Absichtlich hielt ich die Augen geschlossen - ich hatte keine Lust, eine weiße Decke anzustarren, oder die besorgten Blicke meiner Verwandten zu sehen. Ich wollte gar nichts mehr sehen, nicht mal mehr das Schwarz, das ich vernahm, wenn ich die Augen geschlossen hielt. Jemand nahm meine Hand, und jede Faser meines Körpers schrie, sie zurückzuziehen. Körperkontakt war das Letzte, das ich jetzt wollte. Dennoch zwang ich mich, ruhig zu bleiben und regelmäßig ein- und auszuatmen, ohne meine Augen unter den Augenlidern zu bewegen. Ich widmete meine ganze Konzentration dieser scheinbar einfachen Aufgabe, doch es kostete mich all meine Kraft. Um keinen Preis wollte ich meine Augen öffnen - wieso konnte ich sie nicht einfach für immer geschlossen halten? Irgendwann schlief ich dann doch richtig ein und schwebte davon, hinfort in eine Welt der Träume, wo alles perfekt schien. Dass meine Hand noch immer gehalten wurde, das vernahm ich nicht mehr. Nichts schien mehr um mich herum zu existieren, außer diese Dunkelheit, die nur manchmal von kleinen Lichtschimmern durchbrochen wurde.
Als ich meine Augen wieder öffnete, bereute ich es sofort. Besorgt blickte mir meine Patentante entgegen - ihre blonden Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden, welcher ihr über die Schulter fiel. Immer noch hielt sie meine Hand, was mir aber erst später auffiel, da ich die Wärme, die sie meiner Hand gab, mochte. Augenblicklich wurde mir bewusst, wie kalt mir eigentlich war - obwohl ich unter einer dicken, weißen Bettdecke lag, zitterte ich am ganzen Körper. An meinen beiden Händen trug ich Verbände und erst da bemerkte ich auch die Infusion - der durchsichtige Schlauch führte vom mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllten Beutel zu meinem Arm, in dem eine Nadel stach. Beim Anblick musste ich würgen und besorgt sprang meine Patentante auf.
"Mein Gott, Jenna! Geht es dir gut?" Ihre Stimme zitterte wie verrückt, und erst jetzt merkte ich, dass vereinzelte Haare an ihrer Stirn klebten. Sah ich wirklich so furchtbar aus?
Mühsam setzte ich mich aufrecht hin, was ich aber sofort bereute. Erneut spürte ich die Galle in meiner Kehle hochsteigen und mein Kopf drehte sich wie verrückt, meine Tante sah ich doppelt und ein unangenehmes Piepen blendete alle anderen Geräusche aus, sodass ich nicht hören konnte, was die verschwommene, blonde Gestalt vor mir tat. Das gab mir den Rest - würgend beugte ich mich über die Bettkante und erbrach mich auf den Boden. Der Geruch von Säure stieg mir in die Nase und trieb mir Tränen in die Augen. Anscheinend hatte ich lange nichts gegessen, denn nach einer halben Minute war mein Anfall auch wieder vorbei, mein Magen war komplett leergepumpt. Und dennoch fühlte ich mich so, als könnte ich in meinem Leben nie mehr etwas essen.
Es dauerte nicht mehr als zehn Sekunden, als auch schon eine Krankenschwester reingeplatzt kam. Schnell kniete sie sich hin und wischte meine Schweinerei auf - es tat mir echt leid, dass ich ihnen noch mehr Arbeit machte. Ein Arzt kam herein und drückte mich sanft zurück in die Kissen, wo ich erschöpft die Augen schloss und laut ausatmete.
"...normale Reaktion", hörte ich ihn zu Laure, meiner Patentante sagen. Den ersten Teil des Satzes hatte ich nicht mitbekommen, war ich etwa weggetreten? Verwirrt öffnete ich die Augen und der Arzt stand leicht über mir gebeugt.
"Wie geht es Ihnen, Frau Kaiser?", erkundigte er sich.
Blöde Frage - wahrscheinlich sah ich so schrecklich aus, wie ich mich auch fühlte.
