Bevor ich jetzt mit dem größten Liebesdrama aller Zeiten beginne, erzähle ich Euch erstmal, was davor normalerweise in meinem Leben so passierte. Ich war 14 Jahre alt und ging in die achte Klasse eines Gymnasiums. Ich mochte schon immer Sprachen lieber als Naturwissenschaften, hatte aber noch nie Probleme mit beidem. In meiner Freizeit spielte ich gern Klavier, und das war auch schon alles. Ich war noch nie der Typ dafür, sich ständig mit Freunden zu verabreden. Ich saß lieber zu Hause und lernte, um möglichst gute Ergebnisse zu erzielen. Mein Leben war also ziemlich unspektakulär bis zu jener Begegnung.
Alles fing auf einer Website an. Ja, richtig gehört, auf einer Website. Wir befinden uns schließlich im 21. Jahrhundert. Romeo und Julia mögen sich noch auf der Straße in natura getroffen und verliebt haben, aber heute laufen die Dinge ganz anders, das kann ich Euch sagen.
Jedenfalls meldete ich mich aus purer Langeweile bei so einem Chatportal an. Eigentlich startete ich meine Internetsuche mit dem Ziel, eine Brieffreundschaft auf die Beine zu stellen, um mein Leben ein bisschen abwechslungsreicher zu gestalten. Stellt Euch doch nur vor, was das hätte werden können: Irgendein Student, so um die 19 Jahre, der einfach nur gut aussieht, tierlieb und obendrein noch intelligent ist, mit einem Autoführerschein natürlich, damit er mich an schöne Orte fahren kann. Es gilt dann nur, ihn so von mir zu begeistern, dass er, um mich zu sehen, Himmel und Hölle in Bewegung setzt. Und sowieso, am Besten hat er auch noch eine eigene Wohnung und eine Katze. Da ich ja keine Katze halten darf, ist das meine einzige Möglichkeit, an eine zu kommen. Und hey, der Plan war echt super. Bis ich herausfand, dass Brieffreundschaften heute offensichtlich veraltet und damit unmöglich aufzubauen sind.
Glücklicherweise stieß ich dann auf einige Websites die interessante Online-Bekanntschaften versprachen, und ich dachte mir:
Ja, wieso nicht? Wenn schon keine romantische Brieffreundschaft, dann eben ein heißer Chat mit meinem Studenten!
Ich konnte ja nicht wissen, dass sich das Ganze als absolutes Desaster herausstellen sollte.
Aber weiter im Text: Meine erste versprochene interessante Internet-Bekanntschaft erwies sich als Pleite. Erstens kein Student und zweitens keine Spur von grammatikalischem Grundwissen. Manchmal frag ich mich ja schon, wie es Menschen aushalten, mit etwaigen Vollidioten zu schreiben. Ich meine, das geht ja mal gar nicht. Wir leben in Zeiten der Autokorrektur, müssen solche gravierenden Fehler denn wirklich sein?
Jedenfalls verliefen dann weitere Kontaktaufnahmen ähnlich, und ich dachte schon, ich bekäme Augenkrebs. Was manche Menschen einem zumuten, furchtbar. Nicht nur die Profilbilder betreffend, auch was die schon angesprochene Grammatik betrifft. Grauenhaft. Folglich ließ ich es dann erstmal sein mit den Chats. Ich schaute an Wochentagen nur sehr sporadisch rein, Nachrichten bekam ich kaum, und wenn, dann sehr auf Äußerlichkeiten bedachte.
Als Profilbild hatte ich eines gewählt, welches zu diesem Zeitpunkt relativ aktuell war. Nichts aufreizendes; wobei es für Vierzehnjährige auch ganz schön schwer ist, sexy und nicht billig rüberzukommen. Man hatte mich zwar netterweise mit einem üppigen Busen bedacht, aber auch das war manchmal einfach nur nervtötend.
Wie dem auch sei, an einem Wochenende blieb ich länger auf als sonst, und verbrachte etwas Zeit auf der Website. Ich suchte aus Langeweile nach Personen, die ebenfalls gerade mitten in der Nacht wach und auf der Suche nach Unterhaltung waren. Ungefähr zwanzig Personen schrieb ich Mails, immer mit der Frage, ob die Möglichkeit bestünde, ein nettes Gespräch zu führen. Beim weiteren Durchkämmen der hundert Profile stieß ich auf eines, welches sich auf den ersten Blick hin kaum von anderen unterschied, beim genaueren Hinsehen allerdings Intelligenz und eine Prise Sarkasmus versprach.
