Ich stehe im Geäst einer Süßkirsche und pflücke Frucht um Frucht. Die Sonne strahlt durch die zahllosen Blätter und tänzelt in Flecken über mein Gesicht. Nur nach den dunklen, prallen und saftigen Früchten greift meine Hand und sie alle fallen in meinen kleinen blauen Eimer. Die warme Juni-Luft und das Gezwitscher der Vögel lassen mein Gehirn weit driften, bis passiert, was passieren musste. Eine der dunkelroten Früchte gleitet mir aus der Hand und fällt Richtung Boden. Doch die Kirsche saust nicht Richtung Boden, sie fällt langsam.
Unendlich langsam.
In Zeitlupe.
Lange verfolge ich ihren Fall, so lange das mir der Moment wie eine Ewigkeit vorkommt. Ich löse meinen Blick und lasse meine Augen im Garten umher schweifen. Ich sehe meinen Opa in den Erdbeerbeeten und beginne zu verstehen, dass Zeit relativ ist. Meine Großeltern sind beide alt, es gibt ältere Menschen als sie, aber keiner in unserer Familie ist so alt wie sie, nicht mal annähernd. Vor einigen Jahren schon hatte mein Opa einen Schlaganfall, genauer einen im Ohr. Welcher gerade noch so erkannt wurde. Jenes Ohr ist seitdem taub. Er nimmt es mit Humor und kann mit seinen Taubheitsspielen mir dann und wann sogar ein Lächeln abringen. Doch seit jenem Tag stelle ich mir Tag für Tag, Jahr für Jahr die eine Frage:
Wie lange noch?
Wie lange noch?
Die Antwort auf diese Frage ist immer dieselbe und wird immer dieselbe sein:
Zu kurz.
Viel zu kurz ist die Zeit die mir mit ihnen noch bleibt und niemand sagt mir wie lange sie noch wehrt.
Mein Opa ist ein harter Knochen, so kommt er einem zumindest vor, denn hinter der rauen Schale steckt ein großes Herz, dass ein jedes anderes zu berühren vermag. Er hat viel erlebt und ist zu dem Mann geworden, als den ich ihn kennen lernte. Meine Oma hat auch ein Herz voll Gold und nicht minder viel erlebt, beide erlebten schönes, aber auch viel Trauriges. Seit nun mehr als über 50 teilen sie sich ihre Geschichte. In dieser verschwand ein Staat für immer von der Weltkarte und ein Krieg hörte auf zu existieren. Große Männer und Frauen wurden geboren, andere gingen. Und unter den zahllosen Menschen, die in diesen knapp 53 Jahren geboren wurde, schenkten sie meiner Tante und ein Jahr später meiner Mutter das Leben. Und somit indirekt meinem kleinen Bruder und mir.
Und soweit ich zurückdenken kann, waren und sind sie immer für uns dagewesen. Egal ob meine Mutter operiert wurde und meine Oma sich solange um mich kümmerte oder mein Vater uns Jahre später , für seine Neue, vor die Tür setze. Sie halfen mir danach noch zwei Mal bei Umzügen und sind immer Ansprechpartner gewesen. So viel haben sie mir beigebracht. Wie man sich rasiert, Möbel zusammen baut und Werkzeug richtig handhabt, welche Pflanze im Garten nur schön anzuschauen ist und wie man die anderen richtig nutz. Wie man Kirschen erntet und leckeres Essen kocht, das Auto fahren nicht verlernt und so vieles mehr.
Ich trage viel von ihnen in mir, die Liebe zu den Naturwissenschaften, Krimis, Büchern und die Vorliebe für Mohnkuchen. Hilfsbereitschaft und einen guten Sinn für Humor und Gerechtigkeit. All das schenkten sie mir, neben ihren Erfahrungswerten. Wie soll ich all das danken? Soviel steh ich in ihrer Schuld und kein Wort, keine Tat vermag den Dank auszudrücken, der angebracht wäre.
Es gibt noch viel was ich von ihnen lernen könnte, und so kurz ist unsere Zeit. Wer sagt mir, wie lange sie noch bleibt?
Mein Blick heftet sich wieder an die Kirsche, noch fällt sie, aber der Boden rückt näher.
Meine Augen füllen sich mit Tränen, als ich feststelle, dass die Zeit nicht anhalten wird und irgendwann ich auf der großen grünen Wiese stehe, um meine Großeltern in die Erinnerung zu verabschieden.
Doch bis dahin: Danke, ich liebe euch.
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18.06.2017 © Felix Hartmann