Einen Tag behielt ich noch die Infusion, danach meinte Dr. Meyer, dass es nicht mehr nötig sei. Endlich wurde der verdammte Schlauch entfernt, und ein Pflaster wurde über die winzige Wunde geklebt, nachdem sie desinfiziert worden war.
Am nächsten Tag fühlte ich mich bereits besser, jedoch immer noch etwas geplättet von den Medikamenten, die ich im Krankenhaus zu mir genommen hatte. Laure kam wieder zu Besuch, ihr Mann war auf der Arbeit, weshalb er nicht vorbeischauen konnte. Meine Patentante sah bereits gesünder aus als gestern und der Tag davor - ihre Augenringe waren viel kleiner geworden und sie sah nicht mehr so müde aus, auch ihre Haare waren gewaschen und ihre Augen waren nicht mehr matt, sondern hatten wieder ihr Glänzen gewonnen.
Als sie in mein Zimmer eintrat, lächelte sie mich an, und ich konnte mein eigenes Lächeln nicht zurückhalten. Es fühlte sich komisch an, denn so lange hatte ich diese Muskeln nicht mehr bewegt und angestrengt, dass es sich krampfartig anfühlte - wahrscheinlich sah es auch so aus, und ich wollte mir wieder einmal gar nicht vorstellen, wie ich eigentlich aussah. Besser, ich wusste es nicht.
Zum Glück hatte Doktor Meyer mir die Erlaubnis erteilt, duschen zu gehen. Ich hatte mir zwar Mühe gegeben, es zu ignorieren, aber mein Körpergeruch brachte mich beinahe um den Verstand. Ich stank einfach einfach nur.
Als das Wasser dann schließlich auf mich hinabprasselte, hielt ich die Augen geschlossen und genoss das kühle Nass, das den Dreck von meiner Haut abwaschen sollte. Laure hatte darauf bestanden, außerhalb der Dusche, aber im Badezimmer, zu warten, im Fall wo es mir schlecht werden würde. Ihre Besorgnis war nervig, aber auch irgendwie rührend - ich hätte nicht gedacht, dass jemals jemand derart auf mich aufpassen würde, nicht, nach dem was passiert war.
*
Die Blasen auf meiner Haut waren beinahe verschwunden, doch Doktor Meyer bestand darauf, mich noch einen Tag dortzubehalten. Dann würde ich zu Laure nach Hause gehen, um dort zu wohnen. Niemand wollte mich ins Heim schicken - mein Geburtstag war im Februar, also waren es nur noch ein paar Monate bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Es wäre eh sinnlos, mich dann ins Heim zu stecken - aber ich hatte das Gefühl, Laure würde wie eine Ersatzmutter für mich sein wollen, und sich um mich kümmern, so als sei ich ihre eigene Tochter. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Es war noch nicht lange her, dass ich meine Eltern verloren hatte, und ich wollte sie um keinen Preis ersetzen. Ben auch nicht. Aber hatte ich eine Wahl? Ich konnte nicht wieder irgendwo im Wald herumlungern, denn es war mir klar geworden, dass ich damit niemandem geholfen hatte - weder mir noch meiner Familie. Sie hatten gelitten, unwissend, ob ich überhaupt noch lebte, und ich wäre beinahe gestorben. Es war mir zwar egal, ob ich lebte oder nicht - okay, es war mir nicht egal. Ich wäre lieber tot als lebendig, aber das konnte ich hier im Krankenhaus nicht ändern. Und dennoch...könnte ich das Laure wirklich antun? Auch sie hatte ihre Familie verloren, und ich war so ziemlich das einzige, das ihr noch blieb, als Andenken an meine Eltern und Ben. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie mich jetzt auch noch verlieren würde. Ich beschloss, wenigstens eine weitere Woche am Leben zu bleiben - bis dahin würde ich alle Gedanken an Suizid wegsperren. Was danach geschehen würde...den Gedanken verbannte ich aus meinem Kopf.
*
Am nächsten Tag verabschiedete ich mich von Doktor Meyer und verließ gemeinsam mit Laure das Krankenhaus. Es war merkwürdig, es zu verlassen, komischerweise hatte ich mich schon daran gewöhnt. Laure bemerkte meine Unruhe und nahm mich sanft in den Arm. Ich erwiderte die Umarmung, und für einen kurzen Moment fühlte ich mich wahrlich geborgen, wie wir da standen, auf dem Parkplatz.
"Das Auto steht irgendwo hier, ich schwöre es", fluchte Laure, während wir über den Parkplatz gingen. Wir waren jetzt bereits drei Mal am gleichen Auto vorbeigegangen, auf der Suche nach Laures eigenem Wagen, ohne Erfolg. Das war typisch Laure - egal wie organisiert sie war, sie vergaß immer, und zwar wirklich immer, wo sie ihre Karre parkte. Ein amüsiertes Grinsen huschte über mein Gesicht. Laure strengte sich an, mich nicht anzusehen, aber ich war sicher, dass sie es gesehen hatte, was ihrer guten Laune nur noch einen weiteren Schub gab.
