„Stell dir vor, Mama, die Susanne ist schwanger und ihre Mutter hat sie rausgeworfen! Sie hat gesagt: Wer erwachsen genug ist, sich mit einem Mann einzulassen, der ist auch fähig, einen eigenen Haushalt zu führen. Und hatten ihre Sachen gepackt und vor die Tür gestellt. Darf die das überhaupt? Susanne ist doch erst siebzehn!“
Frau Mayer hielt im Wischen inne.
„Ja“
sagte sie dann,
„das ist traurig. Wenn dir mal so was passiert wie deine Freundin, brauchst du keine Angst haben, ich werfe dich nicht raus, ich mache es dir weg.“
Marion Mayer stutzte. Wie meinte die Mutter denn das? Sie forschte:
„Du meinst abtreiben? Aber da machst du dich doch strafbar!“
Frau Mayer. schnaufte:
„Ja, ich mach mich strafbar, die Frau, die es sich machen lässt, macht sich strafbar, nur die Männer, die wild in der Gegend rumficken, die machen sich nicht strafbar. Kastrieren sollte man die!“
Marion kicherte. Dann hakte sie nach:
„Machst du wirklich solche Sachen, Mama?“
„Klar doch. Zuerst habe ich es nur bei mir selber gemacht, sonst hättest du noch viel mehr Geschwister. Dann kam diese jene und bat mich um Hilfe. Ich bekam gutes Geld dafür. Was meinst du wohl, wer dein Kleid bezahlt hat, das du zum Geburtstag bekommen hast, dein versoffener Vater vielleicht? Mach dir keine Sorgen, Kind, solang du eine Mutter hast, danke Gott und sei zufrieden.“
Ein paar Monate später gestand Marion ihrer Mutter, dass auch sie schwanger war. Auf einer Party nach dem Schulabschluss war es hoch her gegangen und sie konnte sich nicht mehr erinnern, mit wem sie geschlafen hatte. Frau Mayer untersuchte ihre Tochter und war sofort entsetzt:
„Himmel, du bist ja schon Ende vierten Monat wenn nicht noch weiter! Konntest du denn nicht früher zu mir komm? Ich hab dir doch gesagt, dass ich das in Ordnung bringe, aber doch nicht so spät!“
Marion schluchzte:
„Ich hab es doch nicht eher gemerkt! Kannst du es jetzt nicht mehr?“
Die Mutter antwortete: „Der Mensch kann alles, er muss nur wollen.“
Und machte sich ans Werk.
Leider war alle Mühe vergeblich. Der Fötus saß fest in der mitten. Das letzte Mittel wäre, die Fruchtblase aufzustechen, aber dazu konnte Frau Mayer. sich nicht durchringen, sie fürchtete, nicht nur das Engelchen, sondern auch die Tochter zu verletzen.
So kam zum vorausberechneten Geburtstermin ein kleines Mädchen zur Welt. Scheinbar völlig gesund, die Angehörigen atmeten auf. Eines Tages aber ward klar: Klein Lilly konnte nicht sehen.
Nach der Geburt ihrer Tochter hatte Marion eine eigene Wohnung bekommen, denn es war unzumutbar, dass sie mit dem Säugling in der Zweiraumwohnung blieb, wo sie bisher mit den Eltern und ihren beiden jüngeren Geschwistern gelebt hatte.
Nun war sie immer öfter bei den Eltern zu Gast, um sich auszuheulen. Die Mutter hielt ihr vor, dass alles besser verlaufen wäre, wenn sie rechtzeitig zu ihr gekommen wäre. Als das nicht half, versuchte sie zu trösten: „So ein kleiner Betriebsunfall kann doch schon mal passieren.“, und bekam zur Antwort: „Das hast du nur deswegen vermasselt, damit du mich aus dem Haus kriegst!“
Frau Mayer. sah, dass die Tochter mit dem blinden Kind überfordert war, aber sie selber war es auch. Keiner in dieser Familie wusste, wie man mit Behinderten umgeht. Wenn Marion die Kleine knuffte, mahnte die Mutter zwar:
„Eine Mutter liebt ihr Kind!“
doch Marion zischelte:
„Na ein Kind vielleicht, aber so eine Blindschleiche?“
Überhaupt ging man mit Lilly ziemlich ruppig um in dieser Familie. Der Opa verließ die Wohnung, sobald das Kind in Sicht kam und die Oma wäre auch gern geflüchtet.
Der jugendlichen Onkel legte der Kleinen Reißzwecken auf den Stuhl, die Tante spuckte ihr ins Essen. Sie kamen sich sehr klug und überlegen vor, wenn sie etwas „vor den Augen“ der Blinden taten, was ihr nachher zum Verhängnis wurde. Das war ihnen jedes Mal eine herrliche Gaudi, die sie genießen konnten, ohne Eintritt bezahlen zu müssen.
„Besser wie Dick und Doof!“
krähten sie, wenn sie wieder einmal allerlei kleine Gegenstände auf den Fußboden gelegt hatten, über welche Lilly unweigerlich stolpern musste und hinfiel.
Marion knirschte mit den Zähnen:
„Kleiner Betriebsunfall!"
"Mein ganzes Leben ist versaut durch dich!“
Als sie merkte, dass die Tochter intelligenter wurde als sie es war, brachte sie, sie nicht mehr zur Blindenschule. wie es dann so ist hat die schule beim Jugendamt eine Meldung gemacht und daraufhin kam das Kind in ein Heim. Endlich war Marion die Blage los, aber dafür hatte sie der Alkohol fest im Griff.