Der saftige Laubwald um Shanora gab ihr beinahe ein Gefühl von Heimat. Sie spazierte mit ihrem Rucksack seit Stunden an einem kleinen Bach entlang, der sie direkt nach Windun führen sollte.
Die alte Siedlung, welche verborgen im Wald liegen sollte, konnte nicht mehr weit entfernt sein.
Neben dem Plätschern des Flusses hörte sie auch noch eine tiefe Männerstimme. Sein Gesang mischte sich zu dem zwitschern der Vögel, Shanora fand es wunderschön.
Sie musste kurz stehen bleiben und den großen Mann, der am Fluss vor seinem Lagerfeuer saß lauschen.
Er schien Fisch gefangen zu haben und zu braten, dabei sang er einige Zeilen aus der Götterdämmerung:
"Allen Edeln Gebiet ich Andacht,
Hohen und Niedern von Heimdalls Geschlecht;
Ich will Walvaters Wirken künden,
Die ältesten Sagen, der ich mich entsinne.
Riesen acht ich die Urgebornen,
Die mich vor Zeiten erzogen haben.
Neun Welten kenn ich, neun Äste weiß ich
An dem starken Stamm im Staub der Erde.
Einst war das Alter, da Ymir lebte:
Da war nicht Sand nicht See, nicht salzige Wellen,
Nicht Erde fand sich noch Überhimmel,
Gähnender Abgrund und Gras nirgend.
Bis Börs Söhne die Bälle erhuben,
Sie die das mächtige Midgard schufen.
Die Sonne von Süden schien auf die Felsen
Und dem Grund entgründe grüner Lauch.
Die Sonne von Süden, des Mondes Gesellin,
Hielt mit der rechten Hand die Himmelrosse.
Sonne wuste nicht wo sie Sitz hätte,
Mond wuste nicht was er Macht hätte,
Die Sterne wussten nicht wo sie Stätte hatten.
Da gingen die Berater zu den Richterstühlen,
Hochheilge Götter hielten Rath.
Der Nacht und dem Neumond gaben sie Namen,
Hießen Morgen und Mitte des Tags,
Under und Abend, die Zeiten zu ordnen.
Die Asen einten sich auf dem Idafelde,
Hof und Heiligtum hoch sich zu wölben.
(Übten die Kräfte Alles versuchend,)
Erbauten Essen und schmiedeten Erz,
Schufen Zangen und schön Gezäh.
Sie warfen im Hofe heiter mit Würfeln
Und darbten goldener Dinge noch nicht.
Bis drei der Thursen- töchter kamen
Reich an Macht, aus Riesenheim.
Da gingen die Berater zu den Richterstühlen,
Hochheilge Götter hielten Rath,
Wer schaffen sollte der Zwerge Geschlecht
Aus Brimirs Blut und blauen Gliedern.
Da ward Modsognir der mächtigste
Dieser Zwerge und Durin nach ihm.
Noch manche machten sie menschengleich
Der Zwerge von Erde, wie Durin angab.
Nyi und Nidi, Nordri und Sudri,
Austri und Westri, Althiofr, Dwalin,
Nar und Nain, Nipingr, Dain,
Bifur, Bafur, Bömbur, Nori;
Ann und Anarr, Ai, Miödwitnir.
Weigr, Gandalfr, Windalfr, Thrain,
Theckr und Thorin, Thror, Witr und Litr,
Nar und Nyradr; nun sind diese Zwerge,
Regin und Raswidr, richtig aufgezählt.
Fili, Kili, Fundin, Nali,
Hepti, Wili, Hannar und Swior,
Billingr, Bruni, Bildr, Buri,
Frar, Hornbori, Frägr und Loni,
Aurwangr, Jari, Eikinskjaldi.
Zeit ists, die Zwerge von Dwalins Zunft
Den Leuten zu leiten bis Lofar hinauf,
Die aus Gestein und Klüften strebten
Von Aurwangs Tiefen zum Erdenfeld.
Da war Draupnir und Dolgthrasir,
Har, Haugspori, Hläwangr, Gloi,
Skirwir, Wirwir, Skafidr, Ai,
Alfr und Yngwi, Eikinskjaldi.
