In derselben Sekunde zerbrach das Fenster hinter Shanora und sie wurde von zwei Händen gepackt. Sie wollte schreien, aber man presste ihr eine Hand über den Mund und zog sie zurück aus dem Fenster hinaus. Sie fiel zuerst, dann bremste der Fall abrupt und sie konnte den Mann, der sie entführt hatte, erkennen.
„Church, du hast mich gefunden!“, flüsterte sie glücklich. Er war ihr gefolgt und hatte sie gerettet. Nun seilten sie sich, mit den Fäden aus seinem Körper, gerade vom Hotel ab. Der Regen prasselte auf sie, unten auf dem Gehsteig stand schon Marbas mit einem Schirm.
"Schnell, die werden uns folgen, ich spüre Gefahr!", Marbas klopfte zweimal gegen die Wand.
"Wohin bringst du uns?", fragte Church misstrauisch, aber ein Blick nach oben veranlasste ihn einfach durch Marbas Portal zu gehen. Shanora folgte ihm, Marbas ebenso. Shanora hatte schon wie bei der ersten Reise durch Marbas Portal das Gefühl in einem Strudel zu stecken. Dessen Ende entpuppte sich als schneebedeckter Hügel, eine eiskalte Böe begrüßte die Drei.
"Wo sind wir?", fragte Church verdutzt, irgendwie kam ihm die Umgebung bekannt vor. Shanora entdeckte die Villa auf der Anhöhe als Erste. Viel Holz, im Stil eines alten Bauernhauses gebaut, natürlich mit einer riesigen Garage für sonstige Luxusfahrzeuge. Ein Naturbadeteich davor, zugefroren.
"Das ist es!", Shanora stürmte los, "Das Haus aus meiner Vision, mit der verschlossenen Kellertüre!"
Church nickte: "Ich werde Did hier herbringen, kann ich euch beide alleine lassen ohne das etwas passiert?" Sein strenger Blick galt vor allem Marbas, der beschämt auf den Boden starrte.
"Es war meine Schuld!", Shanora hoffte Church gütig stimmen zu können, "Ich habe Marbas benutzt, weil ich nicht mehr warten wollte! Aber ich habe meine Lektion gelernt! Nie wieder gehe ich alleine in die Unterlande! Wenn dieser Fremde nicht gewesen wäre..."
Church dunkle Augen warfen ihr einen fragenden Blick zu: "Das wollte ich dich sowieso noch fragen!"
Shanora senkte den Kopf: "Ich hätte nicht mit ihm gehen sollen..."
"Hat er dir etwas getan?", unterbrach Chruch sie harsch, sein Blick offenbarte aber große Besorgnis.
"Nein, auf keinen Fall!", Shanora hob abwehrend die Hände, "Wirklich nicht, er hat auf mich aufgepasst. Er erinnerte mich an dich, war unheimlich stark und geheimnisvoll!"
Church zog verwirrt seine Braue hoch: "Stark und geheimnisvoll sind wahrscheinlich nicht die Worte, mit denen die meisten Menschen mich beschreiben würden! Sein Name?"
Shanora seufzte, der Fremde hatte seinen Namen für sich behalten: "Ich weiß es nicht, aber der Zweite, der gerade kam, als du mich geholt hattest, er hieß Claude oder so. Er konnte mich riechen!"
Marbas mischte sich nun in die Unterhaltung ein: "Claude der Gestaltenwandler? Das kann nicht sein, er und der Rabe ziehen auf der Jagd nach Kopfgeldern durch den neunten Kreis. Man sagt jeder, der den Raben trifft, wird sterben! Er hat keinerlei Emotionen, die Gefühle anderer liest er aber spielerisch!"
Shanora schauderte bei dem Gedanken, dass sie einem Verbrecherduo begegnet war. Die Beschreibung von Marbas passte zu ihrem Fremden, auch wenn sie ein paar mal das Gefühl gehabt hatte, dass er sehr wohl Gefühle hatte. Irgendwo hinter einer Mauer, die er aufgebaut hatte, verborgen.
