Unruhig wache ich auf. Irgendwie muss ich wohl etwas Schlechtes geträumt haben. Verständlich, ich bin mal wieder beim Musik hören eingeschlafen.
Ein Blick auf meinen Mp3-player reicht, um zu sehen, dass der Akku alle ist. Zum Glück habe ich zwei. Draußen geht gerade die Sonne auf, mein Wecker dürfte dementsprechend in wenigen Minuten klingeln. Ich nehme mein Handy vom Nachttisch und schalte den Wecker aus, ich bin 3 Minuten zu früh wach geworden. Langsam stehe ich auf, es fröstelt mich. Morgens habe ich immer besonders niedrigen Blutdruck. Zuerst ziehe ich mir meine Uniform an und schlurfe danach zu dem Bad, gegenüber von meinem Zimmer.
Dadurch, dass wir mal zu fünft in diesem Haus gewohnt haben, haben meine Schwester und ich jetzt unser eigenes Bad. Mama und Papa teilen sich das Bad unten. Marie steht immer etwa eine viertel Stunde nach mir auf, dass reicht mir auch um im Bad fertig zu sein. Entgegen Marie, die brauch immer über eine halbe Stunde. Sie ist auch der eigentliche Grund, warum ich überhaupt so früh aufstehe. Nach ihr hätte ich nicht mehr genug Zeit und sie weigert sich noch früher aufstehen. Also stehe ich einfach früher auf und esse dann schon mal Frühstück, dafür hat Marie immer keine Zeit mehr.
Mein Essen für die Schule steht ja schon fest, also brauche ich mir darüber auch keine Sorgen mehr zu machen. Ich muss es nur noch in eine Box packen und dann in meinen Rucksack. Ich bin heute Morgen überraschend schnell fertig, vielleicht ist es eine gute Idee mir Rührei zum Essen zu machen. Als ich in die Küche gehe, sehe ich, dass ein Zettel von Mama auf dem Tisch liegt.
`Besuche heute Nachmittag meine Eltern, komme daher
erst spät zurück. Denkt dran den Roller zu nehmen und
passt ja auf euch auf! Außerdem hat euer Vater angerufen,
es wäre lieb, wenn einer von euch ihm Klamotten und essen
vorbeibringen könnte. Hab die Sachen schon in eine Tasche gestopft. Hab euch lieb, Mama. ´ Das werde wohl ich übernehmen, Marie hat sicherlich keine Zeit. Außerdem weiß ich nicht einmal wann sie Schulschluss hat.
Schnell schreibe ich Papa eine Nachricht, nicht, dass ich wirklich glaube, dass er sie liest. Ich höre, wie Marie oben rumläuft, sie scheint gerade aufgestanden zu sein. Bei ihr kann man immer jeden einzelnen Schritt hören. Unser Haus ist nicht unbedingt darauf ausgelegt Schalldicht zu sein und um ehrlich zu sein, ist sie auch nicht unbedingt der leiseste Mensch. Ich glaube nicht einmal, dass sie sich ihrer Lautstärke bewusst ist. Am lustigsten ist es immer, wenn ich unten bin und frühstücken möchte und von oben herunter schallt, wie sie unter der Dusche singt. Und ganz ehrlich, so gut sie in anderen Dingen sein mag, singen kann sie wirklich nicht.
Ich schmunzle bei den Gedanken daran, man kann es eher als jaulen bezeichnen als singen. Ich schlage mir schnell zwei Eier auf und mache mir Rührei, danach esse ich es gemütlich auf. Ein Blick auf die Uhr und ich stutze, ich habe noch 15 Minuten Zeit. Eigentlich kann ich die Zeit auch sinnvoll nutzen und schon einmal den Roller aus der Garage holen. Der Schlüssel hängt wie immer neben der Eingangstür. Ich schnappe ihn mir und gehe dann zur Garage. Es ist schon Ewigkeiten her, dass der Roller benutzt wurde.
Meine Eltern hatten ihn vor einigen Jahren für meinen Bruder gekauft, da er damit immer zu seiner Uni fahren musste. Mittlerweile hat er natürlich ein Auto und ein nicht gerade billiges dazu. Marie und ich haben den Roller bisher nie gebraucht. Meine alte Schule konnte ich immer mit dem Bus erreichen und normalerweise ist der Weg zu unserer jetzigen Schule auch nicht so lang, dass man nicht zu Fuß gehen kann. Ich öffne das Garagentor und rolle den Roller nach draußen.
Danach schnappe ich mir ein altes Tuch und wische den gröbsten Staub weg. Dabei muss ich immer wieder niesen. Ja, der wurde wirklich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr bewegt. Plötzlich fällt mir auf, das die Helme nicht dort liegen, wo sie sonst liegen. Irgendjemand hatte sie in eine Ecke gelegt, am besten ich wische sie auch aus. Genau wie der Roller sind auch sie völlig verstaubt. Dabei vergesse ich ganz die Zeit und realisiere das erst, als Marie neben mir steht und mich fragend ansieht. „Was machst du denn da?“
„Hast du Mamas Nachricht nicht gelesen? Wir sollen den Roller nehmen bis sie den Mörder geschnappt haben.“ Maria nickt nachdenklich. „Ja, das klingt nach einem guten Plan. Aber ist das für dich in Ordnung? Es werden schließlich alle sehen, wie wir zusammen zur Schule kommen.“ Daran habe ich gar nicht gedacht, aber unsere Sicherheit geht vor. „Ja, anders geht es wohl nicht. Ich hol schnell meine Sachen dann können wir los.“ Marie nickt fröhlich und macht sich daran ihren Helm aufzusetzen. Ich renne schnell nach drinnen, ziehe meine Jacke an und schmeiße mir meinen Rucksack über die Schulter. Mir ist klar das Marie sich freut, als wir früher auf die gleiche Schule gegangen sind, hat sie überall herumerzählt, wie süß ihre kleine Schwester doch sein.
Als ich dann eingeschult wurde, wussten alle sofort wer ich bin und ich wurde ständig belagert, weil alle mit mir spielen wollten. Als ich ihnen dann sagte, sie sollen mich in Ruhe lassen, wurde ich von vielen Kindern geärgert. Deswegen habe ich Marie verboten über mich in der Schule zu reden. Da sie weiß, was damals passiert ist, hat sie es verständlicher Weise akzeptiert. Jetzt, da es eh alle bemerken würden, konnte sie wieder überall herumerzählen, dass sie eine Schwester hat. Aus welchem Grund auch immer ist sie stolz auf mich. Der Tag wird für mich ziemlich anstrengend werden. Marie wartet schon auf mich und ich setze mich schnell hinter sie. Langsam fahren wir zur Schule, da wir heute mit dem Roller unterwegs sind, fahren wir eine andere Strecke als gestern. Mir erscheint das ein riesiger Umweg zu sein, da wir erst auf die Hauptstraße müssen. Zeitlich scheint es aber keinen Unterschied zu machen, wir sind in etwa zu der gleichen Zeit da wie gestern. Nachdem Marie erfolgreich geparkt hat frage ich sie: „Könntest du mich vielleicht noch zu meinem Klassenraum bringen? Ich habe echt keine Ahnung mehr wo ich langgehen muss.“
Marie strahlt über das ganze Gesicht. Ganz ehrlich, vielleicht lief bei ihr auch etwas ganz gewaltig schief. „Na klar mach ich das. Wenn du willst können wir auch in der Pause zusammen essen.“ Auf einmal läuft es mir kalt den Rücken runter und ich sehe mich unauffällig um. Wir werden schon jetzt von allen Seiten angestarrt. „Vielleicht wann anders, ok?“ Marie seufzt. „Hab ich mir schon gedacht. Aber wir müssen es ja auch nicht übertreiben.“ Langsam gehen wir Richtung Eingang. Da fällt mir die Nachricht von Mama wieder ein. „Wann hast du heute eigentlich Schluss?“ „Eigentlich nach der 6. allerdings haben Joe und Cassy mich gefragt ob ich ihnen Nachhilfe geben kann. Von daher werde ich wohl nicht vor der 8 Stunde nachhause kommen, warum?“ „Einer von und soll Papa was vorbeibringen. Aber keine Sorge, ich nehme einfach die Bahn, dann bin ich in einer Stunde wieder da.“ Marie bleibt stehen und sieht mich besorgt an.
„Aber dann musst du ja alleine nach Hause gehen! Das kann ich nicht zulassen, was wenn dir etwas passiert!“ „Aber ich kann ja schlecht auf dich warten. Ich beeil mich auch nach Hause, da wird schon nichts passieren. Keine Sorge.“ Ich lächle sie beruhigend an, innerlich mache ich mir aber auch Sorgen. Sie seufzt und geht weiter: „Letzten Endes kann ich dich ja doch nicht davon abbringen oder? Versprich mir bloß, dass du super duper vorsichtig bist.“ Ich lächle, dieses Mal aus voller Kraft: „Du kennst mich doch! Ich bin die Vorsicht in Person.“ Jetzt lächelt auch Marie endlich. „Weißt du was? Ich habe gerade beschlossen doch mit dir zusammen in der Pause zu essen! Ihr seid den ganzen Tag im Klassenraum oder?“ „Ach so, du hast das also so beschlossen mhm. Und wenn ich mich vor dir verstecke?“ „Das würdest du nie tun. Wenn ich dich dann überall suchen würde, würde das nur für dich zu viel Aufmerksamkeit erregen. Also im Klassenraum?“
Ich nicke. „Wüsste nicht wo wir sonst sein sollten. Ist Musik, Kunst oder Französisch irgendwo anders?“ Marie schüttelt den Kopf. „Nur die Naturwissenschaften sind wo anders. Also wir sind da. Ich komm dann in der Pause her.“ Ich sehe mich erstaunt um, wir stehen tatsächlich vor meinem Klassenraum. „Jetzt habe ich mir den Weg schon wieder nicht gemerkt.“ „Keine Sorge merk dir einfach wie du nachher rausgehst, dann bekommst du den Dreh schnell raus.“
Marie dreht sich um und winkt noch einmal zum Abschied. Wie lange es wohl her war, dass wir in der Schule zusammen Zeit verbracht haben? Vielleicht wird der Tag ja doch nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Doch als ich in die Klasse trete ändert sich meine Stimmung schlagartig. Neben der Tür wartet schon der Pudel. „Heyyyy...sag mal woher kennst du denn Marie? Weißt du? Sie ist suuuper beliebt.“ „Ja ich weiß das sie beliebt ist.“ Nach und nach kommen immer mehr und gaffen mich regelrecht an. Ich bekomme langsam keine Luft mehr, am liebsten würde ich ihnen sagen, sie sollen mich in Ruhe lassen, aber dann hätten sie sicherlich etwas gegen mich. Aber ich kann ihnen auch kaum sagen, dass ich ihre Schwester bin, dann würden sie mich erst recht nicht in Ruhe lassen. Langsam fange ich an zu zittern, ich habe gar nicht gewusst das ich so verwahrlost bin in Hinsicht meiner Kommunikationsfähigkeit.
