Sie hatte mich nicht gesehen, aber ich hatte sie erkannt. Ihre Gesichtszüge waren symmetrisch, perfekt. Laureen, die schon wieder bei ihm stand und versuchte ihn für sich zu gewinnen. Verdammt was wollte sie hier? Ich hasste sie! Konnte sie ihn nicht in Ruhe lassen? Was, wenn er sich für sie entscheiden würde? Eine weitere Abweisung könnte ich einfach nicht verkraften. Das könnte ich einfach nicht! Ich könnte ihm nicht mehr verzeihen, aber ich war mir auch sicher, dass ich nicht ohne ihn leben könnte. Das war doch ein verdammter Scherz. Er wusste gut genug, was für eine Gefahr sie für uns darstellte und er wusste auch, dass ich sie bis auf den Tod nicht leiden konnte. Spielte er etwa immer noch mit mir? Hatte er nebenbei noch etwas mit dieser falschen Schlange am Laufen? Mit beiden Mädchen vielleicht? Hatte er sie geküsst? Hatte er vielleicht sogar mit ihr geschlafen? Meine Gedanken wurden immer verrückter, sodass ich diese Neugierde kaum noch aushielt. Am liebsten wäre ich auf diese verlogene, arrogante Schlampe zugerannt und hätte sie zu Boden geworfen. Ihn zur Rede gestellt, doch dafür war ich zu feige. Ich hatte Angst vor der erschütternden Wahrheit und ohne ihn weiterleben zu müssen. Denn ehrlich gesagt hatte ich wirklich keine Ahnung, wie ich das jemals anstellen sollte.
Ich war abhängig von ihm und ich wollte nicht mehr ohne ihn sein, das konnte ich nicht mehr. Und das, obwohl ich regelmäßig das Blut trank? Wo blieb meine Emotionslosigkeit? Wieso konnte er mir nicht einfach egal sein? Wieso war ich nur so stark mit ihm verbunden? Wenn ich ihn nicht lieben würde, wäre mein Leben an manchen Stellen doch so einfach und... einsam.
Eine Weile noch starrte ich sie an, bis sie sich aufmachten und zusammen tiefer im Wald verschwanden. Den Rest des Weges schob ich mein Fahrrad nur noch und wurde fast verrückt vor Gedanken und Vermutungen. Er wollte mich nicht mehr, warum sonst sollte er sich mit ihr treffen wollen? Er hatte mir gesagt, er würde sie auch hassen. Er würde sie nie wiedersehen wollen, wo waren diese Vorsätze geblieben? Die ersten Tränen rannen meine Wangen hinunter, weshalb ich mein Fahrrad nur schnell in die Ecke warf und schnurstracks in mein Zimmer stürmte.
Es war Niemand da gewesen, der unbequeme Fragen hätte stellen können und das war mir nur recht so. Weinend warf ich mich aufs Bett und starrte Stunden lang die Decke an, während ich alle Möglichkeiten durchging. Wie er es beenden würde, wie ich ihn darauf ansprechen könnte und wie wir uns wieder versöhnen würden, doch alle Möglichkeiten waren Spekulationen und genau dieser Fakt machte mich verrückt. Ja es machte mich buchstäblich verrückt. Ich wusste nicht mehr was ich noch glauben sollte und was ich glauben wollte. Ich wusste plötzlich gar nichts mehr und das machte mir Angst. Da halfen auch nicht die Vorstellungen, wie ich Laureen zu Boden werfen und auf sie einschlagen würde. Wenn ich könnte, dann würde ich sie töten, eigenhändig! Ich wollte wissen, warum er sich mit ihnen traf und warum er es verheimlichte, aber ich wollte gleichzeitig nicht mit ihm sprechen. Ich war mir sicher, er würde mich nur anlügen und darauf konnte ich getrost verzichten. Ihn wollte ich heute nicht mehr sehen, weder sein Lächeln, noch seine unschuldigen Augen. Das konnte doch echt nicht wahr sein! War ich echt die einzige, die an dieser Beziehung so sehr hing? Die so starke Gefühle hatte, dass jede Stunde ohne ihn, eine zu viel war? Die immer noch nervös wurde, wenn er mich berührte und mich küsste? Wenn er mich so verliebt ansah?