"Geht schon mal vor und findet heraus, ob es den Keller gibt, ich komme gleich nach!", Church ließ die beiden mit ihren Mutmaßungen alleine zurück.
"Lass uns nach drinnen gehen!", Shanora setzte sich in Bewegung, "Sonst erfrieren wir hier noch!" Marbas schien immer noch um seine Fassung zu ringen, die mögliche Begegnung von Shanora und dem Raben verstörte ihn. Die hölzerne Türe der Villa war dieselbe wie in Shanoras Vision, aber sie schwang nicht auf, blieb verschlossen.
"Verdammt!", fluchte sie und begann an der Türklinke zu rütteln.
"Bei einer solchen Sprache und Ungeduld könnte man fast meinen, dass sie wirklich die Schwester des kleinen Finns ist!", eine spitze Stimme ließ Shanora herum fahren. Hinter ihr war Church erschienen, in Begleitung einer alten Frau. Ihr weißes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, der ihr bis zur Hüfte hing. Die gelben Augen blitzen nur so vor Leben und ließen das faltige Gesicht beinahe unwirklich wirken. Sie trug einen langen grauen Mantel mit Kapuze und stütze sich auf einen knorrigen Wanderstab. Alles in allem sah sie wie eine Hexe aus einem alten Märchen aus.
"Hat es dir die Sprache verschlagen Mädchen?", krächzte die Alte, "Finn hätte schon lange eine freche Antwort gegeben!"
Dann schubste sie Shanora mit ihrem Stock beiseite und stellte sich vor die Türe: "Der Junge hat sicher ein Siegel angebracht, um die Türe vor übernatürlichen Einbrechern zu schützen, geh beiseite und lass die Alten ihren Job machen!"
Sie klopfte mit dem Stab dreimal gegen die Klinge und rief laut: "Hubo Boss, Harley Davidson, Tittendachs!"
Church warf Shanora einen verstörten Blick zu, sie deutete auf die alte Frau und flüsterte: "Die hat ja wohl ne Schraube locker!"
Did dreht sich um und verpasste beiden einen Schlag auf den Kopf mit dem Stock: "Ich bin vielleicht alt, aber noch lange nicht taub, freche Kinder! Außerdem ist der Sinn eines Siegels, dass man es nicht einfach lösen kann. Finn hat kreative Passwörter benutzt!"
Hinter ihr schwang die Türe auf und sie grinste triumphierend.
Marbas schien nun vollends verwirrt zu sein: "Was zum Teufel ist das alles, vor allem der Tittendachs würde mich interessieren!" Church deutete ihm den beiden Frauen ins Haus zu folgen und keine Fragen mehr zu stellen. Auf manche Fragen gab es einfach keine Antwort und Finns kreative Wortgestaltungen waren auch ihm immer ein Rätsel geblieben. Shanora und Did wurden einstweilen von einem dürren alten Mann im schwarzen Anzug aufgehalten. Sein Gesicht faltig, die Augen schwarz und leer, kein Mensch, sondern eindeutig ein Wesen.
"Ein Sensenmann?", Did schien begeistert zu sein, "Da hat sich Finn aber einen besonderen Butler gesucht!"
Der Sensenmann glitt durch Did hindurch und verharrte vor Shanora: "Willkommen, im oberen Stock erwarten sie 6 Schlafzimmer und 4 voll ausgestattete Bäder. Zu ihrer linken führt der Gang in die Wohnküche, rufen sie mich, wenn ich Speisen zubereiten soll. Zu ihrer Rechten führt der Gang zum Hallenbad und zum Labor im Kellergeschoss. Genießen Sie ihren Aufenthalt Prinzessin!" Dann löste er sich in Luft auf.
"Wow, das war unheimlich!", stellte Church hinter ihr fest, "Ich war schon mal hier, aber den hat Finn mir nicht gezeigt!"