Zum Glück gehen die Meisten auf einmal, selbst der Pudel lässt locker. Ich atme tief durch. „Du stehst im Weg.“ Ich zucke erschrocken zusammen, hinter mir steht der Bär und wartet darauf, dass ich ihn durchlassen. Darum waren also alle weggerannt, sie haben Angst vor ihm. Das ist wahrlich meine Rettung gewesen. „Sorry und danke.“ Ich grinse ihn an und er erscheint noch verwirrter. „Musst du nicht verstehen, keine Sorgen.“ Danach gehe ich auf meinen Platz. Auch der Bär setzt sich und bevor der Pudel nachhaken kann, kommt zum Glück Herr Hedsa herein. Wie ich es mir schon gedacht habe, fangen wir an die Lektüre zu lesen. Der Pudel kapiert schnell, dass sie für die Vokabeln nur in mein Buch schauen muss, dadurch verläuft die Stunde relativ ereignislos. Allerdings bemerke ich immer wieder, wie mich der Bär anstarrt, in der kurzen Pause bittet mich dann auch noch Herr Hedsa zu ihm nach vorne zu kommen.
Hat er das mit den Vokabeln bemerkt? Würde ich deswegen jetzt ärger bekommen? Nein, deswegen darf man sie doch eigentlich nicht bestrafen. „Warum hat Simone ständig in dein Buch geschaut? Habt ihr euch Nachrichten geschrieben?“ Ich lache, damit habe ich wirklich nicht gerechnet, aber als Lehrer ist das wohl die wahrscheinlichste Lösung.
Herr Hedsa schaut mich verdutzt an und ich schüttle meinen Kopf. „Das haben Sie missverstanden, ich habe in meinem Buch die neuen Vokabeln stehen, daher war es für sie leichter nachzuschauen als sie deswegen zu fragen.“ „Und warum hast du die Vokabeln in deinem Buch stehen? Das gehörte nicht zu euren Hausaufgaben.“ Ich stocke. Soll ich ihm die Wahrheit sagen? Besser wäre es und ich wollte ja auch nur helfen. Ich schaue mich kurz um und als ich sicher bin das keiner zuhört sage ich: „Bitte verstehen sie mich nicht falsch, aber ich wollte nicht, dass sie den Unterricht ständig unterbricht. Das war gestern nicht sonderlich angenehm und ich weiß, dass ich nicht die einzige bin die von den dauernden Unterbrechungen genervt war. Deswegen habe ich die Vokabeln, die sie hätte fragen können rausgesucht und so hingelegt, dass sie sie sehen würde.“ Zu meiner Überraschung schmunzelt Herr Hedsa leicht. „Das ist wirklich freundlich von dir. Allerdings ist es meine Aufgabe ihr die Vokabeln bei zu bringen und nicht deine. Allerdings muss ich mir auch eingestehen, sind wir heute mehr geschafft haben als ich geplant hatte. Es bleibt natürlich dir überlassen, ob du dir diese Mühe wirklich jedes Mal machen möchtest. Jedoch solltest du wissen, dass ich strebsame Schüler steht´s für ihre Mühen entlohne.“
Dabei zwinkert er mir zu und ich kann sehen wie er sich in seinem Heft ein plus hinter meinen Namen schreibt. Neben mir haben nur die Schüler ein plus die sich praktisch die ganze Zeit melden. Um meine mündliche Note würde ich mir so zumindest keine Sorgen machen müssen. Ich bedanke mich und gehe schnell zu meinem Platz zurück. Herr Hedsa scheint gar nicht so ein furchtbarer Lehrer zu sein, wie ich befürchtet habe. Glücklicher Weise unterhält sich Simone gerade angeregt mich zwei Jungs und bemerkt dadurch gar nicht, dass ich wieder auf meinem Platz sitze. Ich packe meine Englischsachen weg und suche mein Musikbuch. Als ich aufblicke, schaue ich dem Bären direkt in die Augen. Allerdings nur einen kurzen Moment, denn er sieht sofort wo anders hin. Es könnte sogar sein, dass er leicht rot wird, aber das ist schwer zu sagen, da seine Haare das meiste von seinem Gesicht verdecken. Aber ich habe das Gefühl, desto länger ich ihn anstarre, desto bemühter ist er unter seinen Tisch zu krabbeln. Ich schmunzle, er schafft es echt immer wieder mich zu amüsieren.
Ein kurzer Blick auf meine Uhr, unsere Lehrerin müsste bald kommen, denn die Pause ist in drei Minuten zu ende. Tatsächlich kommt etwa 1 Minute vor dem Pausenende eine junge Frau in unsere Klasse. Herr Hedsa begrüßt sie freundlich und wendet sich dann an uns: „Dies hier ist meine liebe Kollegin Frau Subali. Sie wird für das nächste halbe Jahr euren Musikunterricht leiten.“ Frau Subali nickt und begrüßt uns herzlich. Entgegen ihrem Aussehen, scheint sie gar nicht so streng zu sein. Sie trägt ein Outfit, dass eigentlich eher von einer Verkäuferin getragen werden würde. Eine Bluse und eine Anzughose. Dazu hat sie ihre Haare zu einem strengen Dutt zusammengebunden und trägt eine schmale Brille auf ihrer Nase. „Nun, dann werde ich euch nun verlassen. Wir sehen uns in der 5. Stunde zu Französisch.“ Damit verlässt Herr Hedsa unseren Raum.
Frau Subali setzt sich auf das Lehrerpult, sie scheint zu überlegen. „Wie wäre es, wenn wir heute ein wenig singen? Meiner Meinung nach, muss man Musik erleben und nicht nur theoretisch behandeln. Was sagt ihr?“ Die Klasse stimmt lauthals zu, nur ich und der Bär scheinen nicht sonderlich begeistert. „Super,“ sie strahlt über das ganze Gesicht, „Na dann auf geht es. Die Schule stellt uns lauter Instrumente zur Verfügung, da wollen wir daraus doch auch unseren Nutzen ziehen.“ Wieder Begeisterung, dieses Mal schaut auch der Bär interessiert. Ich kann mich wohl kaum davor drücken, also packe ich wie alle anderen meine Sachen ein und stehe. Danach gehen wir zusammen, mit Frau Subali voran, zum offiziellen Musikraum. Der Raum ist tatsächlich voller Instrumente und in der Ecke steht sogar ein riesiger Flügel, an den Wänden hängen Gitarren und lauter Instrumente, die ich in meinem Leben vorher noch nie gesehen habe. Unsere Schule muss echt steinreich sein. Also im ernst, erst ein riesiges Gebäude mit zwei Sportplätzen, einer großen Halle, einer eigenen Schwimmhalle und dann noch die vielen Instrumente. Die sind bestimmt ein Vermögen Wert. Wie um alles in der Welt bin ich hier nur gelandet?
„Ihr dürft euch nehmen was ihr wollt, solange ich das Lied damit auch begleiten könnt. Wenn ihr daran interessiert seid, kann ich zu nächster Stunde einige private Musiklehrer einladen, damit ihr ein beliebiges Instrument erlernen könnt.“ Frau Subali hatte sich bereits an den Flügel gesetzt und zwinkerte jetzt in die Runde. Wie gesagt, steinreich. Welcher normale Lehrer würde auch nur auf die Idee kommen. Ist sie nicht hier um uns zu unterrichten? „Der Text liegt dahinten. Am besten nehmt ihr euch alle in Blatt.“ Der Pudel ist natürlich die Erste, die sich auf den Stapel stürzt. Nachdem sie gefühlte Minuten damit verbringt den Text zu lesen, gibt sie die Zettel endlich weiter. Sie scheint sich über die Auswahl von Frau Subali nicht sonderlich zu freuen, vielleicht kennt sie das Lied auch einfach nicht und ist deswegen enttäuscht. Bis ich den Zettel endlich bekomme, dauert es weitere, geschlagene 5 Minuten, kaum zu glauben. Die Jungs schienen doch nicht mehr so darauf erpicht zu sein zu singen. Zu meiner Überraschung kenne ich den Titel, das Lied ist nicht sonderlich berühmt, allerdings finde ich es super gut. Es ist harmonisch und beruhigend, vielleicht sogar etwas melancholisch. Die Melodie ist allerdings ziemlich schwer, ich bin echt erstaunt, wenn wir das reibungslos singen können. Nachdem alle mit Texten versorgt sind, fängt Frau Subali an zu spielen. Auf ihr Zeichen hin fangen wir an zu singen.
