Doch als sie losgingen und Toni den Schirm zwischen sie hielt, damit der tropfnasse Gregor nicht noch tropfnasser wurde, da war die Anspannung, die grade der Erleichterung Platz gemacht hatte, mit einem Schlag wieder da.
Denn ihm war eingefallen, dass sie gleich über den Kuss reden würden. Es konnte gar nicht anders sein. Und Toni hatte keine Möglichkeit irgendwie zu behaupten, dass es ein Unfall gewesen und er es gar nicht gewollt hatte. Er hatte Gregor am Arm gepackt. Er hatte sich zu ihm heruntergebeugt. Gregor war nicht dumm und die Beweise eindeutig. Und wenn er ihn dann fragte, wieso er das gemacht hatte, was sollte Toni dann sagen? Dass er ihn hatte küssen wollen weil er all die alten Gefühle wieder hochgebracht hatte, die Toni jahrelang ganz tief in sich vergraben hatte?
Es war eine Sache, das vor sich selbst einzugestehen aber es vor jemand anderem auszusprechen kam Toni unmöglich vor. Dabei konnte einfach nichts Positives herauskommen! Vermutlich würde Gregor, da er es bis jetzt nicht getan hatte, dann ausrasten und seinen Leuten davon erzählen und dann wäre Toni bei allen unten durch.
Und auch, wenn er sie kaum kannte und sehr wahrscheinlich auch nie wiedersehen würde, wenn diese Woche herum war, wollte er doch nicht von ihnen schief angeschaut werden. Und vorallem wollte er nicht von Gregor schief angeschaut werden. Allein bei dem Gedanken fühlte es sich an, als würde jemand an Tonis Herz herumreißen.
Er warf Gregor einen raschen Blick zu, in der Hoffnung, an einer Miene irgendetwas von seinen Gefühlen ablesen zu können, aber Gregors Gesichtsausdruck gab absolut nichts preis. Dafür merkte er, dass Toni in ansah und drehte den Kopf, sodass sich ihre Blicke trafen. Tonis Herz machte diesen wohlbekannten Hüpfer und er spürte, wie er rot wurde, ohne richtig zu wissen, warum. Er wandte den Kopf schnell wieder ab und bekam erst mit Verspätung mit, dass Gregor etwas zu ihm sagte.
"W...was?" stotterte er.
"Ich muss jetzt erst mal was essen. Ich hoff, das ist okay für dich?" wiederholte Gregor und Toni, der mit etwas anderem gerechnet hatte, erwiderte verwirrt. "Ja klar."
In diesem Moment fiel ihm auf, dass sie gar nicht auf dem Weg zum Wohngebäude waren sondern auf das Restaurant zugingen, das bei seinem erstem Besuch nur ein Haus voller Gerümpel gewesen war. Jetzt war alles herausgeputzt, der Steinfußboden war poliert, an den Wänden standen Ritterrüstungen, es gab eine Bar mit einer langen Theke und ungefähr ein Dutzend Tische waren überall verteilt. Im Vorraum gab es einen Gaderobe an die Gregor seine nasse Jacke hängte und Toni tat es ihm gleich und stellte den tropfenden Schirm in den Ständer.
Dann setzten sie sich an den erstbesten Tisch und sofort kam eine Frau angelaufen. Sie nickte ihnen beiden zu. "Hallo. Was wollt ihr denn essen?"
"Ist noch was von dem Eintopf da?" erkundigte sich Gregor und als sie das bejahte sagte er: "Dann hätte ich gerne einen sehr großen Teller davon."
Sie nickte und wandte sich an Toni. "Und du?"
"Gar nichts, danke," sagte Toni, denn nie im Leben hätte er grade auch nur einen Bissen herunterbekommen. Er krampfte die Finger in seinem Schoß zusammen und wartete auf das, was jetzt passierte.
Es fing damit an, dass Gregor ihn besorgt musterte und dann "Ist alles in Ordnung mit dir?" fragte.
"Ja klar, warum sollte irgendetwas nicht in Ordnung sein?" entgegnete Toni mit fester Stimme und
Gregor zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht, du siehst irgendwie so blass aus."
