Ich schreckte hoch, als plötzlich Stimmen an meine Ohren drangen. Im Nu war ich wach und saß wieder aufrecht, jeder Nerv meines Körpers war bis zum Zerreißen gespannt und mein Herz hämmerte wild an meine Brust. War das nur Einbildung gewesen? Ich hoffte es so sehr. Doch je mehr ich hoffte, desto kleiner wurde meine Hoffnung, dass die Stimme nur in meinem Kopf gewesen wäre. Vorsichtig stand ich auf und passte auf, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, bis ich an der angelehnten Tür angelangte. Es war mir schon bewusst, welches Risiko ich da auf mich nahm, doch ich musste wissen, ob wirklich Menschen in der Nähe waren. Der Gedanke, dass es nur Einbildung gewesen war, war immer noch da – ich klammerte mich an einem Strohhalm fest, während ich über dem Grand Canyon hing. Leider waren tatsächlich Leute draußen – wahrscheinlich hatte ich länger geschlafen, als ich anfangs angenommen hatte. Vor Schreck beobachtete ich, wie eine der Frauen sich bückte und etwas aufhob – zuerst konnte ich nicht erkennen, was es war, doch dann erkannte ich einen blauen, mit etwas Matsch verziertem Buchrücken : das Buch, das ich weggeschmissen hatte und dessen Existenz ich bereits wieder vergessen hatte. Mein Herz raste als ich die Szene vor mir beobachtete, während ich selbst in meinem Versteck im Schatten weilte.
„Wer hat denn dieses Buch hier hingeworfen?”, wunderte sich die zweite Frau und sah sich verwirrt um, wobei die andere aussah, als wäre sie kurz davor, das Buch wieder fallenzulassen.
“Es war bestimmt irgendein Teenager, der es einfach nur nicht mehr wollte und nicht wusste, wohin damit”, sagte die Blonde und verdrehte die Augen. Die Rothaarige schien kurz nachzudenken, dann nickte sie.
“Wahrscheinlich hast du recht”, meinte diese dann. Zu meinem Entsetzen ließen die Beiden das Buch aber nicht liegen, sondern nahmen es mit sich. Als ich sicher war, dass sie außer Hörweite waren, fluchte ich ununterbrochen. Wieso hatte ich das Buch nicht einfach zuhause lassen können? Nein, ich hatte es natürlich einpacken müssen, um es dann hier loszuwerden. Ganz toll, Jenna. Wirklich gute Arbeit. Ich konnte nicht wirklich etwas dagegen tun, denn den beiden Frauen hinterher rennen war keine Option. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit meiner Situation abzufinden – damit kannte ich mich mittlerweile leider aus und wusste, wie ich mich einigermaßen anlegen musste. Ich konnte nur hoffen, dass niemand das Buch mit mir verbinden würde, denn dann wäre ich wirklich nicht gut dran. Das war ich zwar ohnehin nicht, aber dann wäre es wahrscheinlich schlimmer. Höchstwahrscheinlich.
Nachdem einige Zeit vergangen war und ich mich vergewissert hatte, dass die beiden Frauen ganz sicher nicht zurückkommen würden, verließ ich die Hütte und ging zu der Quelle, um mich ein wenig zu waschen und auch meinen Durst zu stillen. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal getrunken hatte – meiner staubtrockenen Kehle zu urteilen war es schon eine ganze Weile her. Vorsichtig bewegte ich mich durch den Wald und versuchte, so wenig Blätter wie möglich zu zerquetschen, damit mich niemand bemerkte. Ein Schauer überlief mich, als ein Rabe mich anstarrte – nicht einmal das war in irgendeiner Weise angenehm. Die Gännsehaut, die mich überfiel, ließ mich für einen kurzen Moment erzittern, doch der verdammte Vogel ließ mich nicht aus den Augen, so als ob er wüsste, was ich getan hatte. Ich hasste Raben. Als er immer noch nicht fortflog, entfernte ich mich von ihm und drehte ihm den Rücken zu, was sich allerdings anfülte, als würde er mich mit seinen Blicken durchbohren.