Ich versuche möglichst leise zu singen, damit mich niemand hört. Eigentlich kann ich mir die Mühe aber sparen. Der Pudel singt so laut sie nur kann, am liebsten würde ich behaupten, dass sie wie eine krächzende Vogelscheuche klingt, aber so nervig ihre Stimme normalerweise auch ist, singen kann sie. Am besten harmoniert ihre Stimme mit den höheren Tönen. Sobald die Melodie in den tieferen Bereich wechselt bilden ihre Stimme und der Flügel eine geradezu Gänsehaut verursachende Dissonanz. Wir versuchen die ganzen zwei Stunden das Lied zu perfektionieren, am Ende scheint Frau Subali mit dem Ergebnis zufrieden zu sein und entlässt und fröhlich in die Pause. „Vergesst bitte nicht euch bis zu nächster Woche ein Instrument auszusuchen!“ Ich folge den anderen eilig zur Klasse, wo Marie schon auf mich wartet.
„Na? Wo wart ihr denn? Ich sachte ihr müsst den Raum heute nicht wechseln?“ „Wir hatten Musik und unsere Lehrerin befand es als gute Idee mit uns zu singen. Deswegen sind wir in den Musikraum gegangen. Also kommst du mit rein? Allerdings warne ich dich, ich wurde heute Morgen schon mit Fragen bombardiert, woher ich die ach so beliebte Marie denn kenne.“ Ich grinse, denn Marie läuft feuerrot an. „Das stimmt doch gar nicht, ich bin nicht sooo beliebt. Ich weiß auch nicht woher mich die neuen Schüler alle kennen! Das musst du mir glauben.“ „Du unterschätzt dich liebes Schwesterherz. Also wie sieht´s aus kommst du jetzt mit oder nicht?“ Marie überlegt kurz und verkündet dann voller Stolz: „Ich habe eine bessere Idee! Wie wäre es, wenn du mit zu meiner Klasse kommst? Die wissen alle schon wer du bist und ich habe ihnen auch gesagt, dass du super duper schüchtern bist und sie dich in Ruhe lassen sollen.“ Ich erschrecke, damit habe ich nicht gerechnet, wahrscheinlich ist sie heute direkt zu allen gerannt und hat ihnen von mir erzählt. Ich seufze, allerdings ist das immer noch besser als von meinen Klassenkameraden belagert zu werden. „Na gut, ich hol nur schnell mein Essen.“ Ich gehe schnell zu meinem Platz und hole mein Esser heraus, bevor ich schnell genug wieder bei Marie zurück bin, hat Simone Marie schon erspäht und macht sich auf den Weg zu ihr.
„Hallo Marie! Was machst du denn hier?“ Marie sieht sie verwirrt an und legt ihren Kopf leicht schräg, dass tut sie nur, wenn sie von der anderen Person einen schlechten ersten Eindruck hat. „Was soll ich hier schon machen? Ich hole meine kleine Schwester ab. Falls du mich also entschuldigen würdest.“ Dabei setzt sie ein falsches Lächeln auf. Ich gehe schnell zu ihr und wir machen uns auf den Weg zu Maries Klassenzimmer. Als ich einen Blick zurückwerfe, sehe ich wie mir Simone erschrocken nachschaut. Sie hat wahrscheinlich mit allem gerechnet, aber nicht, dass ich ihre kleine Schwester bin. Wir sehen uns schließlich nicht sonderlich ähnlich. Mein Gesicht ist schmaler als Maries und auch meine Augen sind heller. Das einzige was an uns wirklich ähnlich ist, ist unsere Haarlänge. Meine Haare an sich sind auch eher braun als blond.
Maries Klassenzimmer ist nicht so weit von meinem weg, wie ich gedacht habe, wir müssen lediglich ein Stockwerk nach unten gehen und sind dann auch schon fast da. Unterwegs wird Marie natürlich immer wieder von Leuten angesprochen, was uns 5 Minuten unserer Pause kostet. Dazu kommt, dass ich das Gefühl nicht loswerde, dass ich soeben zum Gesprächsthema der meisten Konversationen geworden bin. Maries Klassenkameraden lassen mich tatsächlich in Ruhe, hin und wieder starrt mich mal wieder jemand an, aber das ist weitaus weniger schlimm, als dass, was ich befürchtet habe. Wir gehen zu ihrem Tisch und Marie holt einen zweiten Stuhl. So langsam freue ich mich richtig darauf mit Marie zusammen zu essen. Früher, als wir noch auf unserer alten Schule zusammen waren haben wir eine Zeit lang auch immer zusammen gegessen. Das ist jetzt bestimmt schon drei Jahre her. Ich setze mich neben sie und fange an mein Essen auszupacken.
Marie will mir gerade etwas sagen, als sich noch jemand zu uns setzt. Es ist allen Ernstes der Typ von gestern. Ich werfe Marie einen kurzen Blick zu, ich dachte wir würden allein sein? Was will der hier? Aber Marie zuckt nur mit den Schultern und sieht ihn fragend an. „Das ist also deine kleine Schwester? Sie ist ja gar nichts Besonderes! Nach deiner Ansage habe ich echt mehr erwartet.“ In der Klasse wird es ganz still, anscheinend will niemand verpassen, was gesagt wird. Am besten sollte jemand mitschreiben, der Typ scheint ja ober wichtig zu sein. Marie schnaubt gereizt: „Wie könntest du schon ihren Charme verstehen. Selbst wenn ich es dir erklären würde, könntest du die Weite noch nicht verstehen.“
Ich sehe vom einen zum anderen. Ich kenne Marie und weiß, dass sie gerne mal übertreibt, aber was, wenn sie jemand mal ernst nimmt? Dann hätte ich eine Menge Probleme, jeder hätte Erwartungen an mich die ich niemals erfüllen kann. Wahrscheinlich ist das hier gerade auch der Fall, wer weiß, was sie ihrer Klasse alles erzählt hat. „Ihr scheint euch ja echt gut zu verstehen.“ Das hört sich vielleicht sarkastisch an, aber Marie scheint sich kein bisschen zu verstellen. Sie bleibt sie selbst und das gefällt mir, auch wenn ich den Typen wirklich nicht leiden kann. „Und ja ich bin nichts Besonderes, was soll´s? Es muss sich nicht jeder aus der Masse hervorheben und auf ober cool tun!“ Der Typ sieht mich abfällig an und wendet sich dann wieder an Marie, dabei fängt er an sein Essen auszupacken. „Und deswegen hast du mir gesagt, dass ich heute nicht mit dir essen kann? Weißt du eigentlich wie viele Mädchen mich heute gefragt haben, ob ich nicht mit ihnen essen will? Du weißt genau wie anstrengend es sein kann sie alle abzuwimmeln.“ Ah, er ist also der `König´ der Schule, zumindest führt er sich gerade so auf. Super beliebt und dazu noch arrogant, dass passt zu meinem ersten Eindruck von ihm.
„Also hast du einfach beschlossen, dass du dich dennoch einfach zu mir setzt?“ Er nickt bestimmt. „Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich habe keine so gute Ausrede wie du und wenn ich erst einmal mit ihnen gegessen habe, bilden sie sich etwas drauf ein und werden sie nur noch anhänglicher. Am Ende stalken sie mich noch oder erzählen überall herum, dass ich ihr fester Freund bin oder so etwas.“ Langsam geht mir der Typ richtig auf die Nerven, ich habe mich so auf die Pause gefreut und jetzt vermiest mir der Typ alles. Ich werfe Marie einen `werde diesen Typen los Blick´ zu, aber sie schüttelt nur verzweifelt den Kopf.
Jetzt wendet sich der Typ an mich: „Mein Name ist übrigens Johannes, nicht, dass du das bisher nicht wüsstest nicht wahr? Wahrscheinlich fliegst du auch total auf mich. Ich habe gehört ihr Neulinge habt sogar schon einen Fanclub gegründet. Auf jeden Fall, wollte ich dich, Marie fragen ob du heute Abend Zeit hast? Ein neuer Film läuft im Kino an und ich will nicht alleine hingehen.“ Marie schüttelt den Kopf: „Nein, tut mir leid, gerne wann anders, aber wir beide sind heute Abend alleine und deswegen möchte ich so früh wie möglich nach Hause.“ Ich sehe sie überrascht an, ich habe noch nie live miterlebt, wie sie eine Einladung ablehnt. Auch Johannes sieht sie überrascht an. „Ist das dein ernst, nur wegen der da? Wenn sie dir so wichtig ist kann sie ja gerne mitkommen, aber für sie bezahle ich nicht. Und ganz ehrlich wie alt ist sie? Sicherlich alt genug um alleine zuhause zu bleiben!“ Dabei deutet er ganz eindeutig auf mich.
Mir reicht es, mit Marie kann ich mich auch noch zuhause unterhalten, seine Beleidigungen muss ich mir nicht anhören. Ich stehe auf. „Tut mir Leid Marie, aber ich glaube ich werde doch lieber in meiner Klasse essen. Vielleicht klappt es ja morgen.“ Damit wende ich mich zu dem Typen. „Und du. Ich werde sicherlich mein Bestes geben um deinen Namen sofort zu vergessen, keine Sorge. Und wenn du keine Lust hast in meiner Nähe zu sein, oder dich nicht zusammenreißen kannst, dann bleib gefälligst weg! Ich brauche Leute wie dich nicht in meinem Leben!“ Damit nehme ich mein Essen und gehe, ich lasse ihm nicht die Zeit darauf zu antworten, bevor ich außer Reichweite bin höre ich Marie noch genervt sagen: „Na danke! Das hast du echt super gemacht!“ Danach höre ich noch ein quietschen, bevor ich nach unten gehen kann packt mich eine Hand am Ellbogen. Ich drehe mich genervt um und sehe in das gerötete Gesicht des Idioten.