Toni machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ach was, ist echt alles okay!"
Gregor atmete einmal tief ein. "Dann ist ja gut." Er lächelte kurz sein schiefes Lächeln. "Tut mir leid, dass ich dich jetzt mit hierhin geschleppt hab und auch eigentlich gar nicht viel Zeit hab, aber ich dachte, wir sollten einfach mal reden. Da sind wir ja bis jetzt nicht wirklich zu gekommen."
"Ja klar," sagte Toni wieder und er wusste jetzt schon genau, worüber Gregor reden wollte. Was das einzige Thema werde würde, weswegen sie hier überhaupt saßen.
"Also, wie läuft's so bei dir und da, wo du herkommst?" wollte Gregor wissen und Toni konnte zuerst mit seinem lockeren Tonfall absolut nichts anfangen. "Na ja, es läuft wie immer," erwiderte er und fragte sich dabei, ob Gregor sich langsam an das Thema Kuss herantasten wollte.
Aber da der ihn erwartungsvoll ansah, fühlte Toni sich dazu getrieben, noch mehr zu sagen. "Schule ist der übliche Scheiss, ich häng immer noch mit den gleichen Leuten rum, wie früher, Peter ist immer noch der gleiche ätzende Typ und das Einzige, was neu ist, ist, dass ich eine Schwester bekommen hab, die du ja auch schon kennengelernt hast."
Gregor verschränkte die Arme auf der Tischplatte. "Du hast eins vergessen. Was ist mit deiner Freundin?"
"S...stimmt," erwiderte Toni hastig und war für eine Sekunde schockiert darüber, dass er Lydia völlig ausgeblendet hatte. Dabei war doch jetzt wieder eine der Gelegenheiten, wo er unbedingt über sie sprechen sollte, auch, wenn Gregor sie vermutlich nur erwähnt hatte, um sie dann irgendwie gegen Toni zu benutzen. Deswegen war es vermutlich auch besser, nicht allzuviel dazu zu sagen.
"Da gibt's auch nicht viel zu erzählen," antwortete Toni deswegen auch. "Wir sind schon seit Jahren befreundet und irgendwann haben wir festgestellt, das da dann doch mehr ist und seitdem läuft es super!"
"Wie romantisch," erwiderte Gregor lachend und Toni zuckte mit den Schultern. "So ist es halt."
"Ach ja." Gregor lehnte sich grinsend in seinem Stuhl zurück. "Ich sehe schon, du bist immer noch kein größerer Redner als damals."
"Was ist mit dir?" wollte Toni wissen.
Gregor runzelte die Stirn. "Na ja, eigentlich gibts bei mir auch nicht mehr zu sagen. Ich hab viel zu tun in der Schule weil wir irgendwie jede Woche eine Klausur schreiben. Wenn ich dann nach Hause komme kann ich was von dem essen, das die Gäste übrig gelassen haben weil meine Mutter keine Zeit mehr hat, irgendwas zu kochen und ich keinen Bock hab mir selbst zu machen.
Wenn ich gegessen hab, dann kann ich meine Tonnen von Hausaufgaben machen und wenn ich damit fertig bin gibt es immer irgendetwas hier zu tun und leider erwarten meine Eltern auch immer, dass ich mithelfe. Goldjunge Johann kann eben doch nicht alles alleine machen, obwohl alle immer so tun als ob."
Er ballte die Hand, die auf dem Tisch lag, einmal kurz zur Faust aber sein Tonfall war dann genau so locker wie vorher als er weitersprach. " Also klammere ich mich einfach dran, dass es nur noch ein paar Jahre sind. Und dann bin ich weg weil ich da studieren werde, von wo ich mal nicht eben vorbeikommen und aushelfen kann! Denn wenn ich hier in der Nähe bleib dann würden sie genau das tun, das weiß ich genau! Und so lange ich das nicht kann muss ich eben gucken, dass ich ein bisschen Spaß hab. So wie gestern. Hat es dir auch gefallen?"