Was war mit all seinen Versprechungen passiert? Mit den Zielen, die wir uns gesetzte hatten? Es schien, als wären sie einfach verschwunden und als hätte es sie nie gegeben. Ich wusste plötzlich nicht mal mehr, wie ich mit ihm reden sollte. Ich wusste auch nicht, was ich mir eigentlich wünschte. Die ganze Zeit über hatte ich dieses schlechte Gefühl in mir ignoriert, so getan, als hätte ich keine Zweifel an ihm. Und deshalb konnte ich kaum etwas anderes glauben, als dass er mir wirklich wieder fremd ging. Dieses schlechte Gefühl war ja nicht einfach nur so da, es hatte schon etwas zu bedeuten und das wurde mir erst jetzt so richtig klar. Krampfhaft hatte ich versucht es zu verdrängen und bis eben hatte diese Strategie auch wunderbar funktioniert. Egal wie diese Sache wirklich war, sie konnte nur scheiße sein. Entweder log er mich an und ging mir wirklich fremd oder er hatte eine gute Erklärung für dieses Treffen. Aber selbst, wenn er die hätte, log er mich dann immer noch an. Und hier ging es nicht um eine Hausaufgabe, die er nicht gemacht hatte.
Meine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als es plötzlich klopfte und ich völlig panisch hochschreckte. Schnell versuchte ich die Tränen und ihre Spuren zu verwischen.
„Ja“, rief ich schnell und zog mir den Laptop auf den Schoß, um den Anschein zu erwecken, ich hätte eben nicht nur die Decke angestarrt. Friedlich sah er mich an, doch bekam von mir nur finstere Blicke zu spüren. Wie konnte er nur so tun, als wäre alles gut? Wenn er sich heimlich mit Mädchen im Wald traf? Ich wollte ich ihn hassen, aber so sehr ich es auch versuchte, es funktionierte nicht. Er sollte verschwinden, gleichzeitig aber sollte er sich erklären. Ich wünschte mir, ich hätte dieses Treffen niemals gesehen.
„Hey Baby, wie wäre es wenn wir morgen wieder etwas zusammen machen?“ Baby? Er sollte bloß aufhören mich so zu nennen! Mit Sicherheit nannte er seine Laureen auch so.
„Hm“, brummte ich und stand auf.
„Am besten mit der ganzen Familie. Tom würde sich bestimmt tierisch freuen.“
„Mag sein“, antworte ich knapp und versuchte ihm den Eindruck zu geben, dass er etwas ziemlich verkackt hatte. Doch natürlich sollte er mich darauf nicht ansprechen, er sollte gefälligst selbst grübeln und schlaflose Nächte haben! Ja das wünschte ich ihm wirklich. Er war einer dieser Personen, die Gedanken einfach beiseite schieben konnte und dann einschlief, wenn er es wollte. Er hatte nie schlaflose Nächte, wenn er zu viele Gedanken hatte und wenn er sich Sorgen machte. So etwas kannte er nicht mal. Ich hingegen konnte manchmal tagelang nicht schlafen, wenn mich etwas aufwühlte. Das war einfach nicht fair!
„Also dachte ich so.“
„Und was?“, fragte ich kalt, schob aber gleich noch ein falsches Lächeln hinterher. Es sollte ihn abwimmeln, ihn nicht aufmerksam machen, gleichzeitig aber machten meine Antworten ihm schon klar, dass ich etwas hatte. Es war suspekt und ich kann mir selbst nicht ganz erklären, was ich mir davon versprach, aber in dieser Situation machte es für mich Sinn.
„Weiß nicht, vielleicht Bowlen oder so?“ Ich entgegnete nur mit einem gleichgültigen Zucken und fing an ein paar Unterlagen auf dem Schreibtisch zu sortieren. Er sollte sich unerwünscht fühlen, so wie ich es getan hatte, wenn ich sie zusammen erwischt hatte.
„Ist was mit dir?“
„Nein, mir geht’s blendend.“
„Also was hältst du davon?“
„Ja von mir aus“, sagte ich genervt und stöhnte auf.
„Du hast doch was. Sags mir“, flüsterte er mir plötzlich ins Ohr und legte seine kalten Hände um meine Taille. Er zog mich immer enger an sich und fing an meinen Hals entlang zu küssen. „Ich hab nichts!“, zischte ich, drehte mich um und nahm wieder etwas Abstand von ihm.