Fialar und Frosti, Finnar und Ginnar,
Heri, Höggstari, Hliodolfr, Moin.
So lange Menschen leben auf Erden,
Wird zu Lofar hinauf ihr Geschlecht geleitet.
Gingen da dreie aus dieser Versammlung,
Mächtige, milde Asen zumal,
Fanden am Ufer unmächtig
Ask und Embla und ohne Bestimmung.
Besaßen nicht Seele, und Sinn noch nicht,
Nicht Blut noch Bewegung, noch blühende Farbe.
Seele gab Odhin, Hönir gab Sinn,
Blut gab Lodur und blühende Farbe.
Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
Den hohen Baum netzt weißer Nebel;
Davon kommt der Thau, der in die Thäler fällt.
Immergrün steht er über Urds Brunnen.
Davon kommen Frauen, viel wissende,
Drei aus dem See dort unterm Wipfel.
Urd heißt die eine, die andre Werdandi:
Sie schnitten Stäbe; Skuld hieß die dritte.
Sie legten Looße, das Leben bestimmten sie
Den Geschlechtern der Menschen, das Schicksal verkündend.
Allein saß sie außen, da der Alte kam,
Der grübelnde Ase, und ihr ins Auge sah.
Warum fragt ihr mich? was erforscht ihr mich?
Alles weiß ich, Odin, wo du dein Auge bargst:
In der viel bekannten Quelle Mimirs.
Meth trinkt Mimir allmorgentlich
Aus Walvaters Pfand! wisst ihr was das bedeutet?
Ihr gab Heervater Halsband und Ringe
Für goldene Sprüche und spähenden Sinn.
Denn weit und breit sah sie über die Welten all..."
Shanora beschloss nun doch weiter auf ihn zu zugehen um ihn anzusprechen. Er musste wirklich riesig sein, seine muskulösen Oberarme waren so breit wie Shanoras Oberkörper. Seine Haut war sehr blass und von dunkelblauen, tätowierten Runen geziert.
Sein langes weißgraues Haar war zu einem Zopf geflochten, wie auch der weiße Bart, der ihm bis zur Brust ging.
Er trug lederne Wams und eine Leinenhose in undefinierbarer dunkler Farbe, neben seinem Lagerfeuer lag eine Streitaxt.
Sein Gesang verstummte plötzlich, seine blauen Augen ruhten aber weiter auf dem beinah fertigen Fisch.
"Ich würde genau da stehen bleiben Mädchen!", rief er laut.
Shanora verharrte sofort, spürte einen Luftzug hinter sich und eine Klinge an ihrem Hals.
"Was willst du von mir?", wollte der Nordmann weiter wissen, "Warum schleichst du dich an mich heran?"
Shanoras Körper verkrampfte sich, trotzdem versuchte sie halbwegs sicher zu klingen: "Ich habe mich nicht angeschlichen! Ich habe bloß deinem Gesang gelauscht!"
Norbert erhob sich nun, Shanora hatte noch nie einen so großen Menschen gesehen.
"Und was willst du von mir? Cash, was ist sie?", rief Norbert seinem Kumpanen zu, er Shanora das Messer an die Kehle hielt.
"Ich weiß nicht!", eine wohl bekannte Stimme erklang in Shanoras Ohr, "Kein Dämon, kein Teufel! Aber ich kann einen Haufen Magie riechen, vielleicht eine Hexe oder so etwas!"
Shanora entschloss sich zu einem mutigen Schritt, sie griff nach dem Arm in dem Cash das Messer hielt und wand sich dann aus seinem Griff. Gerade als sie sich für erfolgreich gehalten hatte bemerkte sie, dass sie wieder in der selben Postion stand.
"Gib es gleich auf Mädchen, niemand ist schneller als Cash!", lachte Norbert.
"Außer er hat ein Loch im Bauch!", knurrte Shanora, erst da wurde das Messer von ihrem Hals entfernt.
"Du bist das!", stellte er überrascht fest, "Norbert! Das ist das Mädchen! Sie hat mir im Wald das Leben gerettet!"