Nach zehn Minuten Herumgehen und Suchen fanden wir ihren dunkelblauen Volvo endlich - ich stieg auf den Beifahrersitz und schnallte mich an, während meine Patentante bereits ausparkte und auf die Straße zusteuerte. Es war komisch, in einem Auto zu sitzen: ich war es jetzt dauernd gewohnt gewesen, selbsz zu laufen oder zu gehen, da war es ungewohnt, sich herumkutschieren zu lassen. Ich lehnte meinen Kopf an das Fenster, welches leicht heruntergekurbelt war, sodass eine leichte Brise über mein Haar wehte, und schloss die Augen, um meine Gedanken aussperren zu können.
Es war mir gar nicht aufgefallen, dass ich eingeschlafen war, doch als Laure endlich in ihrer Einfahrt hielt, musste sie mich sanft wachrütteln. Es fühlte sich gut an, einen traumlosen Schlaf gehabt zu haben. Solch einen Schlaf hatte ich mir ständig herbeigesehnt. Laures Mann war wieder einmal auf der Arbeit, sodass wir beide allein im Haus waren. Die zwei hatten bereits ein Zimmer für mich hergerichtet: es war schlicht gestaltet, ein kleiner Nachttisch neben dem Bett, außerdem stand noch ein Schrank an der Wand, daneben ein Schreibtisch.
"Wir hatten nicht viel Zeit", erklärte Laure. "Es musste schnell gehen, deshalb konnten wir es noch nicht besser einrichten, aber wir werden es im Laufe der Zeit verschönern, okay? Wenn du magst, können wir morgen einen Teppich kaufen gehen, was meinst du?"
Zum hundertsten Mal in dieser Woche spürte ich einen Kloß in meinem Hals, der mir die Kehle zuschnürte. Da ich nicht weinen wollte, nickte ich nur. Laure schien es zu bemerken, sagte aber nichts. Ich war ihr unendlich dankbar dafür.
"Ruh dich ein bisschen aus", sagte sie und drückte einmal meine Schulter, bevor sie den Raum verließ.
Auch wenn ich nicht wirklich wollte, legte ich mich dennoch auf das Bett, das jetzt meins war. Es war anders als das Bett, das ich vorhin gehabt hatte. War das auch so weich gewesen, oder war dieses härter? Keine Ahnung. Jedenfalls mochte ich es nicht, sodass ich mich kurzerhand auf den Boden legte. Dieser war zwar unbequem und hart, dennoch besser als das Bett. Der Boden bei mir in meinem alten Zimmer hatte sic genauso angefühlt - wenigstens ein kleines Stück Zuhause, das mir geblieben war. Laure ließ mich ein paar Stunden allein - sie kamen mir unendlich lange und träge vor, während ich da lag und versuchte, einen leeren Kopf zu behalten. Einfach an nichts denken, sagte ich mir immer wieder. Wie ein Mantra wiederholte ich es, bis ich dösend auf dem Boden lag. Mein Kopf war wie leer gefegt. Es fühlte sich fantastisch an.
Irgendwann am Abend trat Gilbert ins Zimmer ein, wo ich immer noch auf dem Boden lag. Langsam sah ich zu ihm auf - keine Ahnung, was ich dabei fühlte. Es war, als sei ich innen leergefegt, so als sei mein Körper nur noch eine Hülle.
"Ich habe dir Essen gebracht", erklärte Gilbert schließlich. Erst jetzt fiel mir der Teller auf, den er in der Hand hielt, vorhin hatte ich den gar nicht bemerkt. "Es ist Suppe, wenn du nachher noch etwas willst, dann kannst du uns ruhig Bescheid sagen. Vielleicht hast du ja Hunger, wir, also Laure und ich, hatten vorhin gerufen, aber du hast nicht geantwortet, also nehme ich an, dass du lieber allein bist..." Er unterbrach sich, wahrscheinlich weil er bemerkte, wie viel er wieder redete. Ich hatte ja gar nicht gehört, wie sie gerufen hatten. War ich etwa doch eingeschlafen? Was war los mit mir?
Noch bevor Gilbert den Raum verließ, wusste ich, dass ich die Suppe nicht anrühren würde. Wahrscheinlich müsste ich nach einem Löffel sofort kotzen - jedenfalls hatte ich das so im Gefühl. Nachdem Gilbert weg war, stand ich auf und ignorierte den Teller. Sollten sie den später doch wegräumen. Mir war bewusst, dass ich mich wie eine undankbare Bitch benahm, aber all das hier wollte ich einfach nicht. Beim Inspizieren des Fensters fiel mir auf, dass ich es gar nicht öffnen konnte. Wollten die mich verarschen? So als würde ich mich jeden Moment aus dem Fenster schmeißen...was auch eigentlich gar nicht so fern lag. Ich schüttelte den Kopf, schloss die Augen und hielt den Atem an, um den Gedanken zu verbannen.