Er scheint ziemlich sauer zu sein. „Was fällt dir eigentlich ein so mit mir so reden?! Weißt du nicht wer ich bin?“ Ich sehe ihm tief in die Augen, er scheint tatsächlich auf eine Antwort zu warten. Ich lächle, „Natürlich weiß ich wer du bist, du bist ein Idiot!“ Damit entreiße ich ihm meinen Arm und gehe nach unten. In seinem Leben hat ihn anscheinend noch nie jemand beleidigt, denn er steh einfach da und starrt mir nach. Zum Glück essen gerade alle und es ist auf den Gängen nicht viel los. Das hätte sicherlich für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Aber mal ehrlich, dafür, dass er angeblich so alt ist wie meine Schwester, also schon 19, benimmt er sich wie ein 14-jähriger der gerade in die Pubertät kommt. Warum um alles in der Welt ist meine Schwester nur mit solch einem Idioten befreundet.
Langsam gehe ich die Treppe herunter und den Gang entlang zu meiner Klasse. Auf dem Weg begegne ich noch Simone, mir scheint es fast so, als hätte sie mir aufgelauert. „Bist du echt Maries kleine Schwester? Ich meine, ihr seid euch so überhaupt nicht ähnlich.“ Ich seufze. „Ja ich bin wirklich ihre Schwester, aber wenn es dir lieber ist, kannst du gerne so tun als wäre ich es nicht. Mir persönlich wäre das lieber so. Ich bin nicht wie meine Schwester und werde es auch nie sein. Außerdem werde ich sicherlich niemanden helfen sich bei ihr ein zu schleimen.“ Simone steht ganz verdattert da und sieht mich verunsichert an. „Ach so, ok.“ Bevor ich an ihr vorbei gehen kann fragt sie noch schnell: „Wenn du jetzt doch nicht mit ihr isst, wollen wir dann zusammen essen?“ Ich sehe sie zweifelnd an, eigentlich ist das jetzt auch egal, ich wurde ja schon beleidigt, von daher kann es ja schlecht noch schlimmer werden. Zumindest nicht dadurch, dass sie ständig rede und hoffentlich werde ich nicht viel zu der Unterhaltung beitragen müssen. Allerdings bin ich überrascht, dass sie bisher noch mit niemanden gegessen hat. Nach einem Augenblick nicke ich und gehe vor zur Klasse. Ich kann regelrecht hören wie ihre Anspannung weicht. Warum auch immer scheint ihr das wichtig gewesen zu sein.
Glücklicher Weise ist unser Klassenraum fast komplett leer, nur der Bär und ein paar andere Schüler sind noch da und essen alleine. Da wir eh nebeneinandersitzen, sparen wir uns unsere Tische um zu schieben. Langsam bekomme ich auch richtig Hunger, schließlich ist mein Frühstück jetzt schon ein paar Stunden her. Zusätzlich bin ich es noch nicht gewohnt, die erste Pause nach 3 Schulstunden zu haben, anstatt nach 2. In meiner alten Schule wurde immer streng darauf geachtet, dass jeder etwas zu essen dabeihatte und sich nicht überarbeitete. Hier wird anscheinend alles etwas lockerer angegangen. In den Pausen gibt es keine Aufsichten und es scheint jedem selbst überlassen, was man macht. Ich fange an zu essen und auch Simone fängt an ihr Essen auszupacken. Im Gegensatz zu mir hat sie nur zwei Scheiben Brot mit, was für einen Tag wie heute wirklich nicht viel ist. Ich überrasche mich selber als ich frage: „Reicht dir das wirklich? Wirst du davon überhaupt satt?“ Simone sieht mich überrascht an, lächelt aber leicht: „Ich hatte heute Morgen leider keine Zeit mir mehr zu machen. Normalerweise habe ich immer noch Früchte oder etwas Ähnliches mit, aber ich war in letzter Zeit nicht einkaufen und meine Eltern haben dafür keine Zeit.“
Ich nicke langsam und beiße mir leicht auf meine Unterlippe. „Wenn du willst kannst du etwas von mir abhaben. Es ist viel zu viel für mich alleine und mit Marie kann ich es ja jetzt nicht mehr teilen.“ Simone lächelt, dieses Mal scheint es von Herzen zu kommen. Ich schiebe mein Essen in die Mitte unserer Tische und fange an zu essen. Selbst kalt schmeckt das Essen meiner Mutter super. Auch Simone scheint es zu schmecken, sie scheint sich jeden Löffel auf der Zunge zergehen zu lassen. „Hast du das gekocht?“ Ich lache. „Nein, meine Kochkünste sind bei weitem nicht so begnadet. Das sind Reste von gestern.“ Mit einem Schlag wird mir bewusst, wie oberflächlich ich mich bisher aufgeführt habe. Simone scheint gar nicht so verkehrt zu sein, zumindest nicht, wenn sie sich nicht verstellt.
„Weißt du am Anfang dachte ich wirklich, dass du eine von denen bist, die alles für Aufmerksamkeit tun. Aber du scheinst gar nicht so verkehrt zu sein, wenn du selbst bist.“ Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und es funkelten auch schon Tränen in ihren Augen. Vielleicht lässt es sich ja ganz gut mit ihr aushalten. Bevor sie etwas sagen kann erscheint ein düsterer Gesichtsausdruck auf ihrem Gesicht. Der Bär hat sich einen Stuhl geschnappt und kommt auf uns zu. Das wird lustig werden, was er wohl möchte? Wenigstens bin ich so der unangenehmen Situation entkommen, Simone wird jetzt bestimmt nicht mehr anfangen aus Rührseligkeit zu weinen. Ich kann einfach nicht mit weinenden Menschen umgehen, man weiß nie wie man sie trösten soll. Der Bär stellt seinen Stuhl an unseren Tisch, setzt sich und nimmt sich etwas von meinem Essen. Es scheint ihm zu schmecken, denn auch er fängt an zu lächeln. Als ich Simones Angst erfülltes Gesicht sehe, fange ich an zu lachen. Nach allem kann ich einfach keine Angst mehr vor ihm haben.
„Weißt du? Normalerweise fragt man bevor man das Essen anderer Leute isst.“ Der Bär läuft tiefrot an und murmelt leise: „Entschuldigung.“ Ich lache wieder laut los, dieser Typ ist einfach zum Schreien komisch, wahrscheinlich hat er genauso wenig Kontakt zu anderen Menschen wie ich, wenn nicht noch weniger und ist deswegen so hilflos. Schnell winke ich ab. „Kein Problem, bedien` dich ruhig, ich habe ja genug mit. Sag mal, wie heißt du eigentlich? Ich bin Cleo.“ Ich lächle ihn fortwährend an, er versucht immer wieder meinem Blick Stand zu halten, schafft es dann aber doch nicht und wird wieder rot. Wie kann man nur so riesig sein und dennoch so schüchtern. Vorher habe ich mir nicht die Mühe gemacht seinen Namen zu behalten, aber er scheint es Wert zu sein. Mit ihm und Simone kann ich es aushalten. Zumindest vorerst. Simone sieht immer wieder von mir zu ihm, langsam gewöhnt sie sich anscheinend an ihn. Oder sie merkt zumindest, dass er sie nicht gleich auffrisst. „Raffael.“ „Freut mich dich kennen zu lernen. Kann ich dich Raff nennen? Raffael ist ein bisschen lang. Das hier ist übrigens Simone.“ Simone verschluckt sich, versucht ihm aber trotz der Hustenkrämpfe zuzunicken. Raffael nickt schüchtern zurück und fängt dann auch wieder an zu essen.
Meine Laune hat sich schlagartig gebessert und ich habe den Idioten schon fast vergessen. Raff nickt auch in meine Richtung, was ich so deute, dass ich ihn wohl Raff nennen darf. Mir fällt wieder einmal erneut auf, dass mir die imperfekten Menschen am perfektesten erscheinen. Es ist schließlich unnatürlich, wenn niemand Fehlerhaft ist. Deswegen fällt es mir auch so schwer neue Leute kennen zu lernen. Ich finde kein Vertrauen, wenn ich nicht weiß, was sie menschlich macht. Mich interessiert nicht, wie sie sich geben, ich brauche keine Freunde, die so in Wirklichkeit nicht existieren. Man lebt schließlich nur einmal und ich will meine wertvolle Zeit nicht mit Lügen vergeuden. Nach und nach fängt Simone an zu erzählen, von ihren drei kleinen Brüdern, auf die sie die meiste Zeit aufpassen muss. Dass sie einen Hund hat, der entgegen seinem Aussehen total verschmust ist und einer ihrer kleinen Brüder ihn aus Spaß ´Katze` getauft hat. Später würde sie am liebsten Krankenschwester werden. So ging das fast die gesamte Pause, hin und wieder stellt sie entweder mir oder Raff eine Frage, führt aber den meisten Teil des Gespräches selbst, so erfahre ich zum Beispiel auch, dass Raff am liebsten Koch werden würde, sein Vater aber absolut dagegen ist.
Auf einmal sagt Simone: „Vielen Dank übrigens für Englisch, also die Vokabeln. Aber warum warst du überhaupt so gut vorbereitet? Ich meine du scheinst damit keine Probleme zu haben.“ Ich beiße mir wieder auf die Lippe, hoffentlich ist sie jetzt nicht beleidigt. „Tatsächlich habe ich das für dich gemacht. Wobei, das ist auch nicht ganz richtig. Ich habe es für alle getan. Nimm das bitte nicht falsch auf, aber am ersten Tag hast du ständig den Unterricht unterbrochen und man hat sich schon über dich lustig gemacht. Es hat schließlich so ziemlich alle genervt. Tut mir leid.“ Ich versuche möglichst nicht in ihre Richtung zu sehen, aber sie scheint nicht annähernd so getroffen, wie ich es befürchtet habe. Nach einigen unangenehmen Sekunden fragt sie dann. „Wie wäre es, wenn du mir Nachhilfe gibst? Ich meine, wenn wir zusammen lernen würden? Ein zweimal die Woche?“ „Ich mach mit.“ Mischt sich Raff ein. „Ich habe in den letzten Stunden kein Wort verstanden.“ Sein verzweifelter Gesichtsausdruck unterstreicht, dass er das absolut ernst meint. „Eigentlich spricht nichts dagegen, allerdings kann ich samstags nicht.“ Simone lächelt wieder. „Abgemacht. Mögt ihr mir eure Nummern geben?“ Ich hole mein Handy raus und schreibe meine Nummer auf einen Zettel. Danach gebe ich ihn ihr. Raff macht das gleiche. „Gut dann schreib ich euch, damit ihr meine Nummer auch habt.“ Raff und ich tauschen auch noch unsere Nummern.