Als ich die Quelle schließlich erreichte, war ich ziemlich erleichtert. Nach dem Vorfall mit dem Raben war ich niemanden – egal ob Mensch oder Tier – begegnet, sodass ich den weiteren Weg zum Glück in Ruhe zurücklegen konnte. Das Wasser der Quelle wirkte einladend, sodass ich gleich einen großen Schluck trank. Danach zog ich meine Kleider aus, trotz der Kälte, die momentan herrschte. Das war mir egal : sollte ich an einer Lungenentzündung sterben, dann war das ganze wenigstens vorbei. Ohne zu zögern stieg ich in das strömende Nass. Beinahe wäre ich zurückgezuckt, denn die Kälte war furchtbar, es war kaum auszuhalten. Zitternd und mit den Zähnen klappernd zwang ich mich, ruhig zu bleiben. Meine Muskeln blieben jedoch angespannt, regelrecht verkrampft sogar. Ich glaube, ich hielt es nicht einmal fünf Minuten in dem Wasser aus, dann stieg ich wieder aus. Zu dem Zeitpunkt fühlten sich meine Gliedmaßen schon taub an, und ich war mir sicher, dass meine Lippen bereits blau waren. Meine Haare waren nass und klebten in meinem Nacken. Unangenehm kalte Tropfen liefen meinen Rücken hinab, und ich beeilte mich, mich irgendwie abzutrocknen und wieder anzuziehen. Ich wollte so schnell wie möglich zu meiner Hütte zurück, um mich dort in meine Decke einzuwickeln, damit mir wieder wärmer wurde. Auf dem Weg zurück zitterte ich immer noch am ganzen Körper und meine Zähne klapperten wie wild. Nicht einmal dem Raben begegnete ich auf dem Weg zurück.
*
Ich war noch nicht bei meiner Hütte angelangt, da spürte ich schon, dass etwas nicht in Ordnung war. Leise ging ich weiter, mein Herz klopfte so schnell, ich hatte das Gefühl, es würde gleich zerbersten. Schon bald drangen aufgeregte Stimmen an meine Ohren und ich wagte es kaum mehr, zu atmen. Was war hier los? Wieso waren hier so viele Menschen? Misstrauisch ging ich weiter in Richtung meiner Hütte, obwohl jeder Nerv in meinem Körper danach schrie, wegzulaufen und niemals zurückzukehren. Dann schließlich erblickte ich einen Mann in blauer Polizeiuniform. Polizei. Sie waren hier, genau in diesem Moment, und standen bei meiner Hütte. Schnell versteckte ich mich hinter einem Baum, weit genug entfernt, dass sie mich mit Sicherheit nicht entdecken konnten. Ihre aufgeregten Stimmen konnte ich nicht verstehen, da sie wild durcheinander redeten. Jedoch konnte ich ein Objekt ganz klar erkennen: das Buch, das ich weggeworfen hatte. Das Buch, das die beiden Frauen gefunden hatten. Natürlich waren sie zur Polizei gerannt, wie hatte ich nur so naiv sein können und glauben, das Buch würde vergessen im Wald zu Staub zerfallen? Wie hatte ich annehmen können, dass niemand das Buch finden würde? Ich hätte mich am liebsten selbst getreten, und mühsam schluckte ich den Kloß, welcher immer unerträglicher wurde, in meinem Hals herunter. Die Tränen brannten in meinen Augen und ich blinzelte mehrmals hintereinander, um sie zu unterdrücken. Würde ich noch länger hier stehen bleiben, dann würde mich die Polizei entdecken, somit drehte ich mich um und ging davon, ließ den einzigen Zufluchtsort, den ich hatte, hinter mir – erst später wurde mir bewusst, dass ich jetzt gar nichts mehr hatte. Kein Geld, keine Verpflegung, keine Decke, einfach nichts. Ich stand mit leeren Händen da und war ganz allein auf mich gestellt. Ich fühlte mich so allein wie noch nie. Tränen liefen mir die Wangen hinab, doch ich machte mir nicht die Mühe, sie zurückzuhalten. Ich steuerte auf das Dorf zu, um dort den Bus in die Stadt zu nehmen. Dann würde ich es beenden. Endgültig.
