Die Zeit verstrich schneller, als es mir lieb gewesen war und schon musste ich dem grauen Montagmorgen in die Augen blicken. Es war ein typischer, trister und verregneter Montag. Der Himmel war mit schweren Wolken bedeckt und es wollte nicht richtig hell werden. Eigentlich war es der perfekte Tag, um sich die ganze Zeit im Bett zu verkriechen und eine Serie, nach der anderen, durchzusuchten.
Doch heute schrieben wir eine wichtige Deutschklausur, die ich keinesfalls verpassen durfte. Also musste ich mich aufraffen und doch den Weg zur Schule auf mich nehmen. Das ganze Wochenende hatte ich mich wegen dieser Klausur verrückt gemacht. Sie zählte 50 Prozent zu meiner Endnote und deshalb durfte ich dort auf keinen Fall durchfallen. Unzählige Male hatte ich versucht ein paar Interpretationen, Charakterisierungen und Analysen zustande zu bekommen. Doch es fiel mir immer noch schwer meine Gedanken in einen logischen Text zu verfassen und den Sinn der meisten Kurzgeschichten und Gedichte zu verstehen.
Die Klausur war eine gute Ausrede gewesen, um diesen blöden Ausflug vermeiden zu können. Doch leider war er nur verschoben worden und nun wollten sie mich dazu zwingen, nächstes Wochenende mit eislaufen zu kommen.
Immer noch konnte ich mich nicht dazu überwinden, ihn auf meine Beobachtungen anzusprechen. Lucas hatte vielleicht Recht, meine Einstellung war zu festgefahren. Auch wenn ich glauben wollte, dass es eine einfache Erklärung dafür gab, hatte ich dieses Gefühl in mir, dass er mir doch sowieso schon wieder fremdging. Ich konnte nicht aufhören daran zu denken, wie sie sich intensive Blicke zu geworfen und sich „zufällig“ berührt hatten.
Leandro hatte mich das Wochenende über immer wieder zum Reden bringen wollen. Er bemühte sich wirklich um eine vernünftige Antwort, die ich ihm jedoch nicht geben konnte. Immer wieder hatte ich ihn weggeschickt. Aber er gab nicht auf, bis zum heutigen Morgen. Ohne ein Wort war er verschwunden und hatte mich alleine gelassen. Ich war darüber nicht besonders traurig, aber es ließ mich misstrauisch werden.
Heute verließ ich das Haus fünfzehn Minuten früher als sonst, denn ich war mit den anderen verabredet. Wir wollten ein paar Sachen gemeinsam durchgehen, ehe wir uns der Klausur stellen mussten. Leandro wusste von dem Treffen, aber ich war mir sicher, dass er nicht kommen würde. Und das war gut so. Ich hatte kein Zeit mich damit auseinanderzusetzen und anderen erklären zu müssen, wieso ich so eigenartig zu ihm war.
Auf dem Weg zur Bibliothek suchte ich nach meinen Karteikarten. Kurz vor dem Eingang hatte ich sie sortiert und lief mit gemischten Gefühlen auf die Drei zu. Zuerst bemerkten sie mich gar nicht, denn alle starrten sie gebannt aus dem Fenster. Doch nachdem ich näher an sie rangetreten war, wurde Lucas aufmerksam und umarmte mich flüchtig.
„Ist ja schreckliches Wetter da draußen“, murmelte ich, doch bekam nur ein gleichgültiges Brummen zu hören. Kopfschüttelnd setzte ich mich und schlug meinen Hefter auf. Was auch immer sie draußen zu sehen glaubten, konnte wohl kaum wichtiger sein, als die anstehende Prüfung. Also widmete ich mich den Karteikarten und konnte die anderen für einen Augenblick ignorieren.
„Kommt ihr vielleicht mal her?“, fragte ich nach kurzer Zeit, als sie immer noch mit ihren Köpfen an der Fensterscheibe klebten.
„Wir haben noch zehn Minuten, können wir jetzt endlich mal anfangen?“, drängte ich. Doch sie hörten nicht auf zu schweigen und konnten sich von diesem spannenden Ereignis nicht losreißen. Ich seufzte und stand auf. Kopfschüttelnd stelle ich mich zwischen Lucas und Melina, um mir selbst ein Bild machen zu können. Einen Moment lang wanderten meine Blicke über die trübe Landschaft und ich suchte krampfhaft nach dem Wunder, was verantwortlich für ihre Abwesenheit war. Dann sah ich es endlich und schon der Anblick reichte aus, um mich zu versteinern. Mein Atem stockte. Jeder Tropfen Blut gefror in meinen Adern. Mir wurde eiskalt und meine Knie wacklig.