Wenn ich Marie erzähle, dass ich zwei neue Freunde habe, flippt sie aus. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und stelle überrascht fest, dass unsere Pause schon fast vorbei ist. Wir haben es tatsächlich geschafft fast 40 Minuten lang miteinander zu erzählen und dabei erscheint es mir so, als wären gerade mal 5 Minuten vergangen. „Seid ihr in Französisch gut?“ Ich überlege, „Eigentlich habe ich damit keine Probleme, aber es fällt mir nicht so leicht wie Englisch.“ Simone nickt und sieht Raff an. Er zuckt nur mit den Schultern. „Ich bin in Sprachen eine komplette Niete. Falls ihr aber in Bio Hilfe braucht bin ich euer Mann.“ Das passt mir perfekt. „Gut, dann gibst du mir ab sofort in Bio Nachhilfe. Du bist nicht zufällig in allen Naturwissenschaften gut oder?“ Raff sieht mich verwundert an. „Naturwissenschaften sind wohl nicht dein Ding was?“ „Sie hassen mich!“ Er fängt an zu lachen, das ist das erste Mal, dass ich ihn lachen sehe. Nach kurzem Zögern fällt auch Simone in das Lachen ein: „Schwachstelle gefunden! Im Notfall können wir uns da auch zusammen durch quälen.“ Raff nickt zustimmend. „Ich bin in den anderen zwar nicht so gut wie in Bio, aber es dürfte gerade noch so reichen um nicht durchzufallen.“ Ich nicke motiviert. „Das reicht mir vollkommen!“ Wieder müssen beide anfangen zu lachen. „Du hast dir ja echt hohe Ziele gesteckt.“ Simone fängt schon an zu tränen. „Na und? Ihr seid doch bestimmt auch nicht besser.“ Beide weichen meinem Blick aus und ich verschränke triumphierend die Arme. „Hab ich mir doch gedacht.“
Nach und nach kommen unsere Klassenkameraden wieder in die Klasse und immer wieder werden wir ungläubig angestarrt. Nach dem dritten Mal sagt Simone: „Wir sind schon ein Trio.“ Wir müssen alle drei schmunzeln. Kurz vor Stundenbeginn geht der Bär auf seinen Platz zurück. Herr Hedsa kommt wie immer überpünktlich. Es ist lustig zu beobachten, wie jeder Schüler, der nach ihm die Klasse betritt zuerst erschrocken erscheint und danach betreten zu Boden schaut. Von meinem Blickwinkel sieht es fast schon so aus, als würde er sich einen Spaß daraus machen und jeden Schüler extra lange Mustern. Wenn ich genau hinsehe und etwas Fantasie dazu mixe, könnte es sogar sein, dass er lächelt.
Als es klingelt packe ich schnell die letzten Reste meines Essens weg und hole mein Französischbuch heraus. Es ist nicht sonderlich dick, was meine Hoffnung steigert, dass wir noch etwas Anderes machen werden, als nur Lektüre zu lesen. Zu meiner Überraschung ist, „Ihr könnt die Bücher erst einmal weglegen,“ dass Erste, was Herr Hedsa sagt. „Es wurde vom gesamten Kollegium beschlossen, dass dieses Buch zu schwer ist um es direkt mit euch zu behandeln. Daher werden wir uns zunächst erst einmal die Verfilmung ansehen.“ Die Klasse jubelt los, dass könnte für uns alle nicht besser laufen. Ein Film zu sehen, war immer meilenweit besser als trockene Lektüre, wo man nicht einmal das Thema verstehen kann. Das wenige, was ich entziffern kann, scheint nur wenig interessant und auch ziemlich einseitig. Es erscheint mir auch deutlich angenehmer einen Film in Ruhe zu schauen, als sich mit allen gemeinsam durch das Buch zu quälen. Und da sich anscheinend die gesamte Lehrerschaft einig ist, dass das Buch zu schwer ist, will ich mich erst recht nicht beschweren. Herr Hedsa macht sich daran eine Leinwand herunterzuziehen und den Beamer aufzubauen. Alleine dafür und dafür den Film in Gang zu bekommen, gehen schon einmal 7 Minuten drauf. Viel werden wir wohl nicht mehr sehen, da wir heute keine Doppelstunde haben. Sobald alles aufgebaut ist, startet er den Film, zur Enttäuschung aller allerdings auf Französisch, mit französischen Untertitel und das soll leichter zu verstehen sein? Nach den ersten 5 Minuten fällt mir überraschender Weise auf, dass ich den Film bereits kenne. Es ist einer der schnulzigen Romantikfilme, die ich mit meiner Schwester nach ihrer letzten Trennung sehen musste.
Ich habe gar nicht gewusst, dass es davon ein Buch gibt, oder eher gesagt, dass es sich dabei um die Verfilmung eines Buches handelt. Enttäuschung macht sich in mir breit, in dem Film geht es einzig und allein um ein Mädchen und ihre unerfüllte Liebe. Sonderlich spannend ist das sicherlich nicht und es macht es auch nicht gerade leichter für alle, dass man zusätzlich kein Wort verstehen kann. Simone wirft mir immer wieder verzweifelte Blicke zu, bis ich ihr endlich die Handlung in wenigen knappen Sätzen auf ein Blatt Papier schreibe.
Sie wirkt erleichtert, der Film scheint für sie jetzt wenigstens ein wenig Sinn zu machen. Nach einiger Zeit merke ich, das Raff mir ebenfalls verzweifelte Blicke zuwirft. Aber auf die Entfernung kann ich ihm nicht helfen, wenn ich ihm auch einen Zettel schreibe, wird dieser entweder von Herr Hedsa abgefangen oder, was wahrscheinlicher ist, gar nicht erst an ihn weitergereicht. Seine Sitznachbarn, nein eigentlich alle, versuchen so gut wie es geht keinen Kontakt zu ihm herzustellen. Als es dann endlich zum Stundenende klingelt atmen alle erleichtert auf.
Herr Hedsa stoppt den Film, macht aber keinerlei Anstalten alles abzubauen. „Keine Sorgen meine Liebe Klasse, in wenigen Minuten dürft ihr die Fortsetzung genießen. Allerdings werde ich nicht mehr dabei sein um euch Fragen zu beantworten. Falls ihr also welche habt, solltet ihr mir diese jetzt stellen.“ Als er durch die Klasse blickt und fast nur verzweifelte Gesichter sieht zuckt er mit den Schultern: „Es steht euch natürlich auch frei den Inhalt, sobald ihr zuhause seid, nachzuschauen.“ Erleichtertes Aufatmen, Herr Hedsa schmunzelt. „Mich wird nun eure Kunstlehrerin Frau Miseur vertreten. Ich habe mit ihr abgesprochen, dass ihr heute mit ihr den Film zu ende sehen werdet und ich ihr dafür nächste Woche meine Französischstunde abtrete. Nach dieser Ansage macht er sich auf den Weg. Frau Miseur kommt allerdings erst nach 15 Minuten.
Sie erscheint mir wie eine typische Kunstlehrerin, kurze blonde Locken, Sachen die nicht unbedingt zueinander passen und dazu eine ziemlich verplante Art. „Sorry, wisst ihr, ich bin auch neu hier. Haha. Ich habe es tatsächlich geschafft mich zu verlaufen.“ Sie setzt sich an den Rand und startet den Film. Nach ungefähr einer halben Stunde scheint sie eingeschlafen zu sein. Nur noch wenige sehen sich den Film an, die meisten sitzen an ihrem Handy oder spielen etwas. Ich selbst habe schon einmal damit begonnen meine Hausaufgaben zu machen. Das wird mir zuhause ziemlich viel Arbeit ersparen. Kurz nach der fünften Stunde ist der Film endlich zu ende. Jedoch macht keiner Anstalten unsere Lehrerin zu wecken. Nach weiteren 5 Minuten werde ich unruhig, aber ich will definitiv nicht nach vorne gehen.
Ich stoße Simone in die Seiten und sie quiekt laut auf. Anscheinend hat sie auch geschlafen. Eigentlich wollte ich sie bitten nach vorne zu gehen, aber der Quiekser hat die Sache schon perfekt geregelt. Frau Miseur schreckt auf und sieht sich fast schon panisch um. Als sie bemerkt, dass der Film schon vorbei ist streckt sie sich. Sie schaltet den Beamer aus und rollt die Leinwand wieder ein. „Nun gut, dass war es dann für heute. Wir sehen uns nächste Woche.“ Damit verschwindet sie auch schon aus der Tür. Sie hat nicht einmal einen Blick auf die Uhr geworfen. Wann sie wohl bemerkt, dass sie mit uns noch etwa eine Stunde Unterricht hätte machen sollen. Natürlich hat aber auch niemand Anstalten gemacht sie daran zu erinnern. Die ersten fangen schon an ihre Sachen zu packen und auch ich bin einer spontanen Freistunde definitiv nicht abgeneigt. Ich packe meine Sachen ein mache mich auf den Weg nach draußen.