"Super", krächzte ich. Wie lange war es her, dass ich etwas getrunken hatte? Ich hustete mehrere Male hintereinander, doch zum Glück brachte mir Laure ein Glas Wasser, welches ich dankbar entgegennahm.
Seufzend ließ ich mich zurück in das Kissen sinken, nachdem ich einige kleinen Schlucke genommen hatte - sofort fühlte ich mich etwas besser.
"Du leidest an einer Unterkühlung", erklärte mir der Arzt. Deshalb war mir also so kalt, das erklärte wohl so einiges, und auch die Infusion, auf welche der Arzt dann auch zeigte.
"Enthält ein Schmerzmittel, damit fühlst du dich besser", fuhr er fort.
Ich wollte nicht herausfinden, wie ich mich ohne Infusion fühlen würde. Noch mieser als jetzt wäre beinahe unmöglich.
"Die Hände haben wir dir verbunden, da du einige Blasen hattest, die durch die Kälte kommen. Sie werden mit einer Salbe behandelt und die Verbände werden täglich gewechselt. Außerdem hast du mehrere Schürfwunden, an den Beinen, an den Armen, an den Händen, an-"
"Schon gut", unterbrach ich ihn. Ich musste nicht hören, wo ich mich überall verletzt hatte, denn das spürte ich auch so.
"Außerdem leidest du an extremer Erschöpfung. Schon erstaunlich, dass du in dieser Kälte da draußen überlebt hast," beendete er endlich seinen Vortrag.
Diesen Satz kommentierte ich nicht, schließlich hatte ich selbst keine Ahnung, wie ich es überhaupt nur einen Tag ausgehalten hatte. Zum Glück verließ der Arzt gleich den Raum, sodass wieder Stille herrschte. Wobei man nicht wirklich von Glück reden konnte, denn jetzt war ich mit meiner Patentante allein.
Gedankenverloren sah sie gerade aus dem Fenster, also nutzte ich die Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Laure sah schrecklich aus - ihr sonst hübsches Gesicht war von dunklen Schatten geprägt, ihre Augen waren etwas eingefallen und matt. Sie hatte definitiv abgenommen und sie sah älter aus, als sie eigentlich war. Jetzt fiel mir auch auf, dass ihr Haar von einigen grauen Strähnen durchzogen waren, dabei war sie doch erst Mitte vierzig.
"Tut mir leid", krächzte ich und hustete. Meine Stimme war echt für die Tonne, daher beschloss ich, einfach den Mund zu halten, um Laures Reaktion abzuwarten.
Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis sie endlich den Mun aufmachte.
"Mir auch", murmelte sie. Dann wieder Stille. Ich hatte gar nicht realisiert, dass sie weinte. Minuten vergingen, bis Laures Stimme wieder den Raum erfüllte.
"Jenna...was ist passiert?" Sie klang unsicher und ihre Stimme zitterte. Ihre Hände hatte Laure in ihrem Schoß gefalten und knetete sie nervös. Auch ihre Atmung ging schnell und unregelmäßig. Wie sie sich wohl fühlte? Ich konnte es nur erraten. Aber ich konnte auch nicht über das Geschehene reden, wer wusste, ob ich es jemals würde können. Zu diesem Zeitpunkt war es definitiv zu früh und selbst wenn ich wollte, würde ich kein Wort hervorbringen können. Daher schüttelte ich nur langsam meinen Kopf und ließ meine Patentante dabei nicht aus den Augen. Traurig musterte sie mich, ehe sie sich erhob.
"Ich lass dich dann mal schlafen", murmelte sie und strich mir über die Stirn, eine fast mütterliche Geste. Etwas grob packte ich sie am Handgelenk und drückte Laure kraftlos von mir weg.
"Bitte", flehte ich sie an. "Nicht."
Laure schluckte einmal schwer, nickte dann aber.
Kurz darauf war ich wieder allein, und dann kamen die Tränen, bis ich langsam einschlief.
