„Ich werde auf dich warten.“ Seine Worte raubten mir für einen Moment den Atem. Plötzlich packte er mich an der Schulter, flog zusammen mit mir einige Meter empor, um uns dann ungebremst in den Boden zu stürzen. Wir durchflogen den nassen Asphalt und fielen in Dunkelheit. Dort verlor ich ihn, meinen Vater.
Schwer atmend schreckte ich hoch. Hecktisch stand ich auf und sah als erstes das zerschmetterte Auto. Daneben eine riesige Blutlache. Das Gelände war bereits abgesperrt worden. Einige Polizisten nahmen DNA Proben und suchten nach Hinweisen. Polizeiautos standen um den Unfall herum und sperrten die Straße ab.
Ich entfernte mich vom Geschehen und versteckte mich vorerst hinter den umliegenden Bäumen. Luna und Samuel mussten längst verschwunden sein, aber warum hatten sie mich nicht mitgenommen?
Danil hatten sie auch hier gelassen. Eine Frau deckte seinen leblosen Körper ab, damit niemand diesen Anblick mehr ertragen musste. Zusammen mit einem Mann fuhr sie ihn davon und verschwand schnell von meiner Bildfläche.
Warum hatten sie mich hier gelassen? Mussten sie fliehen? Und wer hat mich vom Auto weggetragen? Niemals war ich so weit geschleudert worden.
Angewidert starrte ich die Blutlache an, studierte genau ihren ungeraden Verlauf und die Struktur. Während ich sie musterte veränderte sich meine Einstellung plötzlich und ich fing an, das Blut zu vergöttern. Ich hatte ihn leer getrunken und ich wollte mehr. Das Verlangen von vorhin überkam mich und schreckte mich auf. Wie vom Blitz getroffen sprintete ich los und entfernte mich immer schneller vom Tatort. Ich musste weg. Ich durfte die Kontrolle nicht verlieren!
Gehetzt lief ich durch den Wald, parallel an der Straße entlang und wechselte erst die Straßenseite, als ich mir sicher war, dass sie nicht mal meinen Schatten sehen könnten. Die Orientierung hatte ich längst verloren, trotzdem hörte ich nicht auf zu rennen. Ich fühlte mich lebendig und bereit zum Töten. Das Rennen machte mir keine Schwierigkeiten mehr, ich könnte sogar tagelang durchrennen, ohne schlafen zu müssen. Gewissensbisse waren längst verschwunden und obwohl ich alles hatte, wollte ich immer mehr. Obwohl ich wusste, dass ich die Grenze längst überschritten hatte, wollte ich mehr. Immer mehr, bis ich endlich satt wäre.
Eine Weile noch lief ich die dunklen Straßen entlang, begegnete einigen Autos. Zielstrebig rannte ich, bis flackernde Schilder zu sehen waren und ich mein Ziel erreicht hatte.
Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen betrat ich die Tankstelle und lief geradewegs auf die Kassiererin zu.
„Um Himmelswillen, was ist denn mit dir passiert? Soll ich einen Krankenwagen rufen?”, fragte sie rührend besorgt und kramte schon nach ihrem rettenden Handy. Erst jetzt erinnerte ich mich daran, wie ich wohl aussehen musste. Fragte mich, was sie wohl von mir dachte, als sie bemerkt hatte, dass all das Blut meinen Hals hinunter geronnen war. Dachte sie es wäre meins? Oder wusste sie, dass ich der Mörder war? Hatte sie von dem Unfall bereits gehört? Nein, ich denke nicht. Sie war besorgt, aber nicht ängstlich. Das würde sich schnell ändern. Sie sollte sich fürchten, sie sollte leiden, sie sollte pure Todesangst spüren. Ich würde sie töten, da war ich mir sicher. Es kümmerte mich nicht länger, dass ich Gesetzte oder Moralvorstellungen brach.
