Es begann vor einigen Wochen und verschleppte sich zu mehreren Monaten, die Geschichte des Jungen mit dem Regenschirm. Doch ich sollte die Geschichte von Anfang an erzählen. Ich saß an meinem Schreibtisch mit Blick auf die Straße. Drei Stockwerke trennen mich von dem befahreren Asphalt. In der Stadt, wo mich das Studium hin verschlagen hat, regnet es selten, wirklich selten, aber ab und an regnet es auch hier. So regnete es an diesem Tag, als ich ihn zum ersten Mal sah: Den Jungen mit dem Regenschirm.
Es war ein ruhiger Tag gewesen, ich war früh von der Uni nach Hause zurück gekommen und daher für mich allein in der Wohnung. Wie so oft nutzte ich die Zeit um an meinem Laptop Wikipedia-Artikel und You-Tube-Videos zu konsumieren. Ein Mix aus Lernen und Ablenkung. Manchmal geschieht es, das in Phasen der Ablenkung meine Augen zum Fenster wandern, dass Glas durchdringen und die Straße unten beobachten. Schon seit einer Stunde prasselte die Symphonie der Tropfen auf Bürgersteig, Autos und die Menschen auf der Straße. Pfützen bildeten sich, Menschen beeilten sich nach Hause oder in den nahegelegenen Penny zu kommen. Die Autos fuhren mit Licht und die dunklen Wolken am Himmel, zeugten davon, dass der Regen heute die Sonne wohl nicht mehr frei geben würde. So blicke ich von meinem Sitzplatz aus in das Treiben, plötzlich wird mir eine Person bewusst, die in der Hektik völlig fehl platziert scheint. Ein kleiner Junge steht unter seinem Schirm bewegungslos im Dauerregen. Seinen Kopf, verborgen in der Kapuze seines grauen Parkers, hat er Richtung des Bodens gerichtet. Schaut er in eine der zahllosen Pfützen?, frage ich mich und merke wie mein Geist wieder die Aufmerksamkeit Richtung Photosynthese-Pigmente lenkt. Der Artikel ist lang und man muss oft grübeln, was man unter den Ausführungen des Autors zu Verstehen hat, doch irgendwann ist der letzte Punkt erreicht. Ein prüfender Blick aus dem Fenster bestätigt mir, was ich die ganze Zeit hörte: Es regnete noch immer. Ich will mich an den nächsten Artikel setzen, als meine Augen schon wieder den Jungen mit dem grauen Schirm erblicken. Er steht noch immer an den Pfützen und schaut tief versunken hinein. Menschen gehen an ihm vorbei, Autos bremsen scharf in seiner Nähe, doch er rührt sich nicht. Der Junge starrt weiterhin in die Pfütze. Wer ist dieser Junge?, frage ich mich ohne eine Antwort zu finden. Nur bemerke ich das irgendetwas an ihm anders ist, anders als bei den anderen sieben Milliarden Menschen, oder dem Bruchteil davon der mir begegnet. Er erscheint mir vertraut und das obwohl ich ihn nie gesehen habe. Und irgendwas an ihm ist so einzigartig, so völlig gegen die Natur, dass seine Erscheinung mir ganz und gar sonderbar erscheint. Ich mustere ihn von meinem Adlerhorst. Wandere von nassen Schuhen zu grauen Hosen, welche in einem grauen Parker verschwinden. Betrachte den Schirm, der so grau ist wie die Hand die ihn hält. Grau?, Schlagartig wird mir bewusst, dass alles an diesem Jungen grau ist, selbst seine Haut und alles was im Schatten seines Schirmes liegt. Als mich die Erkenntnis ereilt, klopft es an meine Tür. Ich drehe mich um, meine Mitbewohnerin fragt ob wir morgen in die Mensa wollen. Das Gespräch ist kurz, ich gehe wieder zu meinem Sitzplatz, schaue zum Fenster hinaus: Der Junge ist verschwunden.
Seit jeher sehe ich ihn immer wieder, den kleinen grauen Jungen mit seinem grauen Schirm. Immer dann wenn die Sonne hinter regengrauen Wolken verschwindet. Er schaut stets traurig Richtung Boden und wenn es regnet in die Pfütze zu seinen Füßen. Jedes Mal wenn ich hinunter gehe um ihn anzusprechen oder im Regen auf ihn warte, ist er verschwunden. Nur wenn ich an meinem Platz am Schreibtisch sitze, sehe ich ihn: Den Jungen mit dem Regenschirm.
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21.05.2017 © Felix Hartmann