Der Schock legte sich, als es zum Reingehen klingelte. Wut kochte in mir auf. In meinem Kopf gab es eine Kurzschlussreaktion. Ohne auf irgendjemanden in meiner Umgebung zu achten, raste ich nach draußen, durch die Menschenmassen. Plötzlich war mir alles egal, ich wollte nur noch zu ihnen. Die Leute hatten gesehen, wie schnell ich rennen konnte, aber das war mir egal. Mein Blut begann zu kochen. Wut, wie ich sie noch nie zuvor gefühlt hatte, kam in mir auf. Gemischt mit Enttäuschung und Reue. Hätte ich es nur sein gelassen!
Da stand er nun, bestätigte alle Vermutungen und Befürchtungen. Seine Augen glitzerten vor Erfüllung. Er bekam das, wonach er sich schon so lange gesehnt hatte und was ich all die Zeit über gefürchtet hatte. Er war wie in Trance, bemerkte nicht, was um ihn herum geschah. Er bemerkte niemanden, außer sie. Und dieser Anblick zerriss mich.
Als hätte er sie schon jahrelang begehrt und nie berühren dürfen, verschlang er ihre Küsse und drückte ihren Körper sehnsuchtsvoll gegen seinen. Ringend nach mehr. Ja, mein Herz war tot, doch an diesem Tag wurde es für einen Moment zum Leben erweckt. Große Leere machte sich in meiner Brust breit und erdrückender Schmerz zerfraß mein Herz von innen. Das Gefühl, es gewusst und ignoriert zu haben, machte die Sache nur noch unerträglicher. Warum hatte ich ihm vertraut? Warum hatte ich ihm geglaubt? Wenn ich doch die ganze Zeit gewusst hatte, wie es enden würde? Ja ich hatte es gewusst, ich hatte dieses beschissene, ungute Gefühl in mir gehabt und ich hatte es ignoriert. Warum hatte ich nicht auf mein eigenes Gefühl gehört? Warum tat ich mir das gleiche immer und immer wieder an? Warum? Wieso?
Diese ganze Scheiße machte mich kaputt, er machte mich kaputt. Er war alles für mich gewesen, jetzt und für immer. Ich würde es nie verstehen. Wie konnte er mir das antun? Obwohl er genau wusste, wie sich dieser Betrug anfühlte? Wie? Es machte keinen Sinn! Es machte keinen verdammten Sinn! Verzweiflung überkam mich und verdrängte alle rationalen Gedanken. Ich machte einen Schritt auf die beiden zu, packte das brünette Mädchen am Arm und schleuderte sie zur Seite, als wäre sie nur dreckiger Abfall. Die müden Augen der Schüler, um uns herum, waren aufmerksam geworden und starrten uns alle an. Aber das war mir egal, alles war mir egal. Alles, nur nicht er. Warum konnte er mir nicht egal sein? Warum konnte er nicht einfach aus meinem Leben verschwinden? Wieso?
Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich die Brünette, mit der er mich schon wieder betrogen hatte. Ihre giftgrünen Augen sahen mich empört an. Sie war das gleiche Mädchen, das sich im Wald an ihn rangemacht hatte. Ich hatte für diese eigenartige Beziehung von Leandro und Laureen nicht wirklich Verständnis, aber es machte mehr Sinn, als das hier. Wieso küsste er dieses Mädchen? Wenn er Laureen nie vergessen könnte und ungewöhnlicher Weise Gefühle für mich hatte? Wieso? Ich wollte ihn so sehr hassen, aber ich konnte es einfach nicht. Wütend baute ich mich vor ihm auf und drängte ihn gegen die Wand der Schule. Seine Augen waren trüb, wie benebelt und geistesabwesend.
„Was ist dein verficktes Problem? Was habe ich dir getan, dass du mir diese Scheiße immer und immer wieder antun musst?“, schrie ich und kümmerte mich nicht länger drum, ob ich die Kontrolle behalten würde. Sollten sie doch denken was sie wollten und wenn ich morgen in der Zeitung stand,... dann war es eben so, wenn es ihnen Spaß machte. Heute würde ich das letzte Mal einen Fuß auf dieses Gelände setzten! Ich würde fortgehen, wenn er es nicht täte. Ich hielt es keinen Tag länger mit ihm aus. Ich würde in die nächste Stadt fahren, in ein Dorf, ins letzte Kaff, Hauptsache weg von ihm.
