir noch auf der Seele.
„Warum hast du am Anfang unseres Gespräches daran gezweifelt, ob du eine Beziehung willst? Ich dachte deine Gefühle hätten sich nicht geändert?“
„Das haben sie auch nicht. Ich habe gezweifelt, weil ich nicht wusste was zwischen dir und Lucas gelaufen ist.“
„Und jetzt bist du dir sicher? Was dachtest du, was zwischen uns passiert ist?“ Nachdenklich senkte er seinen Blick und zuckte nur mit den Schultern.
„Wir haben nicht mit einander geschlafen und wir haben uns auch nicht geküsst.“
„Das glaube ich dir auch. Jetzt, aber vorhin, als ich das gesagt habe, wusste ich es noch nicht und ich war mir nicht sicher, wie ich mich entscheiden würde, wenn da mehr gewesen wäre.“ Ich schluckte. Ich hatte ihm vergeben können und ich hatte langsam das Gefühl, dass ich das noch tausend Mal tun würde. Aber er wäre sich da nicht sicher? Ich meine, klar er war ein Arschloch gewesen und ich war vielleicht einfach nur dumm, naiv und irgendwie abhängig von ihm, aber nach all dem hatte ich eigenartiger Weise erwartet, dass auch er mir vergeben könnte, wenn ich mir einen Fehltritt erlauben würde. Doch da lag ich wohl falsch.