Did verzog ihren runzeligen Mund zu einem verächtlichen Lächeln: "Finn hat den Sensenmann befreit, dieser ist ihm zu ewigem Dank verpflichtet, er scheint ihn hergerufen zu haben bevor er zu Badria aufgebrochen ist!" Church nickte, das passte zu Finn, immer auf alle Eventualitäten vorbereitet. Er musste den Sensenmann beauftragt haben Shanora im Haus verkehren zu lassen und mögliche Eindringlinge abzuwehren. Die Vorstellung wie ein Sensenmann ihnen morgens Rühreier zubereiten würde amüsierte ihn noch zusätzlich.
"Hallenbad?", jetzt erst begriff Shanora was für eine Bleibe sie hier gefunden hatten.
Church nickte: "Ja, mit Aussicht auf das Bergpanorama! Finn hatte Geschmack und in dieser Welt ein Imperium aufgebaut. Der perfekte Ort für eine Art Zentrale!"
Shanora nickte: "Niemand wird uns hier suchen! Hier können wir uns neu organisieren und unsere Missionen starten!"
Did nickte: "Hier könnt ihr vor allem eines tun!"
Die alte Frau kicherte unter den fragenden Blicken der anderen: "Wenn meine Vermutungen stimmen, dann ist hier das Labor des Jungen! Er hat all die Jahre geforscht um möglichst viel über den Dunklen und seine Pläne heraus zu finden! Die Ergebnisse könnten diese Krise maßgeblich beeinflussen!"
Shanora blickte die alte Frau fragend an: "Woran hat Finn hier gearbeitet?" Did blickte verlegen zur Seite, ein kurzer, schmerzvoller Schleier legte sich über ihre Augen. Shanora glaubte tiefe Trauer darin zu erkennen.
"Er hat seine DNA erforscht und andere Dinge! Ich bin sicher wir finden in diesem Labor antworten!", erklärte sie schließlich, "Außerdem hat er mir etwas übergeben, im Falle seines Ablebens oder anderer Schwierigkeiten sollte ich dafür sorgen, dass du es erhältst, Shanora!" Did deutete Shanora vorzugehen, vorbei an dem Schwimmbad bis hin zu der Tresortüre zum Keller aus ihrem Traum. Sie begann an den verschiedenen Rädern des Mechanismus zu drehen, bis in jedem der drei Felder eine 6 erschienen war. Dann sprang die Türe mit einem leisen Klicken auf, erst jetzt wurde ersichtlich, wie dick das Metal war.
"Eine Hochsicherheitstüre!", stellte Church fest, "Finn wollte nicht, dass irgendjemand außer uns diesen Ort betreten kann!" Eine für das Haus beinahe zu alt wirkende, steinerne Treppe führte in die Dunkelheit. Church kam die Inschrift zu bekannt vor. Das Wort "Nirgendwo" zierte die erste Treppe, schnell hinderte er Marbas daran sie zu betreten.
"Was ist?", wollte Shanora wissen, Marbas wich ebenfalls erschrocken zurück.
"Das ist die eigentliche Sicherung, der Ort Nirgendwo war durch Tempelkatzen bewacht. Sie hätten jeden in Fetzen gerissen, der hier herunterkommt ohne Finns Wunsch!", erklärte Church.
Marbas nickte: "Gut, dann werde ich wohl oben bleiben! Vielleicht macht mir dieser Sensenmann einen Snack oder so!"
Chruch seufzte: "Du könntest auch nach Amergyn reisen und uns diesen Seesack holen, den Finn aus der dunklen Kathedrale gestohlen hat!" Marbas nickte, seine Pause war damit wohl gestrichen.
Ohne weitere Zwischenfälle konnte Shanora nun die Treppen hinab steigen, sie landete vor einer Schleuse, die allem Anschein nach zur Desinfektion gedacht war. Was hatte Finn hier nur getan? Hinter den automatischen Türen lag ein großes Labor, hell erleuchtet, voller Computer und eigenartiger Gefäße mit noch eigenartigeren Dingen darin. Unzählige Maschinen und Messapparate, Pipetten und Glasröhrchen. Auf dem großen Schreibtisch in der Mitte stapelten sich Papiere und Ordner, das einzig normale an dem weißen Raum schien das Foto neben dem StandPC zu sein. Darauf waren Finn und Shanora in Kindertagen zu sehen. Shanora setzte sich an den PC und bewegte die Maus, was ihn schnurrend zum Leben erweckte.