„Was willst du damit erreichen? Willst du Rache? Wegen Laureen?“, fragte ich verständnislos und drückte ihn noch enger gegen die Wand. Seine Miene war ausdruckslos. Er sah mich an, als wäre er nicht er selbst. Als wüsste er nicht einmal wer ich bin.
„Wusstest du, dass ich euer Treffen mitbekommen habe? Deswegen habe ich kein Wort mit dir reden wollen. Ich hatte Angst vor der Wahrheit, aber das ist nicht meine Schuld. Du hättest mit mir reden müssen! Verdammt, du hättest mich nicht in dem Glauben lassen dürfen, unsere Beziehung würde laufen. Natürlich war sie nicht perfekt, aber war sie wirklich so kaputt und falsch, dass du dir dieses billige Flittchen suchen musstest?” Es tat gut meine Gedanken auszusprechen und nichts mehr zurückzuhalten. Und trotzdem wollte die Angst nicht verschwinden. Das konnte es doch echt nicht gewesen sein! Ich konnte es einfach nicht begreifen.
Er regte sich immer noch nicht, wollte und konnte nicht antworten, was mich nur noch wütender machte. Er sollte sich verdammt noch mal rechtfertigen! Mir irgendwas erklären! Er konnte sich doch unmöglich nichts dabei gedacht haben. Er wusste, dass ich sie sehen würde. Er hatte offensichtlich gewollt, dass ich sie sehen würde! Verdammte Scheiße, sag endlich etwas! Meine übrig gebliebene Geduld löste sich in sekundenschnelle auf und meine Faust schnellte neben seinem Kopf, gegen die Wand. Schmerz durchfuhr meinen Körper, zuckte durch jeden einzelnen Finger und beruhigte mich für einen Moment. Der Schmerz ging nicht und er sollte es auch nicht. Es war wohl absurd zu sagen, dass ich den Schmerz an meinen Knöcheln genoss.
„Ich hätte mich niemals auf dich einlassen dürfen, aber auch das ist nicht meine Schuld. Du hättest es wissen müssen, du wusstest es und wenn ich dir jemals, auch nur ansatzweise, irgendetwas bedeutet hätte, dann wärst du gegangen, dann hättest du mich von Anfang an abgewiesen! Aber das hast du nicht und dafür, für all das, was du bist, was du mit mir, mit meinem Leben, gemacht hast, dafür hasse ich dich. Ich hasse dich! Hörst du das? Pack deine beschissenen Sachen zusammen und verschwinde aus meinem Leben! Noch heute! Sonst verschwinde ich!“, schrie ich ihn an, doch er bewegte sich immer noch keinen Millimeter.
„Ach kommt, verpisst euch! Habt ihr nichts besseres zu tun, als uns mit euren neugierigen Augen zu beobachten? “, zischte ich genervt. Einige Schüler gingen endlich rein. Doch alle, die von drinnen zugesehen hatten, klebten immer noch an den Fensterscheiben. Sie starrte uns an, als wären wir eine Sonderausstellung.
„Fuck! Leandro sag endlich was!“
„Irgendwas! Hör bloß auf mich so anzuschauen, als hättest du von nichts eine Ahnung! Du hast sie geküsst!“
„Antworte mir!“, fluchte ich energisch, doch er regte sich immer noch nicht. Ich spürte, wie die alten Gefühle aufkamen. Wie ich immer mehr mit dem Gedanken spielte, ihm meine Faust direkt ins Gesicht zu schlagen. Das Gemurmel, um mich herum, machte mich irre und seine Blick, mit dem er versuchte unschuldig zu wirken, brachte mich zum ausrasten. Zum zweiten Mal an diesem Tag verlor ich die Kontrolle und schlug meine Handknöcheln geradewegs auf seine perfekte Nase. Es knackte und er sank erschrocken zu Boden.
„Ich hasse dich!“, zischte ich ein letztes Mal, bevor ich mich endlich zusammenreißen konnte und vom Schulhof verschwand. Ich hatte nicht bemerkt, dass mir Maya nach draußen gefolgt war. Aber sie kam mir nun hinterher gerannt und legte ihre Hand tröstend auf meine Schulter.
„Dieses dreckige Arschloch hat nichts anderes verdient“, versuchte sie mich aufzumuntern. Doch ich brachte kein Wort mehr hervor. Ich konnte es immer noch nicht verstehen. War das alles nur eine Lüge gewesen? Hatte er nie mehr für empfunden? Nie? Die Leere in mir wurde immer größer, doch Maya, die mir gut zuredete, machte es erträglich.