„Sag mal, hast du geweint?“, fragte er erschrocken, als sich unsere Blicke trafen. Erwischt richtete ich meine Augen auf das Chaos, was sich auf meinem Schreibtisch breit gemacht hatte.
„Ist das etwa verboten?“
„Natürlich nicht. Was ist los?“
„Ich will jetzt nicht drüber reden.“
„Okay, soll ich dich alleine lassen?“, fragte er zu vorkommend und wich einen Schritt zurück. Nachdenklich starrte ich in seine Augen. Sie blitzten mich so freundlich und unschuldig an, doch was ich gesehen hatte, vergaß ich nicht.
„Ja.“
„Na gut, wenn du das möchtest. Aber du solltest irgendwann schon mit mir darüber reden und vor allem dann, wenn ich etwas damit zu tun habe.“
„Die Welt dreht sich nicht immer nur um dich.“
„Das weiß ich, ich will dich nur nicht so sehen.“
„Dann geh doch“, zickte ich in an und machte eine Geste zur Tür, in der Hoffnung, er würde endlich verschwinden. Die nächsten Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich wollte verhindern, dass er etwas davon mitbekommen würde. Ihn schien das Ganze ja kaum zu interessieren und deswegen hatte ich so dringend das Bedürfnis, so zu tun, als würde es mich auch nicht interessieren.
„So meinte ich das nicht. Ich will nur nicht, dass es dir schlecht geht.“
„Schön.“
„Alex, wir wollten miteinander reden, erinnerst du dich?“ Augen rollen nickte ich gleichgültig und setzte mich wieder aufs Bett, da ich die Befürchtung hatte, er würde mich gleich in den Arm nehmen wollen. Ja er hatte Recht, wir wollten miteinander reden, aber doch nicht über so was. Ich wusste selbst, dass mein Verhalten falsch war, aber das, was ich gesehen hatte, verletzte mich so sehr, dass ich einfach nicht drüber reden wollte und es auch nicht konnte. Mir fehlten die Worte und die Angst brachte mich fast zum Ersticken. Es würde mir meine letzte Fassung nehmen und das könnte ich gewiss nicht gebrauchen.
„Dann tue das doch bitte auch.“
„Lass mich jetzt in Ruhe, ich bin einfach schlecht drauf, das kennst du doch wohl.“
„Natürlich kenne ich das. Diese Tage wo man nur an sie denken kann und daran, wie schwer es ist ohne sie zu leben und genau deswegen möchte ich doch für dich da sein.“ Er ist ja so ahnungsvoll.
„Ich brauche dich jetzt aber nicht. Ich will alleine sein.“ Er seufzte schwer und steuerte die Tür an.
„Bist du sicher?“
Ich nickte gleichgültig und damit verschwand er endlich durch die Tür. Seufzend ließ ich mich wieder aufs Bett fallen und drückte mein Gesicht ins Kopfkissen. Direkt schossen mir die Tränen in die Augen und durchnässten den weichen Stoff. Die Gedanken, die für einen Moment verschwunden waren, kamen doppelt zurück und ließen mich durchdrehen. Mein Atmung ging schnell und ich verspürte das Bedürfnis, irgendwo reinzuschlagen. Ich brauchte irgendetwas mit dem ich diesen stechenden Schmerz in meiner Brust aushalten könnte. Ich wollte schreien, ich wollte um mich schlagen und ich wollte irgendwo so fest reinkneifen, dass sich meine Fingernägel biegen und brechen würden.
Eine Weile saß ich verstört in meinem Zimmer und lief auf und ab. Ich starrte ratlos an die Wand und konnte nicht aufhören die Tränen meine Wangen hinunterfließen zu lassen. Viel zu lange versank ich in Selbstmitleid, bis ich mir endlich selbst in den Arsch treten konnte und mich davon überzeugte, dass ein kurzer Spaziergang Klarheit schaffen könnte.