Ich wollte Leid sehen, für mein erlebtes Leid. Angst, für meine Angst und Schmerz, für meinen Schmerz. Vielleicht machten mich diese Gedanken und Handlungen zu einem schlechten Vampir, aber was interessierte mich das noch? Konnten Vampire überhaupt gut sein? Konnte überhaupt irgendjemand gut sein? Im Endeffekt war doch eh alles egal. Was war schon von Bedeutung? Es ist alles egal! Ich hatte viel zu lange auf Blut verzichtet, auf viel Blut, das mich alles vergessen ließ! Es war doch so einfach, wenn man nichts mehr fühlte, wenn man weniger fühlte. Alles wäre egal. Ich hätte diese beschissenen Schmerzen nicht mehr in meiner Brust. Ich wäre endlich wieder stark und nicht so verdammt abhängig. Von niemanden mehr! Ich wollte Macht. Ich wollte Rache, ich wollte Unabhängigkeit!
„Das wird nicht nötig sein“, murmelte ich bedrohlich und schritt auf sie zu. Ich konnte ihr Blut in den Adern pulsieren hören. Dieses vertraute Geräusch rief starke Glücksgefühle in mir hervor und hätte mich beinahe dazu gebracht, einen großen Fehler zu übersehen. In Sekundenschnelle lief ich auf die Überwachungskameras zu, zerstörte sie und stand mit einem Mal, wieder direkt vor der Frau, hinter dem Tresen.
Ich stand ihr nun so nah, dass ich ihren schnellen, nervösen Atem auf meiner Haut spüren und ihren rasenden Herzschlag hören konnte. Endlich war sie ängstlich geworden und rief in mir Vorfreude hervor. Angeberisch ließ ich meine furchterregendste Waffe hervortreten und brachte sie mit meinen Eckzähnen fast zur Ohnmacht.
Ehe sie blinzeln konnte hatte ich mir bereits ihr Handgelenk geschnappt und drang gewaltvoll in ihre Adern ein. Warmes Blut floss in meinen Mund. Doch anstatt mich zu betören, enttäuschte es mich. Es war frisch und es war die Blutgruppe, die ich liebte, aber es schmeckte trotzdem nicht. Was hatte das Blut dieses Hexers nur mit mir angestellt? Es war vielleicht nicht das beste Blut, aber es war Blut und damit Grund genug, um nicht aufhören zu wollen. Es würde mich endgültig sättigen.
Es dauerte nicht lange, bis sie keinen Mucks mehr von sich gab und kein Tropfen Blut noch in ihren Venen floss. Unachtsam warf ich ihren, nun wertlosen, Körper in eine Ecke und wollte verschwinden. Sie interessierte mich nicht mehr. Sie war nichts mehr wert. Sie war leer, aber ich immer noch nicht satt. Ich wollte mehr! Es war wie eine Droge, der ich nicht mehr entkommen konnte. Und ich wollte es auch nicht. Ich spürte wie ich unschlagbar stark und gefühllos wurde und das machte mir mehr Spaß, als ich jemals geglaubt hätte. Grinsend verließ ich das Geschäft und wollte verschwinden, weiter ziehen, doch da traf ich auf einen Mann, der seinen Wagen hier geparkt hatte und offensichtlich noch einiges besorgen wollte.
„Geschlossen“, zischte ich und zog die Tür gewaltvoll ran.
„Es ist halb Zehn, keine Tankstelle schließt um diese Uhrzeit!“
„Diese schon.“
„Ich brauche doch nur ein paar Kippen, das dauert nicht lange!“, erklärte er und stieß die Tür auf. Verwundert über seine Sturheit, musterte ich ihn einen Augenblick lang. Hatte er meine Erscheinung nicht wahrgenommen? Warum fiel ihm meine blutige Kleidung nicht auf? War er blind oder hatte er in der Dunkelheit nichts sehen können?
„Es ist verdammt noch mal geschlossen und ich denke es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen“, schrie ich nun energischer und machte mich größer, um mehr Respekt von ihm zu bekommen. Doch er zeigte sich weiterhin unbeeindruckt. Ignorant lief er in den Laden hinein und scherte sich nicht länger um meine Warnung. Das war sein Tod und mein Genuss. Ich musste ihm Manieren beibringen. Ich tat der Welt also eigentlich etwas Gutes. Es dauerte keine fünf Minuten, da gab es in der Tankstelle die nächste Leiche.