Simone und Raff kommen mit mir mit. Raff seufzt: „Man, das war die pure Hölle, ich hab` echt gar kein Wort verstanden.“ „Ging mir nicht anders, wäre Cleo nicht gewesen wüsste ich immer noch nicht, worum es überhaupt ging. Woher wusstest du das überhaupt? Sag mir bitte nicht, dass du das Buch schon gelesen hast.“ „Nein keine Sorge, so ein krasser Streber bin ich dann auch nicht. So was mache ich nur, wenn es mir auch Profit bringt. Nein, meine Schwester hat mich in einer ihrer Herzschmerzphasen dazu gezwungen ihn mir mit ihr anzusehen. Von daher bin ich schon vorbestraft.“ Raff und Simone nicken beide zustimmend. „Wollen wir vielleicht noch in die Cafeteria oder so?“ „Sorry, aber ich muss meinem Vater was zur Arbeit bringen. Ein andermal vielleicht.“ Damit winke ich den beiden zu und mache mich auf den Weg.
Unterwegs krame ich noch meine Kopfhörer raus und schalte meine Musik ein. Kurz nachdem ich mich auf den Weg gemacht habe klingelt es auch schon zur Pause. Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich meinem Vater Bescheid sage, dass ich schon etwas früher komme, wobei, eigentlich ist es unwahrscheinlich, dass er überhaupt auf mich wartet. Kurz bevor ich den Ausgang erreiche höre ich jemanden meinen Namen rufen, dass kann eigentlich nur einer sein. Marie. Ich drehe mich betont langsam um und nehme einen Kopfhörer raus. Danach sehe ich sie fragend an: „Was denn?“ Sie sieht mich entrüstet an: „Was machst du denn? Hast du keinen Unterricht? Du schwänzt doch nicht etwa?!“
Ich hebe beschwichtigend die Hände. „Keine Sorge, meine Weste ist weiß. Unsere Lehrerin ist etwas schräg und ist einfach abgehauen. Deswegen mache ich mich jetzt auf den Weg zu Papa.“ Marie beißt sich auf die Lippe. „Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich dich jetzt nach Hause fahren können. Egal, weißt du was? Ich fahr dich einfach. Joe kann seine Hausaufgaben auch alleine machen.“ Ich runzle die Stirn: „Hast du etwa auch frei?“ Sie nickt „warte kurz ich hol nur schnell meine Tasche.“ Bevor sie gehen kann sage ich noch schnell: „Nein, ich geh alleine, so weit ist der Weg nicht und ich will nicht das du meinetwegen deine Versprechen brichst.“ Ich winke ab, als sie mir widersprechen will und mache mich auf den Weg. Das würde mir noch fehlen, jemand der sauer auf mich ist, weil sie plötzlich ihre Versprechen nicht mehr halten will.
Doch so leicht lässt sie mich nicht gehen. Stur stellt sie sich mir in den Weg. „So leicht lass ich mich nicht abwimmeln. Wenn schon nicht mit mir, dann geh mit einem aus deiner Klasse. Sonst mache ich mir durchgehend sorgen und bin für niemanden eine Hilfe.“ Ich überlege kurz, Raff und Simone sind momentan bestimmt in der Cafeteria, so schnell würden sie also nicht nach Hause gehen. Selbst wenn, weiß ich nicht einmal, ob ihr zuhause in der gleichen Richtung liegt. Langsam schüttle ich den Kopf. „Nicht möglich.“ Marie seufzt. „Darf ich dir dann jemanden mitschicken? Nur damit ich weiß, dass du sicher angekommen bist.“ Ein Blick auf die Uhr und ich gebe auf, ich verschwende hier nur Zeit und Nerven, sie gibt sich ja doch nicht geschlagen. „Wenn es dir so unglaublich wichtig ist. Meinetwegen nur bitte keine Laber Tasche.“ „Gib mit nur einen kurzen Moment.“ Damit verschwindet sie hinter der nächsten Ecke. Nach 2 Minuten kommt sie wieder, mit einem nörgelnden Johannes. Das hat mir gerade noch gefehlt. Warum ausgerechnet der? Marie ist doch auch beim Essen dabei gewesen oder war das ein Trugbild? Ich verschränke die Arme und sage trotzig: „Nicht. Dein. Ernst.“
Marie zuckt unschuldig mit den Schultern. „Du sagtest keine Laber Tasche und ich denke nicht das Jo unbedingt Lust hat mit dir zu reden. Außerdem ist er der einzige von meinen Freunden den du kennst und er hat gerade Zeit.“ Johannes verdreht die Augen. „Von wegen Zeit. Du hast gesagt ich soll mitkommen, weil ich dir für das verpatzte essen etwas schulde. Also was soll der Quatsch?“ „Du wirst meine kleine Schwester nach Hause und danach zum Bahnhof begleiten.“ Dabei grinst Marie triumphal. Wie im Akkord antworten wir beide „Nie im Leben!“ Marie sieht mich flehend an „Komm schon, sonst lässt mir das die ganze Zeit keine Ruhe und du,“ damit wendet sie sich an Johannes, „du jammerst mir die ganze Zeit die Ohren voll, dass dich die Mädchen nicht in Ruhe lassen und dass du alles dafür geben würdest auch nur ein paar ruhige Minuten zu haben. Wenn du Cleo nach Hause bringst hast du mit Sicherheit deine Ruhe. Kommst schon Leute ich verlange doch nicht das ihr Händchenhaltend in den Sonnenuntergang lauft!“ Johannes und ich sehen uns kurz an und gehen dann los. Bevor er auch nur auf den Gedanken kommen kann ich anzusprechen stopfe ich mir wieder meinen Kopfhörer ins Ohr und drehe die Musik auf. Nach einer Weile fühlt es sich so an, als wenn mein Nacken brennen würde. Starrt er mich jetzt im ernst an!? Ich drehe mich entnervt um und ertappe ihn dabei wie er schnell wegsieht. Ich nehme einen Kopfhörer raus und fauche ihn an: „Hast du ein Problem?!“
Er sieht mir in die Augen und zuckt nur mit den Schultern. Meine Herren, der Typ kotzt mich mit allem an was er tut. Ich drehe mich trotzig wieder weg und gehe noch einen Schritt schneller. Leider bringt mir das rein gar nichts. Dadurch, dass der Typ längere Beine hat als ich kann er das Tempo locker mithalten. Die 25 Minuten kommen mir quälend lange vor. Als wir dann endlich ankommen bin ich völlig außer Atem, der sportliche Typ in ich bei weitem nicht. Ich krame meinen Schlüssel heraus und schließe auf. „Soll ich draußen warten?“ Ich drehe mich genervt um: „Du musst gar nicht warten, vertreib dir die nächste Stunde irgendwo die Zeit und geh dann zurück. Ich brauche keinen Babysitter.“ Er seufzt und schüttelt den Kopf. „Es muss wirklich unheimlich schrecklich sein, so ein kleines Gehirn zu besitzen. Für den Fall das du es nicht kapiert hast, ich bin nur wegen dir hier! Hättest du dich beim Essen nicht so danebenbenommen, hätte Marie nichts gegen mich in der Hand gehabt und ich hätte jetzt meine Ruhe.“ Ich stutze, meint er das Ernst? Irgendwas muss bei ihm ganz schrecklich schiefgelaufen sein.
Keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll. Wahrscheinlich sieht er sich auch noch bestätigt, weil ich mit offenem Mund vor ihm stehe und ihn ungläubig anglotze. Ich schüttle nur kurz den Kopf, drehe mich um und gehe in Haus. „Weißt du, eigentlich ist es mir scheiß egal mit wem meine Schwester befreundet ist. Aber ich werde sicherlich nicht einfach dabei zusehen, wie ihre Luft durch eine Bazille wie dich vergiftet wird.“ Diesmal ist er es, der mich ungläubig anstarrt. Selbstzufrieden knalle ich ihm die Tür vor der Nase zu. Langsam gehe ich in mein Zimmer und schmeiße meine Sachen auf mein Bett. Dabei schaffe ich es gerade so, das dauerhafte Sturmklingeln zu ignorieren. Er wird wahrscheinlich solange warten, bis ich wieder rausgehe. Vielleicht könnte ich es schaffen, mit dem Fahrrad an ihm vorbei zu fahren.
Allerdings öffnet sich unsere Garage nur sehr langsam und er würde genug Zeit haben, um sich mir in den Weg zu stellen. Aber wenn ich mich hinten vom Grundstück schleiche, kann er da vorne versauern. Das klingt nach einem guten Plan, also schnappe ich mir die Tasche und mache mich auf den Weg. Ich versuche die Hintertür möglichst leise zu verschließen und klettere dann über die Mauer. Nur ganz knapp schaffe ich es meine Uniform nicht einzusauen. Früher haben ich und mein Bruder uns immer so von unserem Grundstück weggeschlichen, um zu seinem Kumpel zu gehen. Ich mache meine Musik wieder an und gehe los.
Der Bahnhof ist zum Glück nur eine Viertelstunde Fußmarsch von unserem Haus weg. Gerade weit genug weg, damit wir die Züge nicht fahren hören und er dennoch in praktischer Nähe liegt. Die Fahrt wird etwa eine Stunde dauern. Danach, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, werde ich wohl noch einmal 15 Minuten durch die Innenstadt irren müssen. Als ich den Bahnhof erreiche bemerke ich, dass der nächste Zug schon in zwei Minuten fährt. Glück gehabt, sonst hätte ich locker eine halbe Stunde warten müssen. Schnell laufe ich zum Schalter und hole mir ein Ticket. Während ich auf den Zug warte, kontrolliere ich noch einmal mein Handy. Erschrocken stelle ich fest, dass ich drei verpasste Anrufe und zwei Nachrichten habe.
`Hi Cleo, wann genau kommst du denn heute?
Damit ich dann auch sicher da bin. ´
`Ich tippe mal, das nicht auf das Handy schauen hast du von mir.