Im Dorf erlebte ich dann erneut einen Tiefschlag: Flyer mit meinem Gesicht drauf hingen in regelmäßigem Abstand an Laternenpfosten. Das konnte doch nicht ihr verdammter Ernst sein! Die Polizei verfolgte mich, und noch dazu hatten sie Flyer ausgeteilt, auf denen stand, dass sie mich suchten! Schlimmer konnte es ja nicht werden. Auf dem Flyer prangte ein Foto von mir, auf dem ich lächelte. Jetzt wusste ich nicht einmal mehr, ob ich überhaupt noch lächeln konnte. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, dass ich überhaupt daran gedacht hatte. Zögernd begutachtete ich das Flyer weiter: mein Name stand drauf, drüber stand in Großbuchstaben “GESUCHT!” und dann noch eine Beschreibung, die haargenau auf mich zutraf. Wütend riss ich das Papier vom Pfosten ab und ging weiter, jedes Flyer, das mir begegnete landete im nächsten Mülleimer, während ich zu der Bushaltestelle ging. Zum Glück waren nicht viele Leute unterwegs, sodass ich einigermaßen unauffällig wirkte und das Risiko, erkannt zu werden, dementsprechend niedrig war. Zum Glück traf der Bus auch recht schnell ein, sodass ich nicht lange warten musste. Ich nahm nicht die Tür beim Fahrer, sondern stieg ganz hinten ein. Mein Herz raste wie verrückt, mein Blut rauschte in meinen Ohren und ich zitterte am ganzen Leib. Es stiegen noch fünf weitere Passagiere ein, und ich sah zu Boden, damit niemand mich erkennen konnte. Hoffentlich sah mich niemand.
*
Stumm saß ich da, während der schmutzige Bus seinen Weg zurücklegte - die Sitze waren übersät mit Worten und Sätzen, die man in krakeliger Schrift dort hinterlassen hatte, Kaugummi klebte auf dem Boden und ließ den Bus noch schmutziger aussehen, als er ohnehin schon war. Zum Glück würde ich bald angekommen sein, und dann musste ich nie mehr mit solch einem Bus fahren. Leider verließ mich Fortuna genau in dem Augenblick, als eine Frau den Bus betrat. Ich erkannte sie sofort - es war eine der beiden Frauen, die am Morgen im Wald gewesen waren und mein Buch gefunden hatten. Eine plötzliche Wut überkam mich - wäre sie nicht gewesen, dann wäre ich jetzt nicht in dieser bescheuerten Lage. Mein Leben war eh schon beschissen gewesen, doch sie hatte das letzte Bisschen, das mir noch übrig geblieben war, auch noch zerstören müssen. Für eine Sekunde lang hatte ich die Frau zu lange angestarrt - sie sah mich an und schien mich sofort zu erkennen. Voller Aufregung wollte sie zu mir rüber hechten und ich spürte förmlich, wie ein Kurzschluss in meinem Kopf statt fand, als die Panik mit unglaublicher Kraft in mir hochstieg. Ich weiß nicht mehr, ob ich geschrien hatte oder nicht - das einzige, was mir in Erinnerung geblieben war, war, dass ich mich mit einem Sprung aus dem Bus schleuderte und hart auf dem Gehweg aufschlug, sodass mir die Luft wegblieb. Jedoch rappelte ich mich schnell wieder auf und rannte los, weg von der Bushaltestelle, weg von dem Bus, und weg von der Frau, welche sich in mein Leben hatte einmischen müssen.
Ich rannte und rannte, die Luft brannte in meinen Lungen und mein Herz klopfte schmerzhaft, meine Beine fühlten sich bald an, als würden meine Füße jeweils eine Tonne wiegen. Dennoch zwang ich mich, weiter zu laufen, wobei ich meine Haare ignorierte, die mir durch den Wind ins Gesicht peitschte. Ich sah mich nicht um, ob ich überhaupt verfolgt wurde - das Wichtigste für mich war, einfach nur wegzukommen.
Im Augenwinkel sah ich eine kleine Bewegung unten an meinen Füßen, und beinahe wäre ich gestürzt, da ich mich erschrocken hatte. Schnell fing ich mich, sodass ich zum Glück nicht hinfiel - als ich genauer hinsah, was da auf dem Asphalt lag, brach mir beinahe das Herz. Es war eine kleine, ausgehungerte Katze. Wie war sie hierhergekommen? Sie konnte nicht einmal richtig laufen, so schwach und klein war sie. Sie gab ein klägliches Miauen von sich und sah zu mir hoch, so als würde sie mich um Hilfe bitten. Seufzend bückte ich mich zu ihr hinunter und streichelte ihr mit dem Zeigefinger über ihre Stirn. Bei der Berührung schloss sie genüsslich ihre Augen.