"Ist das ein Video?", fragte Church gespannt als er Finns Gesicht auf dem Bildschirm sah. Shanora hatte einen Kloß im Hals, ihr Magen schien sich zu drehen. Dids Blick wurde wieder eigenartig besorgt, Shanora war sich sicher, dass die alte Frau mehr wusste, als sie zugab. Aufgeregt klickte Shanora auf das kleine "Play" Zeichen in der unteren linken Ecke, ein Ladebalken erschien, dann konnte man Finn auf genau diesem Platz sitzen sehen.
Er sah abgekämpft und müde aus, seine Augen wirkten matt und seine Haare stumpf. Die Kleidung, die er trug hing in Fetzen und war voller Blut, außerdem schien er abgemagert zu sein.
"Wenn ihr das hier seht habt ihr gefunden was ihr sucht!", begann er zu sprechen, "Shanora, ich hoffe du hörst zu! Ich weiß, dass ich meine bevorstehende Reise in den Limbus wahrscheinlich mit dem Leben bezahlen werde, aber ich muss es tun. Um zu verhindern, dass mein Erzeuger erneut an die Macht kommt! Es war immer mein Wunsch die militärische Stärke von Elensar und damit den Frieden zu sichern, aber man ließ mich nie. Nannte mich einen Narren und das was ich tat Kriegstreiberei. Die Ältesten sind blind und korrupt, halte dich von ihnen fern! Ich hoffe, dass es Church gelang Did aufzuspüren und sie bei euch ist! Sie muss ihr Versprechen halten und tun was nötig ist. Vor allem aber muss sie dir das Oculus des Nachtschattens geben. Es wird dir helfen zu verstehen und die Welt durch meine Augen zu sehen!"
Er schien eine kurze Pause zu machen und sich umzusehen: "Church... Es tut mir so Leid mein Freund. Ich habe dich all die Jahre belogen. Ich hoffe, du kannst es verstehen, Did soll dir die Wahrheit über unsere erste Begegnung erzählen. Und über die Zeichen auf deinem Rücken! Ich weiß nun wie es sich anfühlt wenn nichts, von dem was man dachte zu wissen real ist. Ich hoffe du kannst mit dem, was du erfährst, umgehen. Aber ich vertraue darauf, dass du mich vertrittst und auf meine Schwester acht gibst!"
Church starrte gebannt auf den Bildschirm, er bekam plötzliche Kopfschmerzen beim Versuch sich an seine erste Begegnung mit Finn zu erinnern.
Finn schien sich wieder umzusehen: "Und Did, ich weiß ich verlange viel zu viel von dir. Bitte erzähle Church die Wahrheit oder noch besser, zeig sie ihm und Shanora durch den Oculus! Und öffne das Siegel auf meinem Geschenk an euch! Mit dem Oculus werdet ihr die Informationen bekommen, die ihr braucht! Wir wissen beide, dass der schwarze Thron seinem eigenen Willen folgt. Ein reinblütiger Dunkler wird bevorzugt. Ich habe eine... Es tut mir leid, ich muss gehen!" Finn blickte sich hektisch um.
Auf einmal brach das Bild ab, der Bildschirm wurde schwarz. Betroffene Stille herrschte nun zwischen den dreien.
Did brach das Schweigen schließlich und holte etwas aus ihrem Mantel hervor. Einen Gegenstand, der eine unheimliche Macht ausstrahlte. Nicht mehr als eine Perlenkette, aber die Perlen schienen nicht aus einer Muschel zu stammen. Falls sie überhaupt materiell waren, sie wirkten spektral und leuchteten in einem dunklen Violett.
"Sie sind aus der Essenz des Nachtschattens gemacht, ich wollte sie einst meinem Sohn vererben, dazu kam es aber nie!", erklärte Did, "Sie haben die Macht die Erinnerungen anderer zu sehen und zu übertragen, darum nennt man sie das Oculus des Nachtschattens!"
Shanora starrte gebannt auf die Perlen: "Zeig uns was wir wissen müssen!"