Grinsend schaltete ich das Licht aus und schloss die Tür hinter mir. Schlürfend wischte ich mir das Blut aus dem Gesicht und schrie in die Dunkelheit. Ich wollte nicht nach Hause laufen, also nahm ich seinen alten BMW Oldtimer und machte die Straßen unsicher. Ich war noch nie Auto gefahren und das war offensichtlich. Zu Beginn hatte ich Schwierigkeiten die Spur zu halten und in die richtigen Gänge zu schalten, doch schon bald wurde es besser. Im Auto roch es nach alten Socken und abgebrannter Zigarette. Hört sich vielleicht ekelhaft an, aber ich habe diesen Geruch noch lange mit Freiheit verbunden.
Ich fuhr in Schlangenlinien und bei manchen Kreuzungen würgte ich das Auto ab, aber das war nicht weiter schlimm. Irgendwann erkannte ich das Waldstück wieder, wo sie mich überfallen hatten und fuhr dort, ohne Rücksicht auf Verluste, hinein. Ich bretterte über den unebenen Boden und ließ das silberne Auto schließlich mitten im Wald stehen. Den Rest lief ich zu Fuß. Im Wald war es stockdunkel. Kein Licht brannte, aber das machte mir nichts. Ich konnte trotzdem bestens sehen. Alleine flitzte ich durch die Dunkelheit und genoss diese Einsamkeit und Freiheit. Unter normalen Umständen hätte ich mich wohl gefürchtet, aber heute Abend war ich unbesiegbar.
Schon bald sah ich mein Fahrrad, das umgedreht im Gebüsch lag. Und meine Tasche, die ich dort hatte liegen lassen müssen. Zum Glück hatte niemand meine Sachen gefunden. Mein Geld und das Handy waren noch in der Tasche. Neugierig schaltete ich es an. Tausend Anrufe und besorgte Nachrichten tauchten auf dem Display auf. Besonders Lucas hatte sich um mich gesorgt und mich mit über hundert Nachrichten vollgespamt. Selbst Leandro hatte einige Nachrichten und Anrufe hinterlassen, die jedoch alle nur aus rätselhaften Worten und gedankenverlorenem Stottern bestanden.
Nachdem ich sie mir beinahe alle durchgelesen und angehört hatte, schwang ich mich aufs Rad und trat den endgültigen Heimweg an. Eigentlich hatte ich einen Ausflug in die Stadt geplant, wollte noch einige unschuldige Seelen auslöschen, aber so langsam wurde ich ruhiger.
Zuhause angekommen lehnte ich mein Fahrrad gegen die Hauswand und lief vorsichtig auf unsere Haustür zu. Es war gerade mal 18 Uhr. Sie würden also nicht schlafen und wahrscheinlich besorgt im Wohnzimmer sitzen, nur um darauf zu warten, ein Lebenszeichen von mir zuhören. Ich hatte schon jetzt schlechte Laune, wenn ich daran dachte, wie besorgt sie mir in die Arme fallen würden. Erst besorgt und dann vorwurfsvoll.
„Ich werde gleich losfahren, wenn sie nicht endlich kommt!”, sagte Leandro aufgeregt und zog sich gerade eine Jacke über.
„Wird wohl nicht mehr nötig sein“, entgegnete ich und trat zu ihm auf die Treppe. Mit riesigen, erleichterten Augen starrte er mich an und wollte mich überschwänglich in seine Arme schließen. Ich allerdings wich zurück und trat ohne ein weiteres Wort in den Flur. Ja ich weiß, er hatte keine Schuld an dem was passiert war, trotzdem hatte er ein anderes Mädchen geküsst. Ich brauchte erst mal Abstand von ihm. Ich musste mir über einige Dinge im klaren werden. Und gerade genoss ich meine Überlegenheit. Er wusste immer noch nicht was mit ihm gewesen war und das wollte ich ausnutzen. Er sollte auch mal leiden. Er sollte sich auch mal beschissen fühlen.
„Gott sei Dank. Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Wo zum Henker warst du?”, fragte meine Mum erleichtert und drückte mich viel zu fest an sich. Seufzend befreite ich mich aus dieser Enge und zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.