Das Profilbild war recht niedlich; blond war er, schlank und 19 Jahre alt. Gut, zu verlieren hatte ich nun mal nichts und die versandten Mails schienen keine Aussicht auf Erfolg zu haben, also wählte ich den direkten Weg und eröffnete gleich einen Chat. Unwissend, wie ich mich gegenüber eines anscheinend der deutschen Rechtschreibung fähigen Mannes verhalten soll, hielt ich es erstmal simpel:
»Hallo.«
Innerhalb kürzester Zeit erhielt ich sogar eine Antwort:
»Hallöchen.«
Super, wirklich. Wie baut man ein Gespräch auf? Die Frage erledigte sich kurz darauf, da er mir eine Frage stellte. Ohne Euch mit Details zu langweilen, Luke war wirklich intelligent und sprachgewandt; unsere Unterhaltung setzten wir bis in die frühen Morgenstunden fort. Ich hatte zwar keinen Studenten, dafür aber einen Abiturienten gefunden, der sogar zusätzlich zum Auto- noch einen Motorradführerschein besaß. Und offensichtlich wollte er weiter mit mir schreiben, denn er verabschiedete sich mit:
»Bis später.«
Das war schon was für mich. Bis dato hatte ich noch nie ein so unterhaltsames Gespräch mit einem männlichen Individuum geführt. Aber was soll ich auch sagen, mit 14 Jahren hat man ja auch nicht gerade die Intellektuellsten zur Auswahl. Da beschränken sich die Möglichkeiten nur auf Schule und Dorffeste oder Ähnliches. Da ich Letzteres aber ausdrücklich mied, schrumpften meine Chancen erheblich. Ehrlich gesagt hatte ich damit auch noch nie Probleme. Meine Mutter ging sowieso davon aus, dass ich nie jemanden finden würde, der es mit mir aushält. Tolle Aussichten, was?
Aber zurück zu dem Drama, das sich mein Leben nennt: Luke schrieb mich noch am gleichen Tag abends an, und auch unser zweites Gespräch lief außerordentlich gut. In den darauffolgenden Tagen wurden unsere Unterhaltungen seltener, aber trotzdem immer die Mühe wert.
Irgendwann schlug Luke vor, doch einfach zu reden, da authentischer und einfacher. Wie gut, dass ich einen Sykpe-Account besaß. Zugegebenermaßen bin ich auch heute noch im Besitz zweier Accounts: Einen für die Spinner, die ich noch nicht richtig einschätzen kann, und einen für Familie, Freunde und seriöse Dinge. Entgegen meiner Gewohnheit gab ich Luke gleich meinen »offiziellen« Skypenamen; ich vertraute ihm. Und wow, das war echt der Hammer. Diese Stimme, dieser Akzent, einfach unglaublich. Ich hatte ja schon immer einen Faible für Bayern und sein bayerischer Akzent war einfach zum Dahinschmelzen. Leider nahm meine eigene Stimme dann eine leicht bayerische Färbung an, was in meinem sächsischen Umfeld ziemlich seltsam war.
Jedenfalls blieb es nicht bei diesem einen Telefonat, nein, wir redeten fast jeden Tag miteinander. Als ich aufgrund meiner ständigen Kopfschmerzen vorübergehend nicht in der Schule war, las er mir sogar aus seinem Lieblingsbuch vor. Wir kamen zwar nur bis Seite 15, und bis heute weiß ich nicht, wie es weitergeht, aber es war wundervoll. Ich fing an, mich an die ständige Präsenz seiner Stimme zu gewöhnen. Was darunter litt, war mein Schlaf. Allerdings war mir das damals wirklich egal; schlafen könnte ich noch genug, wenn ich tot wäre. Selbstverständlich tauschten wir auch irgendwann Telefonnummern. Zu der Zeit gab es WhatsApp noch gar nicht so lange und ich war noch sehr misstrauisch was das Ganze betraf, aber es war einfach eine angenehme Möglichkeit, tagsüber in Kontakt zu bleiben.
Im Nachhinein betrachtet fällt mir auf, dass immer Luke derjenige war, der nach einem Gespräch fragte oder die erste Nachricht des Tages verschickte. Damals beachtete ich diesen Umstand gar nicht, und dass genau das mal sehr wichtig würde, konnte ich ja nicht ahnen.
Das Ende des Monats gestaltete sich als äußert reizvoll. Die ständigen Komplimente nahm ich mit Freude entgegen und das übertrug sich auch auf meine Stimmung. Ich sage Euch, so gut wie zu jenem Zeitpunkt ging es mir in meinem bisherigen Leben noch nicht. Aber ich meine, wer wird nicht gern mit »Engel« angesprochen und tausendmal darauf hingewiesen, wie perfekt man sei. Er bestand nachts manchmal sogar darauf, mir beim Einschlafen zuzuhören. Ich konnte mein Glück einfach nicht fassen, das alles war so perfekt, so irreal, so unmöglich. Zu schön, um wahr zu sein.