Der Monat startete außerordentlich gut, haha. Ich stellte fest, dass ich nicht nur fett war, sondern auch ein Streuselkuchengesicht hatte. Das Einzige, was mir noch Selbstvertrauen gab, war Eyeliner, wenn ich es denn mal fertig brachte, eine ordentliche Linie zu ziehen. Das half mir aber auch nicht wirklich weiter. Ich verzweifelte nicht nur emotional, sondern jetzt auch in Mathe. Ich hatte vorher noch nie bei Hausaufgaben geweint, aber am ersten November habe ich das fertiggebracht.
Mein Vater erklärte mir die Aufgabe, ich dachte, ich hätte es verstanden, dann hat er weitererklärt und ich war verwirrt, dann war er verwirrt, hat es selbst nicht mehr kapiert, mir nochmal erklärt, aber das Ergebnis war unrealistisch, also hat er alles auf meinen Taschenrechner geschoben, woraufhin ich meinte, dass ich vielleicht dumm aussehe, aber nicht zu dumm bin, meinen Taschenrechner zu bedienen. Dann waren wir beide verwirrt, ich habe gar nichts mehr verstanden und bin in Tränen ausgebrochen. Mein Vater hat sich dann allein hingesetzt und überlegt, während ich an einem Referat gearbeitet hab und eine halbe Stunde später meinte er, er hätte einen Denkfehler gehabt. Dann verstand ich es auch. Dennoch konnte ich mich kaum noch auf irgendetwas konzentrieren.
Als Luke mir dann irgendwann wieder schrieb, hatte ich erst eine ausführliche Antwort geplant, hielt mich dann aber doch recht kurz. Ich war stolz auf mich. Das Beeindruckende war, dass ich mal für fünf Minuten in seinen Gedanken vorkam. Unglaublich. Ich wollte mich eigentlich nicht zu früh auf ein Gespräch freuen, tat es aber leider trotzdem, und wurde prompt wieder enttäuscht. Ich wusste es. Ich fühlte mich so dumm, so einsam, so leer, so naiv. Ich löschte das erste Mal unseren Chatverlauf. Einfach, weil ich so enttäuscht war. Ich war nicht mal sauer oder wütend, einfach nur abgrundtief enttäuscht und traurig. Nicht mal Emma wollte ich noch mit diesem Problem nerven, da sie einen neuen Freund hatte, der ihr Blumen schenkte, Briefe schrieb und mit ihr ein Wochenende nach Bayern fuhr. Natürlich freute ich mich riesig für sie, auch wenn ich innerlich am Sterben war. Das war Salz in die Wunde. Aber schön, dass wenigstens eine von uns nicht vom Leben gehasst wurde.
Sieben Monate waren wir mittlerweile zusammen, jeder einzelne kam mir vor wie ein Schlag ins Gesicht. Ich telefonierte wieder öfter mit Yannik und dieser bot mir an, zu mir zu kommen, wenn ich das wöllte. Natürlich wollte ich das nicht, aber süß war es trotzdem. Yay, Aufmerksamkeit. Selbiges war wohl auch der Grund, weshalb ich mich dazu hinreißen ließ, zwei Jugendlichen meine Nummer zu geben, die mich auf dem Heimweg auf der Straße angesprochen hatten. Es stellte sich zwar heraus, dass beide wenig intelligent und sehr selbstverliebt waren, aber dennoch hatte ich für zwei Tage Aufmerksamkeit. Dann wurden sie mir zu anstrengend und ich behauptete, dass Tobi mein Freund sei, so für den Fall, dass sie ihn sehen wollten oder Ähnliches. Hat auch funktioniert.
Dennoch kam ich auch zusehends mit mir selbst immer weniger klar. Ich hatte an allem etwas auszusetzen. Meine Haare hätten länger sein können, meine Arme dünner, meine Hände graziler, mein Brüste wohlgeformter, meine Schulter gerader, meine Nase schmaler, meine Augen größer, meine Wangenknochen markanter, mein Kinn nicht so weit hervorstehend, mein Gesicht schmaler, meine Lunge normal, mein Bauch flacher, meine Beine länger, mein Po kleiner. Ich hätte größer sein können, hübscher, selbstbewusster, intelligenter, unabhängiger, lustiger, schlagfertiger, sportlicher, kreativer, schlanker, liebenswerter, netter, hilfsbereiter, glücklicher, besser. Das hatte Luke sicherlich mittlerweile erkannt und sich von mir abgewandt. Wie gern hätte ich wieder mit ihm gesprochen. Aber er kannte mich ja, mich dummes Stück Dreck, das sich immer noch Hoffnungen machte.
Irgendwann schrieb ich ihm dann doch entgegen meines Vorsatzes, da sich der Gedanke manifestierte, er könnte nicht mehr leben. Ich schrieb mit einem Mitschüler, Stan, über meine ungefähre Situation und ihm ging es genauso. Dann fragte er:
»Du hast dich echt doll verliebt, oder? Kann es sein, dass du die ganze Zeit daran denkst?«
Ich fragte, ob das denn so auffiele, schließlich kannten wir uns kaum, und seine Antwort nur:
»Mega.«
Oh Mann. Verdammter Dreck. Hinzu kam, dass Luke nicht mal antwortete. Tolle Situation. Das verliebte Mädchen und der Mann, dem es zu schlecht ging, um für sie da zu sein.
