Nach außen hin den Anschein gebend, äußerst entspannt zu sein, lehnte Henry an der Tür des Wagens. Er hatte sich die Sonnenbrille auf die Nase geschoben, da die Aprilsonne mit einiger Stärke auf seine dunklen Haare niederschien und ihm in den Augen brannte.
Innerlich war er jedoch bereits ungeduldig. Garrett machte immer so eine Hektik, wenn es irgendwohin gehen sollte und am Ende war er es, der trödelte und seinen Lebensgefährten warten ließ.
»Okay, okay, du kannst gleich los meckern«, lachte der junge Mann von der Haustür aus und zog diese hinter sich ins Schloss. Er hatte sich eine Decke unter den Arm geklemmt, nach der er geschlagene zwanzig Minuten gesucht hatte.
»Du weißt, dass wir mehr als eine Wolldecke im Haus haben. Jede andere hätte für ein Picknick auch gereicht«, murrte Henry und schloss den Kofferraum des Wagens, in den Garrett ihre Sachen gestellt hatte.
Dieser lächelte, lehnte sich an den grummeligen Mann und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Nope, hätte sie nicht. Diese hier haben meine Eltern und ich immer benutzt, wenn wir früher, als ich noch ein Kind war, irgendwohin gefahren sind. Ich verbinde damit Erinnerungen.«
Henry nickte nur und deutete Garrett an, endlich einzusteigen. »Lass’ uns fahren, sonst ist der schöne Tag um, ehe wir zu unserem Frühjahrspicknick gekommen sind.«
Der junge Mann kicherte vor sich hin. »Es ist noch nicht mal Neun ...«
»Auch das noch an einem Samstag.«
»Fahr, Meckerfritze«, Garrett lachte, denn er kannte dieses Genörgel von seinem Liebsten bereits zu lange, um es ihm noch übel zu nehmen. Er wusste, dass Henry all das nie so meinte. Garrett wusste jedoch auch, dass der Vampir dazu neigte, sich im Haus zu verstecken und andere Menschen zu meiden. Das war dem Blonden die meiste Zeit auch recht, denn auch er war lieber mit Henry allein, ohne all die dämlichen Blicke der Kleinstädter, die, obwohl es inzwischen hinreichend bekannt war, dass ‚der Pinkerton-Junge’ mit einem Mann zusammen lebte, noch immer darüber tratschten. In Gatwick, wo Garrett geboren und aufgewachsen war, war Homosexualität noch immer etwas Außergewöhnliches, etwas, wonach man sich umdrehte und worüber man sich das Maul zerriss.
Henry hatte lange Jahre, Jahrhunderte, im Wald über der Stadt gelebt, verborgen in einem vergessenen Haus auf einer einsamen Lichtung. Wenn die Einwohner wüssten, wer der Mann an Garretts Seite war, was er war, würden sie sicher nicht mehr lästern. Erst Recht nicht, wenn sie wüssten, dass es Henry gewesen war, der die Stadt vor großem Unheil bewahrt hatte.
Oder aber, sie würden mit Fackeln anrücken und Garretts Elternhaus, in dem die beiden zusammen lebten, in Brand stecken.
Der junge Mann dachte über so etwas allerdings kaum nach. Es war müßig. Es gab nur eine Person in Gatwick außer ihm, die wusste, was Henry wirklich war. Kyle, ehemaliger Freund und später Erzfeind von Garrett, würde sich hingegen eher einen Fuß abhacken, als nur ein Flüstern darüber zu verlieren. Denn er hatte panische Angst, dass der Vampir ihn dafür töten würde. Dies hatte der Kyle einst angedroht und keinen Zweifel daran gelassen, dass er es auch tun würde.
Henry startete den Wagen und lenkte ihn geschickt durch die engen Straßen der kleinen Stadt, hinaus ins Feld, in das grüne Tal, das Gatwick wie ein paar Arme umschloss. Sie hatten eine Weile Fahrt vor sich, zu einem See, zu dem Garrett bereits mit seinen Eltern gefahren war, wenn es das englische Wetter zugelassen hatte. Seit dem Tod seiner Mutter und seinem Umzug nach London vor annähernd acht Jahren, war er nicht mehr dort gewesen und er hoffte, dass sich nicht zu viel verändert hatte.
Und wenn doch, konnten sie ihr Picknick auch im Wagen abhalten. Es brauchte keine romantische Umgebung für sie. Sie beide waren einander genug.
»Es wird richtig warm werden«, murmelte der Vampir mit prüfendem Blick in den Himmel. »Meine Haut kribbelt.«
»Na ist doch besser als Regen, oder?«, schmunzelte Garrett. Er wusste, dass sein Liebster dann müde wie eine Katze werden würde. Henry nickte und der junge Mann schaltete das Radio ein, während er seine Augen über die veränderten und doch vertrauten Straßen wandern ließ, die an dem Wagen vorbeizogen.