Leandro sagte ich, dass ich mich mit Melina und Maya treffen würde. Er wusste wohl, dass ich nicht reden würde und so akzeptierte er es, ohne weitere Nachfragen zu stellen. Nachdenklich stopfte ich die Kopfhörer in meine Ohren und drehte die Musik so laut auf, dass mir das Trommelfell fast platzte. Ich wollte die Welt um mich herum vergessen, wenigstens für einen Augenblick ihn vergessen und das erschien mir nur mit Musik möglich zu sein. Doch schnell merkte ich, dass ich genau das Gegenteil damit erreichte. Ich vergaß zwar die Welt um mich herum, aber nicht ihn. Beinahe jede Zeile in den Liedern, erinnerte mich an ihn und von manchen Musikern fühlte ich mich plötzlich verstanden. In ihren Songs beschrieben sie genau meine Gefühle und eine Situation, die wohl ganz gut zu meiner passte. Auch sie hatten geglaubt, dass es irgendwie besser werden würde, dass es dieses Mal anders wäre und das, obwohl wir doch eigentlich genau wussten, dass es sich nie ändern würde. Aber anscheinend war alles besser, als diese eine Person zu verlieren.
„Hey, was machst du hier?“, erschreckte mich plötzlich Lucas Stimme, die dumpf in meine Ohren drang, als ich den Betonweg, an den Feldern, erreicht hatte. Dort wo sich unsere Wege sonst immer trennten. Ungewollt zuckte ich zusammen und brauchte einen Moment, ehe ich seine feste Umarmung erwiderte. Zögern nahm ich meine Kopfhörer ab und schaltete die Musik aus.
„Nicht erschrecken, ich bins doch nur.“
„Alles gut, ich war einfach nur in Gedanken“, sagte ich möglichst gefasst und hoffte er würde meine schlechte Laune nicht mitbekommen.
„Und was machst du jetzt hier?“
„Ich musste einfach mal raus.“
„Ist was passiert?“
„Nein, nur ein bisschen Stress mit meiner Mum“, log ich und blickte noch im selben Moment zu Boden.
„Triffst du dich gar nicht mit Melina und Maya?“
„Nee, eigentlich wollte ich allein sein.“
„Ach so, soll ich gehen?“
„Nein schon gut. Ist vielleicht auch besser so. Was machst du denn hier?“
„Auf meine Freundin warten, aber ich glaube sie hat mich versetzt.“
„Wolltest du nicht noch vorhin zu ihr fahren?“
„Ja, aber sie hatte natürlich noch nicht Schluss, was ich etwas verpeilt habe. Jedenfalls wollten wir uns nun hier treffen.“
„Sie hat dich bestimmt nicht versetzt“, antwortete ich und setzte dabei meine überzeugendste Miene auf. Nur für ihn natürlich, sie konnte ich immer noch nicht leiden.
„Ich bin erstaunt, dass du plötzlich so gut von ihr denkst, was ist passiert?“
„Sie hat sich entschuldigt...“
„Freut mich, aber sie ist immer so pünktlich, sie wird mich versetzt haben.“
„Dann ruf sie doch an“, antwortete ich überzeugt davon, dass das der einfachste Weg wäre.
„Nö. Das soll sie gefälligst selbst machen. Immerhin ist sie Diejenige, die mich vergessen hat.“
„Sei doch nicht so stur“, ermutigte ich ihn und deutete auf sein Handy, was er immer noch in der Hand hielt. Wenigstens die sollten ihre Beziehung hinkriegen, wenn Leandro und ich das schon nicht auf die Reihe bekamen. Mit Sicherheit redeten sie über ihre Probleme, so wie es wohl alle Pärchen taten. Aber Leandro und ich waren nun mal nicht so. Weder normal, noch wie die anderen.
„Du willst mir erzählen, dass du nicht so stur wärst? Du würdest doch wahrscheinlich nicht mal mit ihm reden.“
„Ja ist ja gut, dann lass es eben bleiben.“
„Hast du Leandro eigentlich nochmal gesehen?“
„Ja“, antwortete ich knapp.
„Und hat er noch was zu seinem Verschwinden gesagt?“ Ich schüttelte nur den Kopf.
„Denkst du er ist schuld an dem Ausfall?“
„Natürlich ist der das“, antwortete ich sicher und stellte noch im selben Moment fest, dass diese Antwort nicht der beste Weg gewesen war, um zu verheimlichen, dass ich schon wieder Probleme mit Leandro hatte. Vielleicht aber war es auch ganz gut so. Es sollte doch helfen über seine Probleme zu reden und vielleicht hätte Lucas ja einen guten Rat..., den ich wahrscheinlich sowieso nicht befolgen würde.