*
Etwas ist komisch mit mir, ich bin nicht wie alle anderen. Angespannt betrachte ich mein Spiegelbild - von außen sehe ich wie ein gewöhnliches Mädchen aus, doch ich weiß, dass ich es nicht bin. Ich bin anders, und ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich mich vor mir selbst versteckt habe. Ich habe es nicht gleich bemerkt, erst nach und nach ist mir aufgefallen, dass ich nie wirklich aufpasste, wenn meine Freundinnen über Typen sprachen. Mein Desinteresse an Jungs war schon immer da gewesen, als Kind dachte ich immer, das sei normal. Wie naiv ich doch war. Mit der homophoben Einstellung meiner Eltern macht es mir Angst, über meine wahre Natur nachzudenken: nie im Leben werde ich vor ihnen zugeben können, wer ich bin, wer ich schon immer gewesen bin. Nicht mal mir selbst kann ich es eingestehen - geht es jedem so, der sich in meiner Situation befindet? Seit Jahren hadere ich schon mit mir und doch will und kann ich es mir nicht eingestehen. Und doch weiß ich, dass ich anders bin, und ich weiß, dass ich nichts daran ändern kann. Und das tut weh. Verdammt weh. Selbst in meinen Träumen verfolgen mich meine Gedanken, sie lassen mich einfach nie los. Niemals.
*
Mit einem Ruck wachte ich auf. Nicht schon wieder diese Erinnerungen. Es war schon eine Weile her, dass ich mich täglich vor den Spiegel gestellt hatte, um mir selbst ins Gesicht zu sagen, dass ich lesbisch war. Anfangs waren mir die Worte im Hals stecken geblieben, so als könnte ich nicht mehr reden. Es fühlte sich an, als würde ich bei jedem Versuch beinahe ersticken. Ich hatte nicht verstanden, wer ich war, und das hatte mir Angst gemacht. Noch immer fühlte ich mich nicht zu hundert Prozent wohl, und ich wünschte, ich könnte den Typen so hinterhersabbern, wie meine Freundinnen es immer taten. Aber ich konnte es nichr, denn Typen waren halt...Typen. Ich sah nichts in den Jungen, und würde auch nie etwas in ihnen sehen. I hear the silence talk to me, telling me to run away, schoss es mir durch den Kopf. Rennen, das hatte ich ständig gemacht in den letzten Jahren. Ich war vor mir selbst davon gelaufen, vor meiner wahren Natur. Und nun wollte ich vor meiner Vergangenheit weglaufen. Vielleicht würde es mir eines Tages gelingen. Vielleicht sogar heute.
Entschlossen schlug ich die Bettdecke zurück. Da ich immer noch alleine im Raum war, hielt mich niemand davon ab, mir dieses bescheuerte Röhrchen aus dem Arm zu reißen. Ein keuchender Laut entfuhr mir, als ich es rausriss und Blut quoll aus der winzigen Wunde. Meine rechte Hand hielt ich auf den linken Arm gepresst, und langsam, um nicht wegen fallendem Blutdruck ohnmächtig zu werden, erhob ich mich aus dem Bett, bis ich mit beiden Beinen auf den Füßen stand. Erst jetzt merkte ich, dass mir jeder einzelne Knochen im Körper wehtat - einfach alles schmerzte, jede Faser meines Körpers brannte bei jedem Schritt, den ich tat, doch schnell lernte ich, den Schmerz auszublenden und mich auf mein Ziel zu konzentrieren. Weg von hier. Leise öffnete ich die Tür - hier würde mich niemand halten können, trotz meiner Verletzungen. Ich gehörte nicht hierher, ich gehörte nicht einmal mehr in diese verdammte Welt.
Barfuß und auf Zehenspitzen trat ich in den Gang, der mich zu meiner Freiheit führen sollte. Es war niemand zu sehen - wie lange das Glück wohl auf meiner Seite bleiben mochte? Hoffentlich lange. Als ich um die nächste Ecke bog, hätte ich vor Verzweiflung am liebsten laut losgelacht - so viel zum Thema Glück. Laure kam mir entgegen, gefolgt von ihrem Mann Gilbert. Wie angewurzelt blieb ich stehen und starrte beide an. Es dauerte einen Augenblick, bis die beiden mich sahen - als sie es dann taten, spiegelte sich Schock, Überraschung und Trauer in ihren Augen wider.