Shanora drehte sich nun zu ihm um. Sein graues Haar glänzte in der Sonne und seine Augen strahlten in den beiden unnatürlichen Farben. Links Blutrot, rechts Violett. Das Braune mussten also Kontaktlinsen gewesen sein.
"Du bist ja Shanora!", stellte er überrascht fest, "Mit dieser eigenartigen weißen Maske habe ich dich gar nicht erkannt!"
Seine Stimme klang wieder wie vor der Bäckerei, warm und sanft. Shanora nickte, sie war überrascht, dass er sich an sie erinnerte.
"Ich will ja nicht stören!", Norbert winkte den beiden zu, "Aber so vertrauensselig können wir nicht sein, Shanora! Ich hoffe du verstehst also die harsche Begrüßung!"
Shanora nickte: "Schon okay, du bist Norbert, der Nordmann, oder?"
Norbert nickte: "Ja, warum suchst du nach mir? Sicher nicht um Lieder und Geschichten zu hören!"
Shanora schüttelte den Kopf: "Nein, obwohl dein Gesang mich beeindruckt hat! Du warst in Ilks um dich mit meinem Bruder zu treffen, oder?"
Norberts Stirn runzelte sich: "Der Bengel kam nicht zu unserem Treffen... Ich hätte seine Hilfe gebraucht!"
Shanora unterbrach ihn: "Darum bin ich hier! Mein Bruder ist schwer verletzt und liegt im Koma! Ich vertrete ihn!"
Norbert musterte sie verwirrt, er schien sich nicht vorstellen zu können, dass sie eine würdige Vertretung für Finn war.
"Also?", fragte Shanora, "Was wolltest du mit ihm besprechen?"
Norbert warf Cash auf einmal einen eigenartigen Blick zu: "Später, nun sollten wir erst einmal essen um uns kennen zu lernen! Der Fluss nährt uns, dafür danke ich Odin!"
Shanora beschloss nicht zu erwähnen, dass ihre Zeihmutter einmal von einem einäugigen Mann namens Odin unterrichtet worden war. Sie wollte den allem Anschein nach gläubigen Wikinger nicht beleidigen.
Sie setzte sich mit den beiden anderen ans Lagerfeuer und Norbert reichte ihr eine Forelle, die auf einen Stock gespießt war.
"Pass mit den Gräten auf!", riet Cash ihr und nahm das Tuch, mit dem er sein halbes Gesicht verborgen hatte, ab.
Shanora konnte nicht anders als ihn anzustarren. Er hatte ebenmäßige Gesichtszüge, beinahe wie ein Elf. Jetzt, ohne Blutverlust und verzerrtes Gesicht, wurde seine Schönheit erst deutlich. Sein Blick ruhte nun fragend auf ihr.
Er schien von dem Gestarre verwirrt zu sein: "Stimmt etwas mit meinem Gesicht nicht?"
Shanora schüttelte schnell den Kopf: "Nein, also doch! Also... Nein dein Gesicht ist total in Ordnung!"
Norbert lachte: "Einer der Gründe warum Hannibal Cash sich immer unter einer Maske versteckt ist, dass sonst alle Frauen hinter ihm her sind!"
Shanora merkte wie ihr Gesicht knallrot anlief und ihre Handflächen zu schwitzen begannen.
Wie peinlich ihr diese Situation war. Sie hatte sich schon wieder völlig blamiert.
Auf einmal sprang Cash blitzschnell auf: "Norbert, sie sind wieder in Reichweite!"
Norbert wirkte überrascht: "Bist du sicher?"
Cash nickte und seine Miene schien sich zu verhärten: "5 Kilometer, höchstens!"
Norbert fuhr sich nachdenklich über den geflochtenen Bart: "Wie sollen wir uns verhalten?"
Cash deutete in die Richtung, aus der Shanora gekommen war: "Ich werde nachsehen ob sie wirklich unsere Spur verfolgen oder zufällig hier sind! Bleibt auf jeden Fall hier und haltet euch bereit! Das sind üble Typen!"
Im selben Moment verschwand er blitzschnell.