Am zwanzigsten Tag des Monats teilte ich Emma weinend per Sprachnachricht mit, dass ich es einsähe, dass ich Luke in Ruhe lassen und mich von ihm lösen sollte. Etwas später saß ich dann ganz harmlos im Wohnzimmer und starrte vor mich hin. Dann kam meine Mum rein; sie war ganz normal, ich war ganz normal, sie fragte, ob ich müde sei, meine Augen sähen so verquollen aus. Ein »Nein« brachte ich noch heraus, bevor ich bitterlich zu weinen anfing. Sie nahm mich in den Arm und fragte, ob jemandem was passiert wäre und ich habe nur den Kopf geschüttelt und versucht, zu sagen, dass das mit Luke nicht funktioniert. Dann hab ich ihr alles erzählt. Ich wusste ja, dass Mama die Letzte wäre, die dafür kein Verständnis hätte. Sie meinte anschließend, ich solle mir nichts vorwerfen, denn es wäre für mich richtig gewesen und ich hätte es mit Freude getan. Dass ich das nicht persönlich nehmen soll und ein wertvoller Mensch sei, dass ich reifer gehandelt hätte als andere in meinem Alter, dass ich zu bewundern wäre, dass ich es so lange geschafft habe, dass ich so lange stark war, dass ich nicht gesagt hatte »Ja, sorry, du bist krank, was fischt mich fremdes Leid«, dass ich viel erreicht, dass ich ihm geholfen hätte, dass ich für ihn da war, wie er anfangs für mich da war. Ich nickte bei alldem und sagte noch, dass es so unfair sei. Mama darauf:
»Du liebst ihn wirklich sehr, was?«
Ich nickte. Sie sagte weiterhin, dass es okay sei, dass ich nicht mehr könne, wie ich mehrmals sagte, und dass »zusammen sein« eben auch zusammen sein bedeutet, und dass das bei dieser Entfernung einfach zu schwierig sei.
»Und wenn er gewollt hätte, dass du zu ihm kommst, hätten wir dich schon irgendwie dahin bekommen.«
Das war ja ganz was Neues. Außerdem sei es ganz stark von ihm, dass er mich nicht mit hineinziehen wollte und dass ich mir keine Sorgen machen bräuchte, denn seine Mitbewohner würden schon auf ihn aufpassen und dass er mir nicht schreibt, könnte seine Art sein, mich freizugeben; sie wisse, dass sich das jetzt wie sterben anfühle, aber irgendwann nur die Erinnerung bliebe. Es sei nicht unsere Liebe, die erloschen war, sondern die Umstände, die es nicht möglich machten; er würde immer meine erste Liebe bleiben. Sie sagte, dass es okay sei, wenn ich die Beziehung beenden würde, da wir doch wissen, dass er niemals verlangen würde, dass ich bei ihm bleibe. Auf meinen Einwand hin, dass ich es einfach nicht könne, riet sie mir, eine Frist zu setzen oder auf den Moment zu warten, in dem es mir möglich ist. Mir ging es nach diesem Gespräch mit ihr wirklich besser. Vor allem weil ich nicht mehr so tun musste, als wäre alles in Ordnung.
Ich las wieder mehr und ein Buch tat es mir besonders an. Ich fühlte mich selten von einem Buch so verstanden. Es fing mich auf, gab mir Halt, obwohl das Ende schmerzlich war. Ich hätte Luke so gern so viele Fragen gestellt; ob ich ihm zu viel war, ob es für ihn leichter wäre, wäre ich nicht mehr da, ob er sich eingeengt fühlte. Aber ich ließ es, da das alles sehr anmaßend klang. Ich musste immerfort daran denken, wie er sagte:
»Ich will dich nicht verlieren.«
Ich glaube, es war Anfang Juli, nachdem Emma ihm zwei Nachrichten weitergeleitet hatte. Ich war so aufgeregt, was er mir zu sagen hatte, ich wäre fast gestorben. Dann las ich seine von Poesie verklärte Nachricht:
»Manchmal merkt man erst, was einem fehlt, wenn es fehlt.«
Ich sollte langsam aufhören, mir Gedanken darüber zu machen, was wir zusammen unternehmen könnten. Oder wie es war, als er das erste Mal »Ich liebe dich« sagte. Oder wie er das erste Mal seine Hand zwischen meine Beine legte, begleitet von der Frage »Gefällt dir das?«. Ich sollte mich nicht mehr so sehr nach seinen Berührungen verzehren und tat es dennoch. Aber es schlich sich eine gewisse Akzeptanz ein, die mir half, wieder etwas mehr Freude am Leben zu haben.
In 131 Tagen würde ich mich entscheiden müssen, sollte es bis dahin nicht wieder besser werden oder schon beendet sein.