Als ich aufblickte, sah ich mein Ziel keine hundert Meter von mir entfernt. Die Brücke. Ich war endlich angelangt. Schnell sprang ich auf und hechtete über die Katze hinweg in Richtung der Brücke, blieb aber halbwegs stehen und drehte mich um. Sogar aus dieser Entfernung konnte ich sehen, dass das Tierbaby zitterte und sich nicht vom Fleck rührte. Es war keine Menschenseele in der Nähe. Konnte ich es wirklich allein hier liegen lassen? War ich so brutal? Kopfschüttelnd ging ich zurück und hob sie hoch, wobei ich darauf achtete, ihr nicht weh zu tun. Mit den Händen bot ich ihr Schutz und Körperwärme. Auch wenn es eigentlich ein trauriges Schicksal war, war ich froh, nicht mehr ganz allein zu sein.
*
Im Park ließ ich mich unter einem Baum nieder, wo ich durch irgendein Gewächs, das dort seine dünnen Äste ausgebreitet hatte, von Blicken neugieriger Menschen geschützt und vor der Außenwelt abgeschirmt war. Immer noch hielt ich das Kätzchen in den Händen, mittlerweile hatte es auch aufgehört zu zittern, was mich etwas beruhigte. Es war eingeschlafen – seine Augen waren fest geschlossen und sein Brustkorb weitete sich in regelmäßigen Abständen bei jedem Atemzug. Vielleicht wäre es am besten, ich würde es zu einem Tierarzt bringen und dort lassen – ich hatte nicht die Mittel, die die Katze vielleicht brauchen würde, um zu überleben. Der eogistische Teil in mir jedoch wehrte sich gegen die Lösung: das Tier war das einzige Mittel, damit ich nicht alleine war. Wollte ich diesen einzigen Freund hergeben? Außerdem...was wenn der Tierarzt mich erkennen würde? Dann wäre ich jedenfalls geliefert, so viel stand fest. Die Flyer waren bestimmt nicht nur in meinem Dorf verteilt worden, höchstwahrscheinlich war auch in den Medien davon berichtet worden. Dass ich überhaupt so lange in der Natur leben konnte, ohne entdeckt zu werden wunderte mich immer mehr. War niemand auf die Idee gekommen, dass ich mich vielleicht in dem Wald verkrochen hätte? Immerhin war er nahe an meinem ehemaligen Haus, da hätte doch jemand die Verbindung sehen müssen.
Jedenfalls beschloss ich, die Katze vorerst zu behalten – wenn sich ihr Zustand verschlechterte, dann konnte ich immer noch zum Tierarzt mit ihr gehen. Bis dahin würde ich mich so gut es ging um sie kümmern, auch wenn ich nicht recht wusste, wie ich das anstellen sollte. Da sie im Moment friedlich schlief, beschloss ich, es ihr gleichzumachen, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden. Also nahm ich mir die Katze, die bis jetzt auf dem Boden gelegen hatte, und legte sie mir auf den Brustkorb, während ich es mir auf dem Rücken gemütlich machte. Vorsichtig schloss ich den Reißverschluss meiner Jacke, sodass das Tier vor der kalten Luft geschützt war. Morgen würde ich nach einer Lösung für sie suchen, jetzt überkam micht die Erschöpfung und ich schloss die Augen.
"Ich möchte aber einen Hund", quengelt Ben und zuft meiner Mutter ärgerlich am Ärmel ihrer Bluse herum. "Bitte!"
Seit Tagen geht das jetzt schon so, anfangs habe ich ihm noch widersprochen, da meine Präferenz definitiv den Katzen gilt, habe meine Proteste aber aufgegeben, da sie immer von Bens "Bitte!" übertont wurden. Seufzend lehne ich mich auf dem Sofa zurück und betrachte die Szene vor mir. Beinahe hätte ich laut losgelacht – meine Mutter scheint sichtlich überfordert zu sein, während sie meinen Vater um Hilfe anstarrt, dieser sich aber nur auf die Zeitung konzentriert und vollends in einem Artikel versunken scheint, so, als bekäme er nicht mit, was um ihn geschieht. Sein selbstgefälliges Grinsen verrät ihn jedoch.