„Bist du sicher? Ich meine es könnte ja doch nur ein Zufall sein“, ruderte er plötzlich zurück und hinterließ damit ein riesiges Fragezeichen in meinem Gesicht. Vor ein paar Stunden noch hatte er ihn unbedingt dafür verantwortlich machen wollen und jetzt? Jetzt wollte er ihn in Schutz nehmen? Und alle sagen immer, dass Mädchen so unverständlich wären...
„Ja bin ich.“
„Und woher kommt deine Sicherheit?“
„Ich habe gesehen, warum er früher gehen wollte.“
„Ach ja?“ Ich nickte und fing an nervös auf meiner Unterlippe herumzukauern.
„Ich habe ihn erwischt“, sprudelte es auf einmal wütend aus mit heraus.
„Wobei?“
„Wie er mich betrogen hat.“ Meine Worte verstummten und Lucas schaute mich einen Moment lang ungläubig an. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben, dass er Leandro so etwas nie zugetraut hätte, aber es war wohl an der Zeit, dass auch er sein wahres Gesicht erfahren würde und mich davon abhalten könnte, ihm zu vergeben. Denn ich hatte das ernüchternde Gefühl, dass ich ihm jeden einzelnen Fehltritt vergeben könnte. Fassungslos starrte er mich an und wusste einen Augenblick lang nicht, was er mir noch sagen sollte. Wahrscheinlich musste er selbst erst einmal verstehen, was diese wenigen Worte für einen beschissenen Einfluss auf mich hatten.
„Du hast dich gar nicht mit deiner Mutter gestritten oder?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Also habt ihr euch so richtig gezofft? Euch richtig angeschrien?“
„Da kennst du mich aber schlecht.“
„Du hast doch wohl etwa nicht,... nichts zu ihm gesagt oder?“
„Doch. Ich habe ihn nicht drauf angesprochen?“
„Was? Denkt er immer noch du hättest es nicht mitbekommen?“
„Ja.“
„Alex! Du musst mit ihm darüber reden! Du kannst doch nicht einfach gar nichts machen.“
„Ich weiß, aber eben konnte ich einfach nicht darüber sprechen. Ich habe kaum ein Wort rausbekommen.“
„Bist du dir denn sicher, dass er dir Fremdgeht? Und das es nicht nur so aussah?“ Ich lachte kurz auf. Wie konnte etwas denn nur so aussehen?
„Na klar bin ich mir sicher. Mittlerweile weiß ich ganz genau, wie es aussieht, wenn er mich betrügt.“ Urplötzlich verstummte ich. Fuck! Das hatte ich nun wirklich nicht erzählen wollen. Ich erzählte Lucas fast alles, aber das hatte ich mit Absicht zurückgehalten. Jetzt war Leandro bei Lucas ganz bestimmt unten durch.
„Mittlerweile?“, fragte er besorgt und sah mich plötzlich mit einem Blick an, den ich bei jedem anderen als ätzend empfunden hätte. Er war so bemitleidend und normalerweise hätte es mir das Gefühl gegeben, für schwach gehalten zu werden, aber bei Lucas war das eigenartiger Weise okay. Es war plötzlich okay für mich und sogar noch viel mehr. Es tat gut zu sehen, dass er meinen Schmerz verstand.
„Ja wir hatten das Thema schon ein paar Mal“, versuchte ich es runterzuspielen. Anne hätte dieses Problem niemals ernsthaft interessiert. Sie hätte nur gesagt vergiss ihn und klär dir den nächsten. Vielleicht sollte ich das wirklich mal ausprobieren. Vielleicht würde mich das im Zweifelsfall von ihm ablenken.
„Und du bist trotzdem noch mit ihm zusammen?“, fragte er ungläubig, als würde ich etwas Verbotenes tun. Doch ich konnte ihn gut verstehen. Früher hatte ich mir auch nicht vorstellen können, mich von einem Jungen so abhängig zu machen, dass ich ihm selbst den Treuebruch verzeihen könnte. So etwas fällt leicht, wenn man selbst nicht betroffen ist, doch wenn man plötzlich in dieser Lage steckt, scheint es gar nicht mehr so absurd und falsch. Fehler machen schließlich alle oder? Ich merkte, wie ich mir immer mehr einredete, dass es irgendwie okay wäre. Auch, wenn das absurd und völlig unsinnig klang.