„War noch kurz bei Lucas.“ Mit dieser Antwort wollte ich Leandro rasend vor Wut machen, eifersüchtig. Selbst, wenn er für den Kuss nichts konnte, hätte er von Laureen und Luna erzählen müssen. Er hätte mit mir reden müssen, weil man das einfach in einer Beziehung tut! Ja ich wollte ihn dafür bestrafen.
„Was habt ihr denn gemacht? Und wie siehst du überhaupt aus? Seid ihr über unschuldige Menschen hergefallen?“, fragte sie vorwurfsvoll und wich einen Schritt zurück. Es war eigenartig, wenn sie so von uns sprach. Natürlich wusste sie, dass ich ein Vampir war und mich von dem Blut anderer ernährte. Aber es war eigenartig diese Vermutungen von ihr zu hören.
„Nein, ich hatte unterwegs einfach nur Hunger.“
„Ach und da trinkst du einfach von Menschen, ohne mich um Erlaubnis zu fragen?“, mischte sich Leandro besserwisserisch ein und strafte mich ebenfalls mit vorwurfsvollen Blicken. Ihn um Erlaubnis fragen? Wo sind wir denn hier? Im Mittelalter oder was? Ich werde einen Teufel tun!
„Ich bin kein kleines Kind mehr, die Zeiten wo ich dich um Erlaubnis fragen sollte, sind schon lange vorbei, falls du es nicht mitbekommen hast.“
„Wie redest du mit mir?“
„So wie du es wohl verdient hast“, entgegnete meine Mutter plötzlich und rückte wieder ein Schritt an mich ran. Warum verteidigte sie mich plötzlich, wenn sie mir eben noch Vorwürfe gemacht hatte? Ob er ihr erzählt hatte, warum ich nicht nach Hause gekommen war, warum wir uns gestritten hatten?
„Wie auch immer, ich hab mir nur ein paar Blutbeutel aus dem Krankenhaus geborgt“, log ich.
„Geborgt also?“, fragte Leandro ungläubig.
„Ja und wenn wir dann mit dem Verhör fertig wären, würde ich gerne in mein Zimmer verschwinden“, entgegnete ich genervt und verzog mich dann nach oben.
Das Gefühl der Unbesiegbarkeit verschwand langsam und stattdessen machten sich heftige Kopfschmerzen in mir breit. Ich wurde müde und fiel in mein Bett, nachdem ich die blutverschmierten Klamotten ausgezogen hatte. Die Aufregung war verschwunden und langsam ließ auch die benebelnde Wirkung des Blutes nach. Erschöpft schlief ich schnell ein. Ohne über zu viele Dinge nachzudenken. Ich dachte tatsächlich, zum ersten Mal, an nichts. Ich lag einfach in meinem Bett und schlief ein. Warum hatte ich das nicht früher so gekonnt? Um halb acht, wachte ich jedoch wieder auf. Mit einem kurzen Anklopfen trat Leandro in mein Zimmer und wollte noch einige Erklärungen von mir bekommen.
„Was ist?“, fragte ich schlaftrunken und richtete mich langsam auf.
„Wie viel Blut hast du heute getrunken?“
„Keine Ahnung.“
„Alex, das ist wichtig“, drängte er aufgeregt und schloss endlich die Tür hinter sich. Einen Moment lang lagen seine Augen auf meinem Bett und er überlegte wohl, ob er sich zu mir setzten sollte, doch als er meine finstere Miene bemerkte, ließ er es bleiben. Er sollte sich nicht zu mir setzten, gerade wollte ich ihn nicht mal in meiner Nähe haben. Ich müsste ihm erzählen, dass ich nicht sauer auf ihn war, weil der Kuss eben nicht seine Schuld gewesen war, aber dann würde ich lügen. Er würde nicht verstehen, warum ich ihm schon wieder nicht vertrauen könnte, obwohl er an dem Kuss keine Schuld hatte. Es war nicht fair, weder für ihn, noch für mich, aber ich konnte es nicht ändern. Was sollte ich tun? Diese Gedanken existierten nun mal und dieses Unbehagen ihm gegenüber, wollte einfach nicht verschwinden.