Draußen auf unserer Terrasse sehe ich eine Katze, welche sich öfters bei uns aufhält. Niemand kennt ihren richtigen Namen, daher haben wir sie eines Tages auf Jimmy getauft. Ihr getigertes Fell zieht wie immer gepflegt aus, und ich stehe auf, um nach draußen zu der Katze zu gehen – meine Eltern lasse ich mit Ben allein, schließlich kann ich meinen Bruder eh nicht umstimmen. Jimmy kommt schnurrend auf mich zu und lässt sich streicheln. Wie immer drückt er seinen Kopf gegen meine Beine und schließt dabei die Augen. Erneut streichele ich ihn, doch bei der Berührung hätte ich beinahe aufgeschrien: sein Fell fühlt sich kalt an, sein Körper ist steif und seine Augen sind seltsam glasig.
Mit einem Ruck erwachte ich aus dem Schlaf. Ich fühlte mich, als hätte ich nur während ein paar Minuten die Augen geschlossen gehabt, doch als ich eingeschlafen war, war es noch hell gewesen, jetzt war der Himmel schwarz und nur vereinzelt schien das schwache Licht der Sterne durch den wolkenverhangenen Himmel. Eine kalte Böe kam auf und ließ mich frösteln. Ich brauchte eine Minute, bis ich ganz bei Sinnen war, denn der Traum hatte mir mehr zu schaffen gemacht, als ich anfangs geglaubt hatte. Keine Ahnung, von wo ich den Traum herhatte, denn nichts dergleichen war irgendwann einmal passiert. Jimmy hatte zwar existiert, aber nie war er so verschmust gewesen.
Verwirrt nahm ich ein kleines Gewicht auf meinem Brustkorb wahr – die Katze! Ich hatte sie komplett vergessen. Sie bewegte sich nicht – vermutlich schlief sie noch. Sanft streichelte ich sie, hielt dann aber abrupt inne: sie war steif. Ich stieß einen Schrei aus und packte die Katze und nahm sei unter meiner Jacke hervor. Sie atmete nicht mehr, sie lag ganz still da. Erneut schrie ich und ließ dieses Mal das Tierbaby auf den Boden fallen. Würgereiz überfiel mich und ich begann, am ganzen Körper zu zittern, während es um mich herum zu donnern und regnen begann. Ich sank auf die Knie und erbrach mich auf den Boden. Die Magensäure brannte in meiner Kehle und es dauerte einige Minuten, bis ich mich wieder beruhigt hatte und aufstehen konnte.
Es tat mir so leid um die Katze, wäre ich nur eher mit ihr zu einem Tierarzt gerannt, dann wäre sie jetzt vielleicht nicht gestorben. Die Ähnlichkeit dieser Katze mit Jimmy aus meinem Traum war verblüffend: es war die gleiche grau-schwarze Fellzeichnung, und erst jetzt fiel mir auf, dass Jimmy eigentlich rötlich gewesen war und in keiner Hinsicht dieser glich. Traurig kniete ich mich zu dem toten Körper nieder, welcher in einer unnatürlichen Haltung da lag. Tränen traten in meine Augen – es war meine Schuld, wieder einmal hatte ich ein unschuldiges Leben auf mir sitzen. Das konnte nicht so bleiben, ich verfluchte alles und jeden, ich verfluchte die Homosexualität, die meinen Körper wie Gift eingenommen hatte und mich von innen verrotten lassen würde, nachdem sie meinen ganzen Umkreis zerstört hatte. Wieso sollte ich es noch länger leugnen? Ich war eine scheiß Lesbe, die es nicht hinkriegte, anständig zu leben, ohne andere Menschen oder Tiere zu verletzen oder gar umzubringen.
Mir war nicht einmal aufgefallen, dass ich aufgehört hatte zu weinen. Wut erfüllte meinen ganzen Körper, ich hasste mich selber für alles, was ich war und getan hatte. Nur eines konnte ich noch recht machen: das, was ich schon längst hätte tun sollen. Also stand ich auf, hob das tote Kätzchen auf und legte es auf die Baumwurzel. Hier in der Natur aufzuwachsen und zu spielen hätte ihr bestimmt gefallen, ich hoffte, dass ich es ihr somit etwas gerecht gemacht hatte.