"Jenna, was machst du hier?", fragte mich Laure, ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Ich erwiderte nichts, sondern sah sie nur stumm an - am liebsten wäre ich heulend auf dem Krankenhausboden zusammengebrochen.
"Du sollst doch noch im Bett liegen", mischte sich nun auch Gilbert ein. "Du hast eine Infusion bekommen, damit es dir besser geht, und-"
Den Rest des Satzes hörte ich nicht mehr, ich blendete seine Worte aus als ich versuchte, mich an ihnen vorbeizudrücken. Gilbert allerdings war schneller und fasste mich hart an der Schulter, was mich dazu zwang, stehen zu bleiben.
"Gilbert, du tust mir weh", jammerte ich, woraufhin er seinen Griff lockerte, mich aber nicht losließ. Stöhnend sah ich ihn an - meine Sicht fing an, schwummrig zu werden, und meine Beine fühlten sich an, als würden sie aus Wackelpudding bestehen. Ein kleiner Blutstreifen hatte sich seinen Weg über meinen Unterarm gebahnt und langsam tropfte mein Blut auf den Boden, wo es scharlachrote Flecken hinterließ.
Bevor ich in Ohnmacht fiel, dachte ich noch, wie schön es wäre, zu sterben. Oder vielleicht hatte ich es laut ausgesprochen, keine Ahnung. Als ich in tiefe Dunkelheit fiel, merkte ich nichts mehr, nicht einmal, wie mich Gilberts starke Hände auffingen, bevor ich auf dem Boden aufschlagen konnte.
*
Blendend helles Licht schien mir entgegen, als ich erneut meine Augen öffnete. Wo war ich? Krankenhaus, schoss es mir durch den Kopf, woraufhin mir ein Seufzer entfuhr. Langsam erinnerte ich mich wieder an das Geschehene - wie ich hatte aus dem Krankenhaus ausbrechen wollen, wie ich Laure und Gilbert begegnet war. Vorsichtig versuchte ich, mich aufzusetzen, als ein stechender Schmerz durch meinen linken Arm fuhr. Verwirrt blickte ich ihn an und sah die Nadel, die wieder in meiner Haut steckte. Na toll. Ein Tropfen nach dem anderen fiel in den dünnen Schlauch, der zu meinem Arm hinführte. Ich wollte gar nicht wissen, was mir da eingepumpt wurde.
Zu allem Überfluss waren auch noch Laure und Gilbert da. Beide saßen rechts und links von mir und sahen mich besorgt an. Es wurde ja immer besser. Niemand sagte etwas, und die Stille nahm ich dankbar an. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit bis der Arzt in mein Zimmer eintrat - es war eigentlich ein Raum für zwei Personen, jedoch stand das andere Bett leer. Wer wohl vor mir in diesem Bett gelegen hatte? Was dieser Patient wohl gehabt hatte? War er allein gewesen oder hatte er seine Familie um sich gehabt, wie ich jetzt?
"Frau Kaiser, wir müssen sie noch einige Tage hierbehalten", begann der Arzt seinen Vortrag. "Bei eurem...Ausflug...seid ihr aufgrund eures tiefen Blutdrucks in Ohnmacht gefallen - nichts, was wir nicht hinbekommen würden. Was sie jetzt vor allem brauchen, ist Ruhe. Ruhe und viel Schlaf. Durch die Infusion bekommen sie immer noch Schmerzmittel, jedoch wird die Dosis morgen bereits verringert werden. Die Blasen werden weiterhin mit Salbe behandelt, aber auch die dürften in wenigen Tagen fast komplett verheilt sein. In wenigen Tagen können sie nach Hause."