Ich wusste nicht, wie ich ihn wieder so mögen sollte, wie ich es mal getan hatte. Unsere Beziehung war betrübt. Und ich hatte keine Ahnung, wie wir das wieder hinbiegen sollten. Ich wollte ihm ja nichts erzählen. Ich wollte nicht mit ihm reden, ich wollte nicht mal mehr in einem Raum mit ihm sein. Ich hatte irgendwie Angst vor ihm. Dieser Nachmittag hatte sich trotz dieser Entführung, so frei angefühlt. Ich war frei von ihm gewesen, von den Gefühlen zu ihm. Ich hatte sie für einen Moment vergessen können, vergessen können, dass ich ihn liebte. Und das war irgendwie einfach gewesen. Ich wollte diese Abhängigkeit nicht mehr, ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich ihn noch lieben wollte...
„Ein bisschen eben.“
„Was heißt ein bisschen?“
„Drei.“
„Blutbeutel?“ Kurz zögerte ich, doch im Enddefekt blieb mir nichts anderes übrig, als beschämt den Kopf zu schütteln. Nachdem ich etwas geschlafen hatte, war mein benebeltes Gehirn wieder klarer geworden, trotzdem begriff ich immer noch nicht das Ausmaß meiner Taten.
„Menschen?“, fragte er vorsichtig und als ich seufzend zu Nicken anfing, weiteten sich seine Augen und er begann den Mund zu öffnen, als wolle er schreien, doch er konnte den Raum nur noch mit Stille erfüllen.
„Ich hätte es wohl lassen sollen“, gab ich bedrückt zu.
„Ja, das hättest du wohl. Kein Wunder, dass du so mies gelaunt bist.“
„Was soll das heißen?“
„Du bist in einem Rausch. Warum bist du hier und nicht in der Stadt? Du kannst unmöglich deine Beherrschung behalten haben.“
„Anscheinend schon. Ich stecke eben voller Überraschungen.“ Es war vielleicht wirklich eigenartig, dass ich trotz dieses Verlangens einen halbwegs klaren Verstand behalten hatte.
„Das beruhigt mich keinesfalls. Wenn du über die Stränge schlägst, verfällst du in einen Rausch, der dich nicht mehr klar denken lässt. Das Blut macht die abhängig. Du weißt, wie du die letzten Male warst, als hättest du zu viel Alkohol getrunken. Wo ist diese Wirkung also jetzt? Das ist nicht möglich.“
„Ja und?“, fragte ich gleichgültig und rollte seufzend mit den Augen.
„Du kannst nicht von alleine aufgehört haben. Das ist verdammt noch mal nicht möglich!“ War er etwa eifersüchtig? Wieso freute er sich nicht einfach darüber? Ich meine, ich konnte Schlimmeres verhindern.
„Hat dir jemand geholfen? War Lucas mit dir in der Stadt und hat dich davon abgehalten?“
„Nein, Lucas ist mir nicht mal in die Stadt gefolgt.“
„Das macht keinen Sinn!“
„Willst du sagen, dass ich lüge?“
„Nein, warum solltest du? Mich plagen nur andere Befürchtungen, deren Auswirkungen fatal wären.“
„Aha.“
„Ich weiß, dass du aufhören kannst, warum hast du es nicht getan? Du kennst die Grenze, um Menschen nicht töten zu müssen. Warum hast du dich über sie hinweg gesetzt?“
„Du weißt doch gar nicht, ob ich sie umgebracht habe.“
„Schon alleine diese Aussage verrät, dass du es getan hast.“ Wieder zuckte ich nur mit den Schultern, weil ich einfach nicht wusste was er von mir hören wollte. Und immer noch, war mir vieles, viel zu egal.
„War es Menschenblut?“, fragte er leise und blickte mir mit seinen eindringlichen Augen entgegen. Wieder zögerte ich. Er sollte nicht die Wahrheit erfahren, jedenfalls nicht heute. Es wurde mir alles zu viel und ich hatte keine Lust erklären zu müssen von wem ich getrunken hatte und wie ich in diese Situation überhaupt reingeraten war. Außerdem hätte ich gleich dazusagen müssen, wie das mit ihm und Luna wirklich gelaufen ist. Und das wollte ich definitiv nicht.