*
Offenbar hatten sie Dinge von zuhause hierhergebracht - mein Handy lag auf dem Schreibtisch, ebenso einige Bücher. Vorsichtig inspizierte ich den Stapel. Einige meiner Lieblingsbücher waren dabei, wie The Fault in our Stars oder Sing you Home. Sanft streichelte ich über das Cover der beiden Bücher - sie lagen mir sehr am Herzen. Meine Helden waren in diesen Büchern enthalten, und ohne lange zu überlegen nahm ich das blaue Buch und begann die Geschichte zu lesen, der es immer gelang, mich zum Weinen zu bringen.
Nach ungefähr einer Stunde trat Gilbert in mein Zimmer und musterte mich besorgt. Den noch vollen Teller versuchte er, so gut es ging zu ignorieren, doch ich konnte ihm hervorragend absehen, dass er enttäuscht war. Vermutlich hatte er gehofft, dass ich die Suppe brav auslöffeln würde und vielleicht sogar um einen zweiten Teller bitten würde. Doch das würde nicht passieren – wenn ich verhungern würde, dann wäre es eben so, mir egal. Aber essen würde ich nichts. Jedenfalls nicht heute.
Zu Gilberts Überraschung stand ich auf und sah ihn an. Ich sah etwas wie Hoffnung in seinen Augen aufflackern.
"Ich möchte duschen." Meine Stimme klang immer noch rau, was mir allmählich auf die Nerven ging.
"Ja natürlich", sagte Gilbert nur und nickte. "Geh einfach nach rechts, die erste Tür links."
Ohne ihn erneut anzusehen machte ich mich auf den Weg, ohne ihn erneut anzusehen. Ich konnte seine traurigen Augen nicht mehr ertragen. Mein ohnehin schon schlechtes Gewissen verschlechterte sich von Minute zu Minute und ich hatte ständig ein Druckgefühl auf der Brust, das sich mit jedem Atemzug verschlimmerte. Im Badezimmer angekommen, schloss ich die Tür ab und setzte mich auf den Klodeckel, um mich zu beruhigen. Ich zitterte wie verrückt. Nach Atem ringend fuhr ich mir durch die Haare, meine Augen hielt ich geschlossen, um mich voll und ganz auf meine Atmung zu konzentrieren.
Nach einigen Minuten gelang es mir, mich zu beruhigen – das Zittern hatte beinahe vollständig nachgelassen und ich konnte wieder normal atmen. Das Druck- oder Engegefühl in meiner Brust nahm allmählich ab, sodass ich mich bald wieder aufrichten konnte.
*
Das warme Wasser in der Badewanne ließ mich etwas entspannen, und ich versank beinahe in tiefem Schlummer. Aber nur beinahe. Zwar war ich todmüde, aber meine Gedanken hielten mich wach, auch wenn ich so entspannt war. Es schien für mein Gehirn einfach unmöglich, einfach ein einziges Mal nachzulassen. Doch so sehr ich mich dazu zwang, wollte es mir einfach nicht gelingen.
Ich dachte an meine Mutter. Meinen Vater. Meinen Bruder. Es war unerträglich.
Und dann sah ich Es.
Eine nagelneue Rasierklinge lag auf dem Rand der Wanne und schien mich dazu einzuladen, so, als hätte sie bereits tagelang auf mich gewartet. Mit erneut zitternden Fingern griff ich danach und hob sie hoch.
Angst.
Das war das einzige Gefühl, das ich zu dem Moment in mir trug. Wieso ich es dennoch tat? Keine Ahnung. Ich sah nicht, wie ich mir die Haut an der Innenseite meines linken Handgelenks aufschlitzte, denn ich hielt meine Augen geschlossen. Ich spürte den stechenden Schmerz, den der Schnitt verursachte, erst Sekunden später. Vorsichtig sah ich mir die Wunde an – nach und nach trat Blut an die Oberfläche. Dieser Anblick löste eine Welle gemischter Gefühle in mir aus, ich kann es nicht einmal beschreiben. Das Blut schien mich irgendwie zu beruhigen und lenkte mich von meinem seelischen Schmerz ab, denn die rote Flüssigkeit schien mich ganz in ihren Bann zu ziehen.
Dieser feine Schnitt...bevor ich mich aufhalten konnte, waren zwei weitere Schnitte hinzugekommen. Sie waren größer und tiefer als der erste, welcher unter dem Blut, das aus den anderen Schnitten floss, versteckt war.
Das Zittern war nun zurückgekehrt und mit ihm kamen die Tränen. Ich bereute es nicht, und dennoch wusste ich, dass es falsch war. Als ich aus der Wanne ausstieg, hatte ich das Gefühl, als würden meine Beine aus Wackelpudding bestehen – ich lehnte mich an die Wand, um mich zu stützen, denn sonst wäre ich wahrscheinlich umgefallen.
Mit klopfendem Herzen suchte ich im Schrank nach einem Verband. Als ich diesen gefunden hatte, drehte ich den Wasserhahn auf und spülte das Blut weg. Das Waschbecken war für einen Moment wie in rote Farbe getränkt, dann waren jegliche Spuren verschwunden.
Es tat nicht einmal weh.