Hatte der das jetzt ernsthaft gesagt? Wäre ich nicht so schlapp gewesen, wäre ich aufgestanden und hätte ihm eine schallende Ohrfeige gegeben - der Arzt konnte sich wirklich glücklich schätzen. Selbst Laure und Gilbert sahen ihn bestürzt an, und erst jetzt schien der Arzt zu bemerken, was er gesagt hatte. Was Laure ihm wohl erzählt hatte? Jedenfalls ziemlich viel, wie es schien: der Arzt, Dr. Meyer, wie ich nun auf seinem Namensschild lesen konnte, begann, vor sich hinzustammeln, wobei seine Augen nervös hin- und herzuckten. Nach etlichen Entschuldigen verabschiedete er sich und versprach, später noch einmal nach mir zu sehen. Idiot. Er schien förmlich darauf zu brennen, mein Zimmer zu verlassen.
"Ich will weg von hier", murmelte ich schließlich.
"Das verstehen wir", antwortete Laure sanft und Gilbert nickte zustimmend. Es kostete mich alle Mühe, nicht mit den Augen zu rollen - nichts verstanden sie. Laure wirkte wieder unruhig, was sich auch auf Gilbert abzufärben schien.
"Was ist los?", fragte ich schließlich - diese nervenzerreißende Spannung in der Luft konnte ich keine Sekunde länger ertragen.
"Wir haben uns überlegt, dass...naja, also Gilbert und ich haben nachgedacht, über...ich..." Hilfesuchend sah sie zu ihrem Mann, welcher total verloren wirkte.
"Ich nehme an, das ist jetzt der Moment, wo ihr mir anbietet, bei euch einzuziehen?" Meine Stimme klang vollkommen ruhig, während ich innerlich brodelte.
Laure lächelte erleichtert - wahrscheinlich dachte sie, ich hätte gehofft, dass sie fragen würde.
"Und wenn ich bei euch wohne", fuhr ich ungerührt fort, "dann wickelt ihr eine warme Wolldecke um mich herum, damit ich auch gut warmgehalten werde. Ihr serviert mir Tee und Kuchen damit ich mich pudelwohl bei euch fühle. Aber wisst ihr was? Ich passe."
Laure war immer bleicher gewesen, während Gilbert sie mit seinem Ich-habs-dir-ja-gesagt-Blick ansah.
"Jenna...", murmelte meine Patentante, sichtlich getroffen. Sofort fühlte ich mich schuldig, ich hatte sie nicht verletzen wollen. Kapierte sie denn nicht, dass ich einfach nirgends hin wollte? Ich konnte nicht zu ihnen, ich würde ihnen nur wehtun, dessen war ich mir sicher. Laure öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder.
"Wir reden morgen drüber", meinte Gilbert schließlich und erhob sich. "Die Besuchzeit ist fast vorbei, wir kommen morgen wieder. Bis dann."
Zum Abschied gab er mir einen Kuss auf die Stirn, und Laure strich mir einmal mit ihrer Hand durch meine Haare.
Ich versuchte nicht einmal, aufzustehen. Ich war mir sicher, dass ich keine zwei Schritte schaffen würde, und wenn doch hatte sich vermutlich jemand vor meiner Tür postiert, damit ich nicht noch einmal weglief. Meine Flucht in den Wald hatte ja super geklappt.
Müdigkeit überfiel mich und ich drehte mich auf die rechte Seite, um einzuschlafen. Erst da bemerkte ich das blaue Buch, das auf meinem Nachttisch lag. Das konnte nicht sein. Und doch war es wahr: das Buch, das ich im Wald von mir geschleudert hatte, lag auf meinem Nachttisch. My sister lives on the mantelpiece, war der Titel.
Mit zittrigen Fingern öffnete ich es und fing an zu lesen.
*
Irgendwann musste ich eingeschlafen sein. Das Buch lag noch auf meinem Bauch und wurde sanft von meiner regelmäßigen Atmung angehoben und wieder gesenkt. Bevor ich das Buch weglegte, fiel mir ein Zitat auf der aufgeschlagenen Seite auf:
"Sometimes when I wake up, I forget that she's gone and then I remember and my heart drops like it does when you miss a step or trip over a kerb."
Genau so fühlte es sich an. Genau so.
A/N: das Zitat I hear the silence talk to me, telling me to run away stammt aus dem Cover von dem Lied "Faded" der Band Bars and Melody.
Das andere Zitat stammt aus dem Buch My sister lives on the mantelpiece von Annabel Pitcher.