Jetzt würde das Thema langsam auf den Kuss kommen. Es musste einfach so sein und Toni richtete sich schon mal drauf ein als er antwortete: "Ja das war cool. Und deine Leute sind echt in Ordnung."
"Ja, die sind alle total super," bekräftigte Gregor. "Und wenn du nicht gewesen wärst, dann hätte ich sie nie kennengelernt." Er war plötzlich ganz erst geworden und sah Toni tief in die Augen.
Der spürte, wie sein Gesicht heiß wurde und er konnte Gregors Blick nicht mehr standhalten und sah aufs weiße Tischtuch, weil Gregor es dann vielleicht nicht ganz so auffiel. "A...Achso?" murmelte er.
Wieder verlief das Gespräch ganz und gar nicht so, wie er es erwartet hatte.
Auch Gregors Stimme klang jetzt ernst. "Als du damals weggefahren bist, da ging's mir so richtig scheiße. Ich hab fast zwei Wochen mein Zimmer nur verlassen, um zur Schule zu gehen. Und ich hatte auch keinen Bock mehr auf irgendwas. Noch nichtmals darauf, mich ständig aufzuregen. Im Gegenteil, mir war einfach alles scheißegal geworden. Und als ich dann nicht mehr wegen jedem Scheiß gleich in die Luft gegangen bin, da kam ich dann auch besser mit den Leuten aus meiner Klasse klar. Vorher hab ich immer gedacht, das sind alles Idioten, mit denen ich nix zu tun haben will. Aber dann hab ich schließlich festgestellt, dass ich immer der Idiot gewesen bin. Na ja und dann hat Kara mich schließlich aufgelesen und in ihre Clique geholt und da bin ich jetzt hängen geblieben."
Er zuckte einmal mit den Schultern und lächelte. "Also, wenn du nicht gewesen wärst, dann wäre mein Leben jetzt nicht so einigermaßen gut, wie es grade ist."
Toni schluckte einmal: "D... das freut mich," stotterte er und wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte. Auch Gregor schwieg und stattdessen hingen ihre Blicke für einen Moment ineinander.
Dann kam die Frau mit einem Teller voll Eintopf und einem Glas Wasser wieder und stellte beides mit einem leisen Klirren vor Gregor hin.und riss sie beide aus der kleinen Welt, in der sie sich grade befunden hatte. Mit einem "Lass es dir schmecken," verschwand sie dann wieder und Gregor griff zum Löffel.
Er hatte seinen lockeren Tonfall wiedergefunden. "Also wenns dir gestern gefallen hat, dann hast du ja vielleicht auch Lust, heute mitzukommen. Wir gehen zu Philip, der hat heute Geburstag. Und weil es in der Woche ist gibt es nur n kleinen Umtrunk und nix Großes. Er wohnt ein Dorf weiter. Wie sieht's aus, willste mit?"
"Na klar," sagte Toni sofort und es war nicht die Aussicht auf den kleinen Umtrunk oder die anderen wiederzusehen, die ihn zusagen ließen.
"Super!" freute sich Gregor und tauchte den Löffel in den Eintopf. "Ich muss jetzt leider essen und dann Hausaufgaben machen und dann meinen Eltern helfen. Ich versuch, dass ich alles bis halb acht fertig hab und dann hol ich dich ab, okay?"
"Sicher," antwortete Toni und während Gregor anfing, den Eintopf in sich hineinzuschaufeln stand er mit einem ,Dann bis später' auf und ging.
Als er draußen im Regen unter seinem Schirm stand atmete er einmal tief durch und schloß für einen Moment die Augen. Das war grade absolut nicht so gelaufen, wie er es erwartet hatte. Gregor hatte den Kuss nicht einmal ansatzweise erwähnt. Aber es war nicht die Erleichterung, dass er dem gefürchteten Gespräch entkommen war, die dafür sorgte, dass ihm ganz warm im Bauch war. Sondern einfach nur Gregor und die Aussicht, ihn nachher wiederzusehen und Toni war sich des breiten Grinsens auf seinem Gesicht bewusst, als er über den Burghof lief.