Am Bahnhof wartet ein Kollege von mir auf dich. Da es schon so
lange her ist, dachte ich mir, dass du bestimmt nicht mehr den Weg weist. Er müsste ungefähr gegen 14.00 da sein. Ich dacht mir,
dass das am Wahrscheinlichsten ist. Falls du doch noch mal auf dein
Handy schauen solltest ruf mich bitte an. ´
Na toll, da schaut man einmal nicht auf sein Handy. Aber woher hätte ich auch wissen sollen, dass mein Vater sich doch dazu entschließt die moderne Technik zu benutzen. Momentan ist es schon halb zwei, ich werde es also nicht rechtzeitig schaffen.
`Hey Papa, ich habe tatsächlich nicht auf mein Handy geschaut.
Aber ich kann ja auch nicht ahnen, dass der Herr mir höchst
persönlich schreibt. Ich werde es nicht bis um 14.00 schaffen, stehe
gerade erst am Bahnhof und der Zug müsste gleich kommen. Müsste
also zu um 14.30 da sein. Woran erkenne ich deinen Kollegen denn? ´
Gerade als ich auf absenden drücke, kann ich den Zug hören. Ich mache mich auf den Weg zum Gleis und springe schnell hinein als die Türen sich öffnen. Wie ich erwartet habe ist der Zug zu dieser Zeit wie ausgestorben und ich habe fast ein komplettes Abteil für mich alleine. Bequem setze ich mich in einen der Viersitzer und warte auf den Schaffner. Lange muss ich auch nicht warten, der Zug fährt gerade erst 3 Minuten, als er auch schon nach meinem Ticket fragt. Danach lehne ich mich zurück und höre meiner Musik zu, während ich verträumt nach draußen blicke.
*
Sie wachte in einem kleinen, stickigen Raum auf. Vor dem einzigen Fenster hingen dicke Vorhänge, die nur sehr wenig Licht hereinließen. Als sie versuchte, sich zu bewegen schmerzte ihr Knöchel wieder fürchterlich. Allerdings schien in mittlerweile jemand verbunden und geschient zu haben, denn sie konnte ihren Fuß nicht bewegen. Langsam setzte sie sich auf, sie hatte auf einem kleinen Bett in einer Nische gelegen. Nicht sonderlich bequem, denn sie hatte davon Rückenschmerzen bekommen. Wo zum Teufel war sie hier?
Am besten wäre es sicherlich, wenn sie nach draußen ging und erst einmal einen Überblick verschaffte. Sie konnte gerade so erahnen wo die Tür war. Ganz langsam stand sie auf und tastete sich an der Wand entlang. Ihr Knöchel fing wie wild an zu pochen, aber irgendwie schaffte sie es die Schmerzen so gut es eben ging auszublenden. Sie tastete sich bis zur Tür vor und öffnete diesen einen Spalt. Draußen war es hell, sehr hell, um genau zu sein. Für einen kurzen Moment war sie geblendet, aber sie konnte immer noch hören. Sie erschrak, rauschen, schreiende Möwen und lauter Männerstimmen. Man hatte sie auf ein Schiff gebracht. Panik kam in ihr auf, wie sollte sie von hier entkommen.
Nein, entkommen hätte sie eh nicht können. Mit ihrem Knöchel wären alle Versuche aussichtslos gewesen. Was jetzt? Man würde sicherlich nicht in den anderen Königreichen nach ihr suchen. Das würde man sicherlich nicht. Was sollten sie schon tun? Sie war offiziell tot und wie sollte man erklären, dass man nach einer Toten suchte? Mit all ihrer Kraft klammerte sie sich am Türrahmen fest, sie war verloren. Was man wohl mit ihr machen würde? Sicherlich konnten sie nicht hinter einem Lösegeld her sein, dann hätten sie ihren Bruder entführt. Aber eigentlich hätten sie gar nicht von ihr wissen dürfen.
War dies vielleicht der Versuch ihres Vaters sie endgültig los zu werden? Schließlich hatte sie es auf die Spitze getrieben als sie ihm vor einer Woche gesagt hatte, sie würde niemals jemanden heiraten, den sie sich nicht selber ausgesucht hat. Darauf war er ziemlich wütend geworden und hatte geschimpft, dass sie wirklich zu gar nichts gut sei. Dann wäre das hier wirklich ihr Ende. Als sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse angepasst hatten, konnte sie die Typen wiedererkennen, die sie entführt hatten.
Der Arsch saß auf einem Fass und schien etwas zu polieren, wahrscheinlich seine Waffe, dabei unterhielt er sich aufgeregt mit dem Riesen. Ihrer ausfallenden Gestik nach, stritten sie sich. Den Glatzkopf konnte sie nirgendwo erkennen und auch den vierten der Truppe sah sie nirgendwo. Vielleicht waren sie irgendwo anders auf dem Schiff. Am besten sie legte sich wieder hin, weglaufen konnte sie schließlich nirgendwohin und wenn ihr nicht in nächster Zeit Flügel wachsen würden, dann könnte sie genauso gut gleich aufgeben. Zumindest brachte es ihr nichts, sich selbst unnötige Schmerzen zuzufügen. Also humpelte sie zurück zum Bett und legte sich wieder hin.
Schlafen war momentan undenkbar, aber vielleicht würde ihr ja doch noch eine Lösung einfallen. Aufgeben war für sie einfach keine Alternative. Es dauerte nicht lange bis jemand die Tür öffnete. Es war der Riese. Schlagartig setzt sich auf und bereute dies zugleich, es war schon eine gefühlte Ewigkeit her, seit sie das letzte Mal etwas getrunken hatte, geschweige denn gegessen. Benommen setzte sie sich richtig hin und starrte den Riesen wütend an. Er ging vorerst einfach an ihr vorbei und zog die Vorhänge zur Seite. Wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal bemerkt, dass sie wach war. Schließlich mussten seine Augen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Als er sich zu ihr umdrehte erschrak er, was ihr wenigstens ein wenig Selbstzufriedenheit einbrachte.
Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich vor sie. „Wie geht es deinem Knöchel?“ Nichts, sie würde ihm so leicht nicht antworten. Er seufzte und machte sich daran ihren Knöchel zu befreien. Immer wieder erschrak sie, wenn er ihren Knöchel berührte. Nachdem er ihn genau betrachtet hatte, rief er nach jemanden namens Johannsen. Nach wenigen Minuten kam der Arsch in den Raum. „Was?“ Er schien ziemlich gereizt. Mittlerweile hatte er sich umgezogen und trug nun ein weites Hemd und eine ziemlich alte Hose. Mit seinem Schwert am Gürtel sah er aus wie ein richtiger Pirat. „Sie dir das an! Wenn das nicht bald besser wird bekommt sie noch Fieber und stirbt uns weg!“ „Und? Was hat das mit mir zu tun?“
Der Riese stand auf und packte ihn am Kragen. „Das hier ist nur deine schuld! Wenn du von Anfang an vorsichtiger gewesen wärst, dann hätten wir das Problem jetzt nicht! Du weißt genau was passiert, wenn wir sie nicht heil nach Hause bringen!“ Bei dem letzten Satz biss er sich auf die Lippe und beide sahen erschrocken zu ihr. Sie saß da und beobachtete sie mit gehobener Augenbraue. Hatte sie das richtig verstanden? Sie mussten sie also wohlbehalten zu sich nach Hause bringen? Vielleicht würde ihr das noch gelegen kommen. „Auf jeden Fall will ich, dass du, wenn wir das nächste Mal einen Hafen anlaufen einen Arzt herbringst. Aber einen dem wir vertrauen können. Wir können nicht noch mehr Ärger gebrauchen.“ Sie seufzte und blickte aus dem Fenster.
Beide Männer sahen sie verwundert an. Wenn die nur wüssten. Anscheinend hatten sie nicht gründlich nachgeforscht, oder ihre Quellen waren sehr alt. Auf jeden Fall wussten sie wohl nichts von ihrem offiziellen Tod. Johannsen nickte nur eingeschnappt und verließ dann wieder den Raum. Bevor er außer Reichweite war, rief ihm der Riese noch nach: „Und schick Robin mit etwas zu essen her!“ Danach schmierte er eine widerlich riechende Paste auf meinen Fuß und verband ihn wieder. „Am besten du schonst ihn so gut wie möglich.“ Danach saß er einfach schweigend neben ihr und beobachtete sie, wie sie nach draußen sah. Nach einer Weile kam Robin. Zumindest glaubte sie es. Es war ein kleiner Junge, mit einem Tablett voller Essen und mit einem Krug voll Wasser. Er stellte das Essen neben ihr ab und starrte sie an. Anscheinend würde er sie nicht in Ruhe lassen, bis sie fertig war. Langsam fing sie an zu essen. Eine Vergiftung musste sie wohl vorerst nicht befürchten und sie fühlte sich völlig ausgehungert. Sie aß alles bis auf den letzten Bissen auf und trank fast den kompletten Krug leer. Der Riese nickte zufrieden und auch der Zwerg grinste breit. Er schnappte sich das Tablett und machte sich auf den Weg. „Brauchst du sonst noch etwas?“ Der Riese sah sie fragend an.