"Was?", Shanora blickte verunsichert zu Norbert, der genüsslich seinen Fisch weiter aß.
"Cashs Augen sind etwas besonderes! Der Junge hat durch das violette ein 360° Blickfeld und durch das Linke kann er die Absichten seiner Gegner erkennen!", erklärte er ruhig.
"Aber... Wodurch hat er diese Fähigkeiten?", fragte Shanora interessiert. Dagegen waren Lillets Augen ein Kinderspielzeug.
"Darüber wollte ich mit Finn sprechen! Der Junge braucht dringend seine Hilfe!", Norbert sah auf einmal besorgt aus, "Dieses Geheimnis wird mich eines Tages mein Leben kosten. Aber ihn seines auch! Und das kann ich nicht zulassen, ich habe ihn doch aufgezogen!"
Shanora versuchte nicht zu aufdringlich zu klingen: "Er ist also nicht dein Sohn?"
Norbert schüttelte den Kopf: "Nein, auch wenn ich ihn als diesen betrachte... Eine Freundin übergab mir die Verantwortung für ihn kurz bevor ihr ganzer Klan ermordet wurde. Damals hielt ich es für einen Zufall. Heute bin ich mir sicher, dass mehr dahinter steckte!"
Das krächzen irgendeines großeren Vogels riss Shanora aus der Starre, in die sie verfallen war. Finn hatte nicht ohne Grund vor gehabt Norbert zu treffen.
Er hatte wohl den selben Verdacht gehabt wie sie gerade.
Einen schrecklichen Verdacht.
Der Nordmann zog einen vergilbten Umschlag aus seinen Wams und reichte ihn Shanora.
Er war schon einmal geöffnet worden, die dreckigen Ränder verrieten, dass das viele Jahre her sein musste.
"Was ist das?", fragte sie aufgeregt.
Norbert senkte den Kopf: "Das ist mein größtes Geheimnis! Ich trage es bald 20 Jahre mit mir herum. Ich weiß, ich habe kein Recht es geheim zu halten! Aber Cash ist nicht so! Er ist ein sanfter Junge! Es würde ihn zerstören!"
Shanora nahm den Umschlag aus den riesigen Händen des Nordmanns, dieser nickte ihr zu.
Sie zog den alten, handgeschriebenen Brief heraus und begann zu lesen:
Norbert,
die Geister des Waldes gewährten mir Klarsicht, wenn auch nur für einen Moment. Der Mann, den ich für meinen Gefährten hielt, hat mich betrogen. Er ist nicht was er vorgibt zu sein. Er ist der Dunkle, der machthungrige Herrscher des schwarzen Throns.
Er wird zurückkehren und sich unser Kind holen, ich schätze dafür hat er mich gebraucht.
Die Geister flüsterten einen Namen, sie sprachen von meinem Sohn als dem Kind der Finsternis.
Du musst ihn nehmen, den ich werde die Nacht nicht überleben! Erzähl ihm wenn er alt genug ist wer er ist, und wenn er nach seinem Vater kommt, dann töte ihn.
Er darf nie an Macht gelangen!
Es tut mir Leid das von dir verlangen zu müssen, aber ich kann nur dir trauen!
Alith
Man sah, das Alith diese Zeilen in Eile geschrieben hatte, ihre Unterschrift war völlig verwackelt.
"Sie starb in dieser Nacht!", Norbert schaute traurig ins Feuer, "Ich habe den Brief erst vor einem Jahr geöffnet! Als es bei Cash anfing das..."
Er brach ab, Shanora konnte nicht fassen, dass tatsächlich eine Träne über seine Wange rollte.
"Er trägt so viel Dunkelheit in sich, ich habe manchmal Angst er könnte...", Norbert wischte sich über die Augen, er konnte nicht weiter sprechen.
Shanora wusste auch nicht was sie dazu sagen sollte.
Sie hatte den Erben des Dunklen gefunden. Und sie hatte selbst gesehen, das der so sanfte und nett wirkende junge Mann auch so hasserfüllt sein konnte. Sie hatte Angst vor ihm gehabt.