Keiner war da, als er die Tür des grauen Steinhauses aufriß. Er trat sich hastig die Schuhe von den Füßen, hing die Jacke auf, stellte den Schirm weg und stürmte nach oben ins Gästezimmer. Er holte seine Tasche aus dem Schrank und fing an, in ihr herumzuwühlen. Als er es dann in den Händen hielt war er fast erschüttert darüber, dass er tatsächlich eins von seinen richtig guten Hemden eingepackt hatte. Nicht, weil er davon ausgegangen war, dass er mal mit Peter und seiner Mutter in eine Situation kommen würde, in denen er ein gutes Hemd anziehen musste.
Nein, hier hatte er einzig und allein Gregor im Hinterkopf gehabt. Es war nicht nur erschreckend, dass Gregor irgendwie doch die ganze Zeit da gewesen war, ohne, dass Toni in den letzten Jahren bewusst mal an ihn gedacht hatte, sondern auch, dass Toni sich vor einem Treffen mit Lydia noch nie darüber Gedanken gemacht hatte, was er anziehen wollte und wie er damit dann auf sie wirken würde. Er hatte einfach das erstbeste aus seinem Schrank genommen und sich danach noch nicht einmal mehr im Spiegel angesehen.
Aber jetzt war es ihm wichtig, was er bei Gregor für einen Eindruck hinterlassen würde und seit letzter Nacht hatte er auch kein Problem mehr damit, es sich selbst einzugestehen.
Vielleicht würde er Gregor in diesem Hemd ja auch gefallen. Und vielleicht würde er ihm das ja sogar sagen. Allein bei diesem Gedanken wurde Toni schon wieder rot. Er faltete das Hemd sorgsam zusammen und legte es auf das Bett.
Dann griff er nach seinem Handy, das schon seit Stunden unbeachtet auf dem Nachttisch gelegen hatte und er hatte natürlich einige Nachrichten von Lydia bekommen. Aber irgendwie interessierten sie ihn grade gar nicht. War sie vorher noch ständig präsent gewesen in Form seines Schutzschildes, passte sie jetzt plötzlich irgendwie nicht mehr dazu. Deswegen interessierten ihn die Nachrichten von ihr auch nur insoweit, dass er sie kurz überflog und ihr dann einen Einzeiler schrieb.
Auf den verpassten Anruf seiner Mutter rief er sie zurück und wurde gefragt, ob er Lust hatte, jetzt mit ins Dorf zu gehen, Sie wollten dort nach einem netten Restaurant gucken, weil ihnen die Preise des Hotels etwas zu teuer waren. Nachdem die Anspannung jetzt von Toni abgefallen war und seine Mutter das Wort Essen erwähnt hatte, war da gleich wieder das altbekannte kilometertiefe Loch in seinem Magen und er willigte nur zu gern ein, mitzugehen.
Nicht nur, um etwas zu essen, sondern auch, weil es Ablenkung bedeutete. Bis halb acht war es noch einige Zeit und Toni war jetzt schon ziemlich aufgeregt. Und wie immer in solchen Situationen würde die Zeit sich ziehen wie Kaugummi. Vorallem, wenn er alleine irgendwo herumhing. Dann lieber ein paar Stunden in Peters und Majas Gesellschaft.
Und gutem Essen, denn sie fanden ein nettes kleinen Restaurant, in dem es wirklich leckere Sachen gab und Toni langte ordentlich zu. Danach erklärte er sich dann noch einverstanden, den anschließenden Verdauungsspaziergang mitzumachen.
Während Peter und seine Mutter Arm in Arm vor ihm hergingen, hatte Toni mit Maja alle Hände voll zu tun. Natürlich zeigte sie keinerlei Anzeichen, dass sie nach dem Essen ein Schläfchen machen wollte. Im Gegenteil, eine Minute im Kinderwagen und sie fing lauthals an zu brüllen.
Also wackelte sie auf ihren kurzen Beinchen neben Toni her, der ihre Hand mit der einen hielt und mit der anderen den Kinderwagen schob. Aber ausnahmsweise war es nicht schlimm, dass Maja mal wieder seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, denn dann musste er wenigstens nicht pausenlos nur an Gregor denken.