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Der See lag verlassen da, als der Vampir das Auto einen unebenen Schotterweg hinab lenkte. Das Wasser glitzerte und durch das geöffnete Fenster konnte man es bereits riechen. Das weckte angenehme Erinnerungen in Garrett und er hüpfte aufgeregt auf seinem Sitz auf und ab.
»Bleiben wir besser hier stehen, ich weiß nicht, wie der Grund weiter unten ist. Nicht dass wir stecken bleiben ...«
Garrett lächelte. »Wozu habe ich denn meinen starken Blutsauger dabei?«
»Ha Ha. Komm, aussteigen.« Henry schmunzelte, fuhr an den Rand des Weges, stoppte und zog die Handbremse an. Das Auto stand nun auf einem trockenen Grünstreifen.
»Ich glaub, mein Vater blieb immer an der Straße stehen. Aber das war ihm auch immer zu unsicher ... Hier ist es gut. Wenn wir hier weitergehen, müsste eine Wiese kommen. Ich weiß noch, dass es hier megaalte Bäume gab, auf die ich geklettert bin. Einmal bin ich runtergefallen und meine Mutter hat mich zusammengeschissen ...« Der junge Mann gluckste und reichte dem Vampir den Picknickkorb und eine kleine Kühltasche, während er selbst die Decke unter den Arm nahm und das kleine batteriebetriebene Radio herauszog.
»Auf dem Grund des Klosters gab es eine Eiche, die war schon damals bestimmt dreihundert Jahre alt. Ich wäre da auch nur zu gern drauf herumgeklettert, aber ich durfte nicht. Das war verboten und hätte man mich erwischt, hätte ich die Gerte zu spüren bekommen ...«
»Wäre nicht das erste Mal gewesen, hm?«, entgegnete Garrett, der die schlimmen Geschichten aus der Vergangenheit Henrys kannte.
»Nein ... ich frage mich, ob der Baum noch steht ...«, sinnierte er und betätigte die automatische Verriegelung, nachdem der Kofferraum wieder geschlossen war.
»Vielleicht sollten wir mal eine Reise nach Irland machen. Ich war noch nie da ... Dann könnte man sich schlau machen.«
Die beiden gingen unter knirschenden Schritten den Schotterweg gen See entlang. Henry dachte über diese Möglichkeit nach. Er war seit bestimmt zweihundert Jahren nicht mehr in seiner Heimat gewesen.
»Also ich denke, zumindest das Kloster haben sie wohl nicht mehr genutzt.« Der Vampir guckte einen Moment böse und lächelte finster. Er hatte es, bevor er es verlassen hatte, bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
»Meinst du?«
»Keine Ahnung. Ist ja auch egal. Heute würde es vermutlich ohnehin nur noch eine Ruine sein, selbst wenn die Kirche es nach dem Brand saniert hätte ... derartige Trutzburgen kann doch heute keiner mehr unterhalten und die Kirche steckt kein Geld in solche Millionengräber.«
»Schade eigentlich. Gäbe bestimmt genug Touristen, die das sehen wollen würden.«
Der Vampir zuckte die Schultern. »Irland hat mehr zu bieten als Burgen und Klöster.«
»Ja ... dich.«
Henry lachte und stoppte auf einem trockenen Grasstreifen, nur wenige Meter von einem flachen Ufer entfernt, neben einem Baum, der etwas Schatten spendete. Der milde Wind, der über den See glitt, ließ das Wasser leise plätschernd über den Streifen Sand lecken.
»Wir könnten im Sommer hier schwimmen fahren ...«, meinte er und stellte die Sachen ab.
»Hier gibt es Fische. Hechte und so. Ich weiß nicht, ob ich hier baden gehen wollen würde.« Garrett blickte skeptisch auf den dunkelgrünen See, was den Vampir lachen ließ. Der blonde Mann mochte keine geschlossenen Gewässer mit dunklem Wasser und ungewissem tierischen Inhalt.
»Du hast einen Horrorfilm zu viel gesehen, mein Liebling ...«
Garrett funkelte den Dunkelhaarigen an und breitete die Decke aus. »Schatz ... nur weil ich Verfolgungswahn habe, heißt das nicht, dass mir keiner folgt!«
Henry lachte wieder, nickte und hockte sich auf das Lager. »Aber natürlich. Ich passe schon auf dich auf.«
Der junge Mann schürzte grinsend die Lippen, kroch auf den Vampir zu und drückte sie auf dessen Mund. »Das weiß ich doch.«
»Lass das, sonst bekommen die Fische hier gleich noch was anderes zu sehen«, knurrte Henry mit einem Grinsen.