Sie seufzte, was hatte sie schon zu verlieren: „Informationen.“ Nach anfänglicher Verblüffung lächelte er. „Gut, was willst du wissen?“ Sie sah ihn überrascht an, sie hatte fest damit gerechnet, dass er sie abwimmelte. „Wer seid ihr, was wollt ihr und wo bringt ihr mich hin?“ Er hob beschwichtigend die Hände und sagte: „Immer langsam, wir haben alle Zeit der Welt. Also erst einmal, ich bin Friedjolf, der Typ, der vorhin hier war ist Johansen und der Knirps eben ist mein Sohn Robin. Vielleicht erinnerst du dich, aber der Typ, der dich auf das Schiff getragen hat heißt Toya. Was wir wollen? Tja, das ist gar nicht so einfach zu erklären. Aber in der Kurzfassung: Unser Auftrag ist es dich sicher und wohlbehalten nach Süfjen zu bringen. Warum wurde uns nicht gesagt.“
Er log. Sie erkannte es sofort, er wollte ihr den Grund nur nicht nennen, oder hatte Angst, dass sie sich, wenn sie den Grund erfuhr etwas antat. Anscheinend hielt er damit all ihre Fragen für beantwortet, denn er sah sie fragend an: „Sonst noch irgendwas?“ „Was muss ich tun, damit ihr mich zurückbringt?“ Er runzelte die Stirn. „Tut mir Leid Prinzesschen aber das steht nicht zur Debatte.“ Sie biss sich ärgerlich auf die Lippe, aber eigentlich hatte sie nichts Anderes erwartet. „Darf ich nach draußen? Es ist hier drin zu stickig.“ Friedjolf überlegte. „Eigentlich spricht nichts dagegen. Aber nur heute. Morgen musst du hier drinbleiben. Wir können nicht riskieren, dass dich jemand sieht.“ Er kam auf sie zu und wollte sie hochheben aber sie stieß ihn von sich weg.
„Ich werde mich sicherlich nicht von dir tragen lassen! Ich kann gut alleine gehen.“ Friedjolf hob überrascht eine Augenbraue und lachte dann spöttisch. „Und ich werde einen Teufel tun und dich rumlaufen lassen! Deine Verletzung würde nur schlimmer werden. Also entweder ich trage dich oder du bleibst hier.“ Sie sah ihn verärgert an und nickte knapp. Mit Leichtigkeit hob er sie hoch und stieß die Tür mit seinem Fuß auf. Draußen herrschte herrliches Wetter, der Himmel war strahlend blau und spiegelte sich in dem fast komplett klaren Wasser. Sie atmete tief ein. So roch also Seeluft. Das war das erste Mal, dass sie das Meer sah, geschweige denn auf einem Schiff fuhr. Es war sonderbar entspannend. „Ey Toya! Roll mal ein Fass rüber.“ Toya saß in einer Ecke und sah uns verwundert an. Gemächlich stand er auf uns nahm sich ein Fass. Er stellte es nahe der Reling auf und wartete bis Friedjolf sie abgesetzt hatte. Danach schien er auf etwas zu warten. Friedjolf seufzte und sagte dann: „Weißt du was Toya? Warum passt du nicht auf unser Prinzesschen hier auf? Dann kann ich unsere Route neu durchplanen.“ Toya nickte zufrieden.
Hatte sie etwas verpasst? Er nahm sich noch ein Fass und stellte es neben ihres. Sein Fass quietschte gefährlich als er sich darauf niederließ. „Du sprichst wohl nicht viel was?“ Er sah sie nicht einmal an und grummelte nur etwas Unverständliches. Was mit ihm wohl nicht in Ordnung war? Sie wandte ihren Blick von ihm ab und blickte auf das Meer hinaus. Es sah so wunderbar friedlich aus, die Möwen ließen sich von den Wellen treiben und tauchten ab und zu mal ab. Wie es da unten wohl aussah? Sie konnte es sich richtig vorstellen, in einem ihrer alten Bücher hatte sie bunte Bilder gesehen. Lauter kunterbunte Fische und Korallen. Ob es wohl möglich ist, dass man nach dort unten schwimmt? Schließlich muss ja schon einmal jemand dort unten gewesen sein, um diese Bilder anzufertigen bzw. in Auftrag zu geben. Nach und nach versank sie in Gedanken, während die Sonne ihr das Gesicht wärmte. Vielleicht war es hier ja doch nicht so schlimm. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so geborgen gefühlt wie gerade. Nicht einmal ihr Knöchel brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie hätte ewig so weitermachen können. Doch mit einem Mal lief es ihr kalt den Rücken runter.
Der Arsch hatte sich neben ihr auf die Reling gelehnt und starrte sie hasserfüllt an. „Na? Hat sich unser Prinzesschen schon eingelebt?“ Er wartete gar nicht erst auf eine Antwort und fuhr gleich fort. „Kann dir ja auch nicht schwer gefallen sein, mit treuen Kötern wie Friedjolf und Toya an jeder Hand.“ Er spukte aus. „Glaub mir ich werde dir sicherlich dein Leben nicht so einfach machen. Dein ganzes Leben in Luxus verbracht, wie könnt ihr `hohen Leute´ euch bloß einbilden uns auch nur annähernd zu verstehen. Ich kann es kaum noch erwarten endlich an zu kommen. Bin mal gespannt was sie sich alles Schönes für dich einfallen lassen.“
Sie ließ ihre Gedanken abschweifen und sah wieder auf das Meer hinaus. So gut es ging versuchte sie sich auf das Rauschen der Wellen zu konzentrieren und seine Vorwürfe und Beleidigungen zu ignorieren. Aber als er auf ihren Vater zu sprechen kam, wurde sie hellhörig. „Und dann erst dieser Idiot von einem König, was denkt er denn bitte was er da tut?! Wenn er so weitermacht, treibt er sein Reich in den Ruin. Ganz ehrlich ich kann verstehen warum man ihn abschaffen will.“ Bei diesem Satz grinste er widerlich, als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck sah. „Wie bitte?! Was redest du da!?“ Toya warf Johannsen verärgerte Blicke zu und wollte schon aufstehen. Allerdings hob Johannsen beschwichtigend die Hände.
„Keine Sorge Süße. Das erfährst du bestimmt irgendwann noch. Bloß nicht den hübschen Kopf darüber zerbrechen.“ Toya schien richtig wütend zu sein, er stand auf und hielt ihn am Kragen fest. „Hey, hey immer mit der Ruhe. Ich habe ihr doch gar nichts wichtiges verraten!“ Danach suchte er immer weiter nach Ausflüchten, doch Toya ließ ihn strikt nicht los, nach einiger Zeit kam Friedjolf auch noch dazu und versuchte die Beiden auseinander zu bringen. War das wirklich wahr? Sie hatte ihren Vater immer als geliebten König gesehen, aber was sollte das mit dem Ruin? Was tat ihr Vater denn? Wusste ihr Bruder davon und nur sie war im Dunkeln geblieben? Sie verstand nichts mehr, was war hier bloß los?! Wie aus einer Kurzschlussreaktion heraus griff sie nach einem Messer das an Toyas Gürtel hing und hielt sich die Klinge an die Kehle. Vielleicht würden sie ihr so ja endlich die Wahrheit sagen, viel hatte sie nicht zu verlieren und sie würde sicherlich nicht blind in ihren Untergang laufen. Die drei Männer bemerkten sie zunächst gar nicht, denn sie waren immer noch damit beschäftigt miteinander zu kämpfen. Sie merkte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen und sie fasste einen Entschluss. Fest biss sie die Zähne zusammen und stand auf, so schnell sie konnte stieg sie auf die Reling und hielt sich mit einer Hand an den aufgespannten Seilen fest. Wieder hielt sie sich die Klinge an die Kehle. Dieses Mal sahen sie sie.
„Was zu Hölle ist hier los!? Redet endlich!“ Vielleicht lag es an ihrem entschlossenen Gesichtsausdruck, vielleicht auch einfach daran, dass sie Mitleid mit ihr hatten, aber sie tauschten Blicke. Friedjolf versuchte sich ihr zu nähern und sie drückte die Klinge fester gegen ihre Haut. „Wag es ja nicht auch nur noch einen Schritt näher zu kommen! Ihr hab mir klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass ihr mich Lebend braucht! Also fangt endlich an zu reden oder ich schneide mir hier und jetzt die Kehle durch!“
Friedjolf wich erschrocken zurück. „Wir wissen wirklich nicht, warum wir dich entführen sollen glaub mir bitte! Bitte, komm da runter, was, wenn du ins Meer fällst?“ Sie sah ihm fest in die Augen und schüttelte nur leicht den Kopf. „Lügner.“ Friedjolf sah von Toya zu Johannsen und wieder zu ihr, jedoch kam ihm Johannsen zuvor.
„Ach scheiß drauf! Als ob sie sich wirklich die Kehle durchschneiden würde!“ Er wollte einen Schritt auf sie zu machen aber Friedjolf hielt ihn zurück. „Bist du völlig übergeschnappt?! Wegen dir haben wir schon genug Probleme!“ Sie überlegte.
Er hatte recht, sie könnte sich nicht die Kehle durchschneiden, sie hatte nicht genügend Mumm. Aber was hatte Friedjolf noch gleich gesagt? Das Meer war gleich hinter ihr, sie musste sich nur fallen lassen. Das würde sie schaffen.
Sie ließ das Messer fallen. „Er hat recht, ich könnte es nicht. Aber ich bleibe bestimmt nicht bei euch Lügnern.“ Damit ließ sie los. Sie sah die entsetzten Gesichter und lehnte sich nach hinten.
Sechs Hände versuchten verzweifelt sie zu packen aber es war zu spät. Sie fiel. Das Wasser war eisig kalt und gar nicht so friedlich, wie es geschienen hatte. Sofort wurde sie von Wellen unter Wasser gedrückt und jeder Versuch von ihr nach Luft zu schnappen war vergebens. Schon nach wenigen Versuchen gab sie auf. Ihr Fuß war ihr absolut keine Hilfe und selbst wenn sie es schaffte, würde sie ja doch nur wieder auf dem Schiff landen. Es gab einfach keinen Ausweg. Sie sank immer tiefer unter Wasser, die Bücher hatten gelogen, nichts war hell und farbenfroh. Nicht einmal ihre eigene Hand konnte sie erkennen. Alles war schwarz. Fühlte sich so der Tod an? Einfach nach nichts? Sie spürte nicht einmal mehr ihren Knöchel. Sie schloss ihre Augen, sie fühlte einfach nichts.