„Hm, irgendwie schon. Ich bin ihm anscheinend verfallen, aber ich hätte nicht gedacht, dass er es nochmal tut. Wieder und wieder, ich habe es so satt, aber ich kann ihn auch nicht gehen lassen. Nach unserer letzten Trennung hat er so um mich gekämpft, warum wirft er das auf einmal weg?Als hätte ihm nie etwas an mir gelegen? Es ist wohl seine Natur und Nichts und Niemand wird je etwas daran ändern können.“
„Er hat dich mehr Mals betrogen?“
„Ja, mit seiner großen Liebe, über die er wohl immer noch nicht hinweg ist und über die er auch nie hinweg kommen wird.“
„Du redest ohne Hass, wie kann das sein?“ Ich zuckte nur mit den Schultern, tatsächlich war ich hassfrei, denn ich hoffte immer noch, dass sich das einfach als ein Missverständnis herausstellen würde. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich diese Gesten und diese Heimlichtuerei missverstehen könnte. Und davon mal ganz abgesehen, war mir doch irgendwie klar gewesen, dass so etwas auf lange Sicht passieren würde.
„Ich kenne euch noch nicht lange, aber ich kann mir das einfach nicht vorstellen, er wirkt so nett und ihr so glücklich.“
„Ich dachte auch wir wären glücklich, aber anscheinend war er es doch nicht.“
„Was hat er gemacht, dass du dir so sicher bist? Dass du genau weißt, dass er dir all die Male fremd gegangen ist und auch dieses Mal? Nicht, dass du das einfach falsch verstanden hast?“ Ich wusste, dass Lucas es nur gut mit mir meinte und die Situation wahrscheinlich auch nur entschärfen wollte, aber diese spitze Bemerkung machte mich wütend und verletzte mich. Innerlich kochte ich. Aber ich versuchte mich zusammenzureißen.
„Er hat ein anderes Mädchen geküsst, vor meinen Augen und er hat es zugegeben. Also wie soll ich das falsch verstanden haben?“
„Wirklich?“
„Ja, aber ich will dich nicht mit Details langweilen.“
„Gott verdammt, für so jemanden hätte ich ihn nie gehalten“, sagte er erschrocken und sah mich mit großen Augen an. Fassungslosigkeit legte sich auf sein Gesicht und ließ all seine Gesichtszüge entgleiten. Damit hatte er wohl wirklich nicht gerechnet. Wie würde er wohl schauen, wenn Leandro auch mit Laureen geschlafen hätte?
„Überraschender Weise habe ich das auch nicht.“
„Aber du langweilst mich nicht, ich höre dir gerne zu. Hat er denn dieses Mal das Selbe gemacht?... Oder kann es sein, dass du vielleicht... ein wenig überempfindlich reagierst?“
„Überempfindlich? Spinnst du?! Auf wessen Seite bist du?“, zischte ich wütend und fragte mich noch im selben Moment, warum ich hier überhaupt noch stand. Überempfindlich? Hatte er sie noch alle? Es wäre überempfindlich, wenn er nur mit einem wildfremden Mädchen geredet hätte, sie nach dem Weg fragen würde, aber das, was ich gesehen hatte...
„Nein, so meine ich das nicht, natürlich bin ich auf deiner Seite. Versteh mich nicht falsch, das was er abgezogen hat, ist bestimmt nicht zu entschuldigen und ich will es echt nicht runterspielen oder rechtfertigen. Aber ich frage mich, ob er dieses Mal auch ein Mädchen geküsst hat? Oder ob du nicht einfach Angst davor hast, betrogen zu werden. So sehr, dass du es falsch interpretiert hast?... Was natürlich völlig nachvollziehbar wäre.“
„Nein, dieses Mal hat er niemanden geküsst, aber wie sie sich angesehen haben. Sie hat ihren Arm über seine Schulter gelegt und er hat ihn nicht weggestoßen.“
„Ach Alex, aber das ist doch kein Grund,das Schlimmste von ihm anzunehmen! Ich lege auch meinen Arm über deine Schulter und trotzdem sind wir nur befreundet“, versuchte er mich aufzumuntern und drückte mich etwas enger an sich. Zugern würde ich ihm einfach glauben, nicht drüber nachdenken müssen und einfach beruhigt sein. Aber Laureen war dabei gewesen. Sie war zwei Mal der Grund dafür gewesen, warum ich an unserer Liebe gezweifelt hatte, warum sollte sie es nicht auch ein drittes Mal versuchen? Und warum sollte er sie dieses Mal wegstoßen?