„Wenn du wieder mal zu stur sein solltest, dann verzichte ich meinetwegen auch auf eine Erklärung. Ich will nur wissen, was für Blut es war.“
„Hexenblut.“ Erschrocken schreckte er auf, starrte mich an, als würde er eine Ahnung haben. Und diese Ahnung schien nichts Gutes zu verheißen. Dieser Blick gefiel mir nicht, denn er hatte, wie schon so oft, lauter Vorwürfe in sich.
„Wie zur Hölle kommst du an Hexenblut?“
„Egal, du wolltest nicht nachfragen. Außerdem würde es an der Situation nichts ändern.“
„Hm“, brummte er unzufrieden und steuerte auf die Tür zu.
„Macht es denn einen Unterschied?“, fragte ich vorsichtig.
„Natürlich tut es das. Es ist um Längen kraftvoller und begehrenswerter. Beinahe vergleichbar mit Kinderblut.“
„Verstehe.“
„Ich aber nicht, wie bist du dem entkommen? Du müsstest immer noch da Draußen sein und nach Blut geiern. Du müsstest vollkommen betrunken sein, warum bist du es nicht?“
„So langsam bekomme ich das Gefühl, du würdest dir wünschen, dass ich jetzt abhängig weiter morden würde.“
„Das ist Schwachsinn und das weißt du auch. Es ist nur,... egal in welche Richtungen ich denke, es macht einfach keinen Sinn. Ich könnte, wenn ich einmal angefangen würde, auch nicht mehr widerstehen.“
„Ich kann mich eben beherrschen und wenn du jetzt endlich den Raum verlassen würdest, wäre ich dir sehr verbunden.“
„Jetzt tu bloß nicht so, als wäre es ein Kinderspiel gewesen.“
„Wenn es dir dann besser geht? Was erwartest du denn von mir? Soll ich dir die Ohren voll heulen, dass mein Leben so schrecklich ist?“, fragte ich unfreundlich und zog dabei beide Augenbrauen übertrieben weit nach oben. Enttäuscht schüttelte er den Kopf und verließ den Raum.
„Und schreib den anderen, dass es dir gut geht, sie haben sich alle unheimliche Sorgen gemacht“, rief er noch durch die Tür hindurch und verschwand dann nach unten. Das tat ich auch. Ich schrieb allen schnell zurück, machte dann aber mein Handy wieder aus, damit ich nicht auf kommende Fragen antworten müsste.
Ich seufzte. Mein Kopf war leer und das fing ich an zu lieben. Es war so angenehm keine Gedanken zu haben. Ich hatte nichts, worüber ich mir Sorgen machen musste. Nichts! Ich hatte eine Pause, so wie ich sie gewollt hatte und ich liebte sie. Ich wollte nie wieder aus dieser Pause rauskommen. Es war doch irgendwie alles perfekt. Ich war zuhause, ich war am Leben und ich hatte mich irgendwie doch kontrollieren können. Wie auch immer ich das geschafft hatte. Ich war Leandro überlegen und zum ersten Mal, war ich das auch emotional. Mir war es plötzlich egal, was mit uns passieren würde. Er war mir irgendwie egal und das war die größte Erleichterung, die ich je verspürt hatte.
„Wo ist mein Blut?“, hauchte mir Charlotte plötzlich ins Ohr und stellte sich bestimmend vor mein Bett.
„Vergessen.“
„Vergessen? Wir haben einen Deal, halt dich dran und besorge mir jetzt mein Blut!“, schrie sie wütend und baute sich bedrohlich auf. Eigentlich war sie harmloser, als sie tat. Ich wusste mittlerweile ganz gut, wie ich mit ihrer Laune umgehen sollte und deshalb machte sie mir auch keine Angst mehr.
„Ist mir ziemlich egal gerade.“
„Egal?“, fragte sie drohend und ohne, dass sie es ausgesprochen hatte, war mir klar, dass gleich die Bedrohung meiner Familie folgen würde, wenn ich nicht einlenken würde.