„Los geh schon, du verpasst die Prüfung noch“, unterbrach ich sie heiser.
„Ich lass dich jetzt doch nicht allein. Das ist nur irgendeine langweilige Klausur. Wir könnten zu dir gehen und alle Fotos verbrennen. Oder seine Sachen zerschneiden und dann verbrennen.“
„Klingt gut, aber ich habe keine Bilder von ihm und ich muss jetzt wirklich alleine sein“, sagte ich schnell, steuerte mein Rad an und öffnete das Schloss hektisch. Ihre hilfsbereite und zuvorkommende Art wusste ich gewiss zu schätzen, aber sie konnte mir einfach nicht helfen.
Jetzt musste ich alleine sein, ich konnte niemanden mehr zuhören und ich war es leid, über ihn reden zu müssen. Selbst wenn wir Fotos gehabt hätten, hätte ich sie niemals verbrennen oder zerschneiden können. Jetzt zumindest nicht.
Immerhin wären es meine Erinnerungen gewesen, an die ich mich hätte erinnern wollen. Selbst wenn ich wusste, dass er nur mit mir gespielt hatte, selbst wenn ich wusste, dass er kein einziges Wort jemals ernst gemeint hat. Niemand hatte das Recht mir diese Erinnerungen zu nehmen, einfach weil es nun mal meine waren und weil ich selbst entscheiden musste, was mit ihnen passieren sollte, was ich in Ihnen noch sehen wollte.
„Ich lass dich trotzdem nicht allein, wir könnten auch Eisessen gehen oder Filme schauen. Du brauchst jetzt jemanden und gerade, musst du dann wohl mit mir Vorlieb nehmen.“
„Glaub mir, ich würde es mit keinem anderen lieber tun, aber ich muss alleine sein, bitte akzeptiere das.“
„Es ist aber schlecht, wenn du alles in dich reinfrisst. Red mit jemanden.“
„Bestimmt irgendwann, nur nicht jetzt.“
„Das ist doch scheiße. Du weißt schon, dass das die beschissenste Art ist, um mit so etwas klar zu kommen?“
„Ja kann sein, aber ich komm schon klar. Ich muss erst mal selbst nachdenken. Das ist echt nicht böse gemeint.“
„Schon gut, wenn du meinst. Aber wenn du doch reden willst, kannst du mich jeder Zeit anrufen, ja?“
„Danke.“
„Vergiss ihn, er ist es nicht wert.“
„Klar“, murmelte ich, schwang mich aufs Fahrrad und fuhr davon. Klar, wahrscheinlich war er es nicht wert. Das sagte sich so leicht, aber das war es nicht. Ich hatte immer noch diese Gedanken in meinem Kopf, dass alles nur ein großes Missverständnis war.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Was wollte er damit erreichen? Diese Fragen schwirrten unaufhörlich in meinem Kopf herum und ich wurde sie nicht mehr los. Wenn er sich nur an Laureen rächen wollte, warum tat er das dann mit mir? Wieso ich? Es gab so viele Mädchen auf dieser Welt, Hübschere als ich. Warum hatte er mich dafür genommen? War ich naiv genug? Warum tat er das anderen an? Meine Welt hörte auf sich zu drehen und ich wusste plötzlich nicht mehr weiter. Ich wusste nicht mehr was ich tun sollte. Was sollte ich machen, wenn ich zuhause ankommen würde? Ich könnte nicht einschlafen, ich könnte nicht fernsehen, ich könnte gar nichts mehr machen, ohne ihn. Alles war beschissen, ohne ihn. Ich wusste nicht mal, wie ich diese Gefühle wieder loswerden sollte. Ich wusste es einfach nicht. Ich wusste nicht mehr weiter. Ich wollte niemand anderes lieben. Nie wieder. Ich wollte nur ihn! Und das war dumm!
Erinnerungen an vergangene Zeiten kamen auf und ließen die Leere in mir immer größer werden. Ich sehnte mich nach ihm und jeden Schritt, den ich ohne ihn tat, wurde die Sehnsucht größer. Ich wollte ihn umarmen, ich wollte ihn küssen und ich wollte in seinem Arm einschlafen. Tränen kullerten meine Wangen hinunter. Ich ließ es zu, ich sah keinen Grund mehr darin, sie aufhalten zu müssen. Ich wollte die alten Zeiten zurück. Die Zeit, in der ich mir sicher gewesen war, dass diese Beziehung halten würde, dass wir das hinbekommen würden. Wie konnte ich mir so sicher gewesen sein? Wenn er mir dann ausgerechnet das antat? Es so tat? Sein vergangenes Verhalten hatte in mir Gefühle zum Vorschein gebracht, von denen ich nicht einmal wusste. Seine elendige Feigheit enttäuschte mich und machte mich gleichzeitig wütend.