»Och ... der Tag ist ja noch jung, nicht? Also ich wäre erst mal für Frühstück.« Garrett öffnete den alten Picknickkorb, ein Überbleibsel von seiner Mutter, und nahm Teller und Becher heraus. Sie hatten noch am Abend einiges für diesen Ausflug vorbereitet und so hatten sie neben einer Schüssel mit Salat auch Würstchen, gekochte Eier und mehrere, erst diesen Morgen frisch zubereitete, Sandwiches mit Eiersalat, Schinken, Käse, Thunfisch und Mayonnaise. Hungrig durch die Wärme und die Anfahrt lehnten sie sich an den Baum, der neben ihrem Lager stand und bedienten sich.
»Der Duft hier ist sehr angenehm«, murmelte Henry schließlich, mit geschlossenen Augen, und atmete tief ein. Der Geruch des Wassers, der feuchten Erde und des Grases lag schwer wie eine Glocke über diesem Ort. Man würde es als unangenehm empfinden können, wenn man so etwas nicht mochte. Garrett, der sich lang gemacht und seinen Kopf in den Schoß des Vampirs gelegt hatte, nickte nur.
»Ich könnte glatt einschlafen«, der junge Mann richtete sich murrend auf, »doch zuerst muss die Natur befriedigt werden. Ich geh mal pinkeln.«
»Geh’ mir unterwegs nicht verloren«, murmelte der Vampir bereits halb eingenickt, was Garrett lachen ließ.
»Nachdem ich geblutet habe, um dich zu bekommen? Sicher nicht.« Henry gluckste und der junge Mann stapfte durch das Gras, eine Anhöhe hoch. Dort oben standen einige der alten Bäume, auf denen er als Kind herumgeklettert war und er wollte sich diese, nach der Verrichtung der wichtigen kleinen Nebensache, noch einmal ansehen.
Entspannt überblickte Garrett vom Hügel aus den See und konnte erkennen, dass der Vampir offenbar tatsächlich eingeschlafen war. Wärme und Regen waren für jemanden wie ihn natürliche Schlafmittel. Der junge Mann schmunzelte und wandte sich auf die andere Seite der Anhöhe, den Bäumen zu, die zu seiner Freude noch immer so erhalten waren wie früher. Doch heute, da er selbst erwachsen war, wirkten sie kleiner, weniger mächtig. Er ging darauf zu und strich mit den Fingern über die Rinde des Baumes, von dem er einmal heruntergefallen war. Er hatte sich damals das Knie aufgeschürft und ziemlich geheult - aber mehr deswegen, weil seine Mutter geschimpft hatte, nicht weil es weh getan hätte. Zwanzig Jahre waren seither vergangen und der junge Mann konnte nur schwer glauben, dass es so war. Er fühlte sich nicht so alt. Schmunzelnd musste er daran denken, dass diese Zeitspanne für Henry das war, was für Garrett vielleicht ein Monat war. Doch diese Sache, die Zeit, das war etwas, was dem jungen Mann Angst machte, deswegen dachte er nicht gern darüber nach. Die Tatsache, dass die Momente, die er so wertschätzte, für seinen Partner so schnell vergehen mochten, dass er sie gar nicht realisierte. Natürlich wusste er, dass es nicht so war und dass Henry ihn ebenso genoss wie Garrett ihn, doch manchmal waren sie noch da, die Zweifel, die er schon als Jugendlicher gehabt hatte. Die Frage, was dieser mächtige, vielleicht sogar der mächtigste, Vampir ausgerechnet an ihm fand, warum er sich gerade Garrett ausgesucht hatte, um sein Leben mit ihm zu teilen. Die Antwort, die Henry ihm geben würde, war denkbar einfach: Sie liebten einander. So sehr, dass es erschreckte, dass es weh tat und so glücklich machte, dass man meinen könnte, daran sterben zu müssen. Der junge Mann lächelte in die Frühlingssonne und wollte zu seinem Liebsten zurückkehren.
Zu seinem Pech übersah er allerdings eine durch Gras verdeckte Baumwurzel, blieb hängen und verlor das Gleichgewicht. Erschrocken stürzte er und kullerte ungebremst den Hang hinunter, wobei er sich an einem glatt geschliffenen Stein leicht den Kopf anschlug. Er stöhnte und wollte sich aufrichten, doch der Schmerz hielt ihn unten. Ihm wurde schlecht und er hatte das Gefühl, dass sich alles um ihn herum drehen würde. Der Boden unter ihm begann zu wanken und ehe er sich versah, war er in eine lähmende, schwere und schwarze Ohnmacht gefallen.