„Heute hat sich nichts ergeben. Ich frage Lucas morgen nach doppelter Ration.“
„Morgen wird mir nicht reichen.“
„Das ist mir herzlich egal, reiß dich einfach zusammen!“
„Das sagt sich vielleicht so einfach, wenn man seinen täglichen Genuss bereits mehr, als gedeckt hat“, zischte sie empört und starrte meine blutverschmierten Sacken, auf dem Boden, an.
„Also heute ist echt nicht der Tag, an dem du mir auf die Nerven gehen kannst! Ich wurde entführt und meine einzige Chance war es, ihr Blut zu trinken.“ Nickend senkte sie ihre bedrohlichen Blicke und schwieg für einen Moment.
„Sorry, das Blut macht mich nur etwas nervös... und aggressiv“, gab sie schließlich zu und kam wieder einen Schritt auf mich zu.
„Schon gut, das macht es mich auch. Ich werde Morgen bei Lucas vorbeischauen und etwas für dich holen, versprochen.“ Sie nickte mir noch kurz zu, ehe sie verschwand. Seufzend ließ ich mich auf die Kissen fallen und starrte die schiefe Decke an. Ich fühlte mich dreckig, also ging ich duschen und warf die schmutzigen Klamotten in die Wäsche. Mein Bett bezog ich auch neu, da ich vorhin beim Schlafen, einige Blutflecken in der hellen Bettwäsche hinterlassen hatte. Anschließend verkroch ich mich wieder im Zimmer und sah mir eine Serie an.
Schnell war es nach Mitternacht und ich wurde wieder müde. Erschöpft schaltete ich das Licht aus, kuschelte mich unter die warme Decke und schloss die Augen. Wo war die Energie von vorhin? Wieso war ich plötzlich so ruhig und gar nicht mehr aufgekratzt? Merkwürdig war das schon.
Ich schlief schnell ein, doch wurde ich wieder durch einen lauten Rums geweckt. Eigentlich wollte ich weiterschlafen, als niemand in mein Zimmer gekommen war, doch beim genaueren Hinsehen bemerkte ich, dass ich plötzlich gar nicht mehr in meinem Zimmer lag. Vorsichtig stand ich auf und trat in die Mitte des Raumes.
Der Raum war groß und leer. Keine Fenster, keine Möbel, keine Deko. Selbst mein Bett, in dem ich eben noch gelegen hatte, war längst verschwunden. Um mich war es dunkel. Nur dieses längliche Ding, auf dem Bode, vor mir, wurde durch ein kleines Laternenlicht angestrahlt. Zögernd lief ich auf den Sarg zu und wagte einen Blick in ihn hinein. Wieder erwartend war er nicht leer und versetzte mich damit in Schrecken.
Dunkle Haare, markante Gesichtszüge, dünne, knochige Hände. Ein breit gebauter Körper, kirschrote Lippen und bleiche Haut. Er war unverwechselbar. Einst so mächtig und jetzt? Ungefährlich nutzlos. Für einen kurzen Moment genoss ich es, den leblosen Körper des
Grafen´s anzustarren. Doch noch in der nächsten Sekunde durchfuhr ein kräftiger Ruck seinen Körper und schließlich öffnete er bedrohlich die Augen. Blutdurstige Augen blickten mir direkt entgegen und wollten mich verzehren. Seine eisigen Klauen griffen nach meinen Handgelenken und zogen mich nun viel zu nah an ihn heran. Angst durchströmte mit einem Mal meinen Körper. Obwohl er meine Handgelenke fest umklammerte, zitterten meine Hände. Sie und mein ganzer Körper. Mein Atem stockte und ich spürte, wie ich steif vor Angst wurde. Langsam richtete er seinen Oberkörper auf, zog mich immer näher zu sich ran und hauchte mir mit seinem ekelerregendem Mundgeruch, entgegen:
„Es ist noch nicht vorbei!“ Ein fieses Grinsen umspielte seine vertrockneten Lippen. Seine eiskalten, leblosen Augen starrten in meine und versuchten meine Seele aufzufressen. Er spürte meine Angst und das machte ihn noch gefährlicher. Er würde mich mit sich nehmen. Er würde mich gefangen halten, für immer. Bis er mich umbringen würde. Er wollte mich umbringen! Ich sah meinem Mörder direkt in die Augen!