Meine Gefühle fuhren buchstäblich Achterbahn. Sie verwandelten sich von Enttäuschung, zu Wut, zu Reue, zu Traurigkeit und letztendlich immer wieder zur Sehnsucht. Ich sollte ihn hassen, ich musste ihn hassen, aber ich konnte es nicht. Ich konnte ihn nicht hassen. Er hatte mit mir irgendetwas angestellt, dass ich nicht aufhören konnte zu glauben, nie wieder ohne ihn leben zu können. Ich hasste die Liebe! Sie brachte doch immer wieder nur Enttäuschung.
Er war weg und ich würde ihn nie wieder bekommen. Dieser Gedanke machte sich in meinem Kopf breit und ich versuchte ihn zu verstehen, aber ich hatte nicht ansatzweise eine Ahnung, was er bedeutete. Leandro war weg, ich würde nie wieder in seinen Armen liegen, ich würde mich nie wieder so geborgen fühlen. Er würde mich nie wieder küssen. Nie wieder! So oft ich mir das auch in Erinnerung rief, ich verstand es nicht.
Die lausig aufgepumpten Reifen meines Fahrrads ratterten über den unebenen Waldboden und machten es mir schwer, nicht vom Weg abzukommen. Meine Tränen ließen die Sicht verschwommen werden und so war es beinahe unmöglich, die Spur zu halten. Aber das war mir egal, ich ließ es einfach auf mich zukommen. Meine Gedanken waren alles was ich noch richtig wahrnehmen konnten und sie ließen mich riskant werden.
Er hatte mir weh getan, er hatte mich verletzt, mir mein Fröhlichkeit genommen, meine Familie verletzt, mein altes Leben komplett umgekrempelt. Und jetzt hatte er mich auch noch verlassen und alles was ich als Antwort bekam, soll ein gleichbleibender, fragender Gesichtsausdruck gewesen sein? Das soll alles gewesen sein? Nach all dem, was wir durchgemacht hatten? Das konnte er nicht ernst meinen, das konnte einfach nicht er sein, das war nicht er! Auch wenn meine Menschenkenntnis schon immer grottenschlecht gewesen war, so konnte ich einfach nicht glauben, dass ich mich so sehr in ihm getäuscht hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er nie etwas für mich empfunden hatte. Wenn das sein wahres Gesicht war, dann hatte ich ihn nie gekannt, dann hatte er mir das perfekt gezeigt, was ich haben wollte. Genau so, dass ich nicht gegangen war.
Wut stieg wieder in mir auf und bekam die Oberhand. Meine Füße traten immer schneller in die Pedalen, so schnell, wie es mein Körper und das Rad zuließen.
Die Kontrolle hatte ich längst abgegeben und vertraute nun ausschließlich auf den Drahtesel unter mir. Es machte keinen Sinn, aber es fühlte sich gut an. Vielleicht war es das Gefühl gewesen, loslassen zu können, endlich die Kontrolle abgeben zu können. Ich war es leid Entscheidungen treffen und die Verantwortung übernehmen zu müssen. Ich wollte endlich frei von all dem sein. Ich wollte nichts mehr fühlen, ich wollte alles loslassen und diese Aktion gab mir für einen kurzen Moment das Gefühl, dass ich genau das konnte.
Wagemutig warf ich die Hände in die Luft, ließ den Lenker los und schrie. Schrie alle Sorgen, Ängste und den Ärger aus mir raus. Die Tränen blinzelte ich nun weg, denn ich brauchte sie nicht mehr. Ich schrie so laut ich konnte und spürte für einen Moment die pure Freiheit. Meine Finger streiften einzelne Zweige über mir und ich fuhr mit rasender Geschwindigkeit immer tiefer in den Wald hinein. Ich schloss für einen Augenblick die Augen und wartete auf den Moment, in dem ich den harten Waldboden an meinem Körper spüren und das blecherne Scheppern meines Fahrrads, auf dem Sand, hören würde. Ich atmete die kühlte Luft ein und genoss die wenigen Sekunden, in denen ich alles um mich herum vergaß.
Mein Fahrrad stoppte, ich flog über den alten Lenker und fiel mit meiner Nase vor etwas pechschwarzes.