„Natürlich, aber das ist was anderes.“
„Weil du es bist? Vielleicht hat er auch eine beste Freundin?“
„Ganz gewiss nicht! Er verheimlicht es mir und sie war das selbe Mädchen. Das Mädchen, mit der er mich betrogen hat!“
„Oh shit!“, brachte er heiser hervor und umarmte mich fest.
„Verdammt Alex, so etwas hast du einfach nicht verdient“, flüsterte er mir ins Ohr und drückte mich noch enger an sich. Fürsorglich tätschelte er meinen Kopf und versuchte mich zu beruhigen. Doch seine herzliche Umarmung verursachte das komplette Gegenteil. Die Tränen rannen so schnell und viel, wie schon seit langem nicht mehr und ich konnte sie nicht aufhalten. Schnell versuchte ich seine Bemühungen abzulehnen und vor ihm zu verstecken, dass mich die Sache mehr mitnahm, als es eigentlich sollte. Ich dachte das Blut würde mir auch bei so etwas helfen, warum also spürte ich schon wieder diese erdrückende Traurigkeit? Ich hatte das Gefühl, ich müsste jetzt vor Lucas erst recht so tun, als wäre ich deswegen nicht traurig. Immerhin hatte er mir diesen Trick gezeigt und wahrscheinlich versprach er sich viel davon. Am Anfang hatte das Zeug auch echt geholfen...
„Hey, schau mich an.“ Stumm schüttelte ich den Kopf.
„Ist es dir etwa peinlich in meiner Gegenwart zu weinen?“, fragte er verwundert. Unsicher nickte ich.
„Aber das muss es doch nicht.“
„Doch.“
„Unsinn. Vielleicht solltest du trotzdem mit ihm reden. Wie gesagt, ich will ihn echt nicht in Schutz nehmen, aber du hast ihn ja nicht wirklich erwischt oder?“
„Doch, sie haben geredet. Er und diese arrogante, hübsche Laureen.“
„Aber du hast nicht gesehen, wie sie sich geküsst haben?“
„Nein.“
„Dann rede mit ihm, vielleicht gibt es ja doch eine Erklärung.“
„Weiß nicht, er wird mich doch sowieso wieder nur anlügen“, seufzte ich und wischte die nassen Tränen aus meinem Gesicht.
„Könnte es sein, dass du bereits so fest davon überzeugt bist?“
„Wovon?“
„Davon, dass er dir fremdgeht und, dass er dich anlügen wird.“
„Du bist voll auf seiner Seite!“
„Nein, das bin ich nicht! Aber, wenn du nichts anderes glauben willst, dann wird er dich nie vom Gegenteil überzeugen können. Du solltest ihm wenigstens eine Chance geben.“
„Was auch immer, deine Freundin kommt. Dann werde ich wohl wieder verschwinden“, entgegnete ich flink und war das erste Mal froh, seine Freundin zu sehen. Er verstand die Situation kein bisschen. Er nahm ihn in Schutz und das wollte ich mir wirklich nicht länger geben. Ich wusste genau was ich gesehen hatte und ich kannte Leandro gut genug, um zu wissen, wo das enden würde.
„Du musst nicht gehen.“
„Ich will aber, ist ja euer Date und ich will das nicht mit meiner miesen Laune verderben.“
„Das würdest du nicht.“
„Doch bestimmt.“
„Sicher, dass du nicht bleiben willst?“, fragte er.bittend. Doch ich schüttelte nur den Kopf und umarmte ihn kurz zur Verabschiedung.
„Und was ich dir über unsere Beziehung gesagt habe,... das bleibt unter uns. Verstanden?“
„Selbstverständlich, aber nochmal ohne Partei ergreifen zu wollen, rede mit ihm!“ Widerwillig nickte ich und machte mich auf den Heimweg. Ich wollte Leandro nicht mehr sehen, ich wollte nicht mit ihm reden und ich wollte nicht mehr an ihn denken. Es wäre wohl besser, wenn ich erst mal etwas Abstand von ihm halten würde.