Als ich den Park verließ, wäre ich beinahe in jemanden reingelaufen, konnte mich zum Glück aber noch rechtzeitig bremsen.
"Pass auf, wo du hintrittst!", maulte mich ein Mädchen in ungefähr meinem Alter an. Schnell murmelte ich eine Entschuldigung und drängelte mich an ihr vorbei, wurde jedoch von ihr zurückgehalten, indem sie mich am Arm festhielt. Im Licht der Straßenlaterne konnte ich ihre besorgten braunen Augen sehr gut erkennen, ihrem Gesichtsausdruck nach war sie eher ein schüchternes Mädchen, sodass sie aussah, als würde sie sich ziemlich unwohl fühlen. Ihre Stirn hatte sie gerunzelt und ihre kurzen pinken Haare fielen ihr in die Stirn.
Plötzlich schnappte sie nach Luft und ließ mich los, so als hätte sie mich erkannt. Total perplex blieb ich stehen, da ich zu überrascht war, um mich irgendwie zu bewegen.
"Du bist Jenna Kaiser!", rief sie. Es war keine Frage, sondern einfach ein Fakt. Immer noch stand ich da wie angewurzelt, alles in mir schrie, ich solle losrennen, doch ich war mir sicher, dass, wenn ich versuchen sollte, wegzurennen, ich zusammenklappen würde.
"Ja", stammerte ich und ich bemerkte, wie sehr meine Stimme zitterte. Nicht nur meine Stimme - mein ganzer Körper. Das andere Mädchen hatte offenbar nicht mit einer ehrlichen Antwort gerechnet, denn es sagte nichts mehr, sondern starrte mich nur stumm an, so als sei ich ein Geist.
Irgendwie fand ich dann doch die Kraft, das Mädchen da stehen zu lassen - meine Beine trugen mich schnell von ihr weg, ich bemerkte nicht einmal, wie ich außer Atem gerat. Das pinkhaarige Mädchen rief mir noch hinterher, doch ich ignorierte es.
Es kam mir vor wie nur wenige Sekunden, doch dann hörte ich bereits Polizeisirenen. Dieses Mädchen hatte doch nicht etwa die Polizei gerufen! Was für eine Schlampe. Man konnte sich auch auf niemanden verlassen - andererseits schuldete mir das Mädchen nichts. Irgendwie verstand ich ja, dass es die Polizei gerufen hatte, aber andererseits wollte ich es nicht nachvollziehen. Die Sirenen wurden lauter, und allmählich wusste ich nicht, in welche Richtung ich rennen sollte, da mich eine furchtbare Panik überfallen hatte - so fühlte sich wahrscheinlich eine Gazelle, die von einem Geparden verfolgt wurde. Es war eine beinahe aussichtslose Situation für die Gazelle, und nur die Angst trieb sie weiter. Jetzt war ich die Gazelle, meine Beine brannten, mein Herz hämmerte wild an meine Brust, ich war erschöpft und konnte mich dennoch nicht ausruhen. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt und alles, was darauf folgte, schien in Zeitlupe zu geschehen. Ein Poilzeiauto fuhr an mir vorbei und blockierte den Weg, das blaue Licht blendete mich für einen Moment, sodass ich stolperte und schmerzhaft auf dem harten Asphalt aufschlug und mir dabei die Hände und Knien aufschürfte. Ein weiteres Auto hielt hinter mir an und schnell rappelte ich mich auf, wobei ich versuchte, die stechenden Schmerzen zu ignorieren.
Offenbar war ich doch weiter gelaufen, als mir überhaupt bewusst gewesen war, während ich lief. Tatsächlich mussten mehrere Blocks zwischen mir und dem Mädchen mit den pinken Haaren liegen, doch jetzt war ich umzingelt - es fühlte sich an, als wäre alles um mich herum stehen geblieben. Ein Polizist kam auf mich zu und langsam sank ich auf die Knie. Es war vorbei. Das Leben, das ich mir mit aller Kraft aufgebaut hatte, war zerstört wurden, durch einen einzigen Anruf in einer einzigen Nacht, in einem einzigen Atemzug.