Nachdem Toni seine sehr unpersönliche Entschuldigung losgeworden war, konnte er gehen und damit dieses Kapitel seines Lebens, wie er es geplant hatte, abschließen.
Und auch Gregor der ja grade noch auf seinem Weg zum Auto gewesen war würde jetzt gleich gehen, was damit bedeutete, dass dieses Kapitel für Toni endgültig beendet war.
So die Theorie.
Praktisch aber blieb Toni wo er war. Was an sich auch absolut kein Problem gewesen wäre – wenn Gregor nicht auch einfach sitzen geblieben wäre. Womit Toni absolut nicht gerechnet hatte. An sich war es ja schon eine Überraschung gewesen, dass Gregor, nachdem er schon am Auto gewesen war, noch einmal zu ihm zurückgekommen war. Und dass er sich, nach seinem eiskalten Blick, auch noch zu ihm gesetzt hatte.
Dabei gab es genug Argumente für Toni, jetzt sofort aufzustehen abzuhauen, wobei das Hauptargument eindeutig das sehr bekannte und nicht sehr willkommende Kribbeln von grade war. Dass Anna bestimmt inzwischen schon wach war, gesehen hatte, dass er nicht mehr da war und versucht hatte, ihn zu erreichen und es wegen des vergessenen Handys nicht geschafft hatte und sich jetzt sicher Sorgen machte, wäre auch noch ein Grund. Doch wenn das Kribbeln schon kein Argument gewesen war, war es ein sich sorgende Anna natürlich erst recht nicht.
Anstatt also aufzustehen und zu gehen, warf Toni Gregor einen schnellen Seitenblick zu. Er saß da, starrte vor sich hin und schwieg. Was Toni ziemlich unter Druck setzte, denn die Zeit, in der sie einfach nur zusammen sitzen und gar nichts sagen konnte und es sich nicht unangenehm anfühlte, waren schon lange vorbei. Wieder ein Argument, zu gehen, was Tonis Gehirn erneut geflissentlich ignorierte.
Stattdessen fing er an, sich darüber Gedanken zu machen, was er jetzt sagen konnte, um die Stille zu durchbrechen. Es durften auf definitiv nicht irgendwelche persönliche Dinge sein. Denn wenn er sich schon nicht an Punkt eins seines zwei Punkte-Plans, Gregor nach seiner Entschuldigung nur noch im Rahmen eines Treffens von Anna und Xenia zu sehen und auf keinen Fall persönliche Gespräche mit ihm zu führen, schon nicht gehalten hatte, Punkt zwei wollte er auf keinen Fall vermasseln. Obwohl er doch einige Fragen an Gregor hatte. Vorallem warum er plötzlich mit einer Frau zusammen war. Eine Tatsache von der Toni sich nach wie vor verarscht vorkam auch wenn er immer noch keine Ahnung hatte warum das so war.
Doch bevor sich sein Gehirn jetzt wieder in dieses Thema hineinsteigern konnte, suchte er schnell nach einem unpersönlichen Gesprächsthema, aber das Einzige, was ihm einfiel, war der gestrige Abend.
Er räusperte sich einmal. "Für die Kotzerei gestern kann ich mich dann ja auch noch entschuldigen," sagte er dann in einem möglichst beiläufigen Ton und Gregor lachte einmal. "Na ja, ich hab ja schon gesagt, solange du nicht ins Auto kotzt, ist alles bestens. Und das hast du ja nicht gemacht also: alles bestens."
"Ja schon," erwiderte Toni. "Aber ich fands trotzdem irgendwie ziemlich scheisse, dass ihr auf mich warten musstet. Und, dass ihr mir auch noch alle dabei zugesehen habt."
Gregor lehnte sich zurück, sah Toni an und grinste breit. "Wenn dir sowas schon unangenehm gewesen ist, dann hab ich hier was für dich." Und dann berichtete er Toni von einem Abend in irgendeiner Studentenkneipe, an dem er sich so die Kante gegeben hatte, dass er am Ende nicht mehr fähig war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Und weil er dazu nicht mehr in der Lage gewesen war, hatte er nicht nur sein Handy in der Kneipe vergessen sondern war auch durch irgendein offenes Fenster in einen Hausflur gestiegen. Er hatte sich dann hinter einem Kinderwagen, der dort stand, zusammengerollt und war auf der Stelle eingepennt. Um ein paar Stunden später von einem erschrockenen Schrei geweckt zu werden, als die Besitzerin des Kinderwagens mit ihrem Baby auf dem Arm entdeckt hatte, dass dort ein völlig Fremder lag.
Gregor war sofort aufgesprungen und losgelaufen, durch eine andere Tür in den Gemeinschaftsgarten, dort über einen Zaun geklettert, hatte in ein Blumenbeet gekotzt und war dann auf eine Straße gestolpert, die ihm bekannt vorkam. Er hatte dann doch in sein Wohnheim zurück gefunden und war für den Rest des Tages nicht mehr aus dem Bett aufgestanden
"Danach hab ich dann zwei Wochen lang immer Schiss gehabt, dass die Bullen irgendwann bei mir auftauche, um mich wegen Hausfriedensbruch mitzunehmen," schloß er und hatte er bis grade sinnierend auf einen Punkt in der Ferne gestarrt, wandte er sich jetzt zu Toni um und lachte einmal laut.
Toni, der ihn bis jetzt die ganze Zeit angesehen hatte, drehte rasch den Kopf zur Seite und stimmte in sein Lachen mit ein. "Dagegen war ich ja doch eher harmlos," sagte er und hoffte, dass Gregor nicht mitbekam, wie er rot wurde. Und er hoffte auch, dass er nicht gemerkt hatte, dass Toni ihn grade die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte. Und das nicht nur, weil Gregor von seiner mitreißenden und anschaulichen Art zu erzählen absolut nichts verloren hatte.
Sondern auch, weil Toni bei sich festgestellt hatte, wie gut er aussah, eine Erkenntnis, gegen die er sich absolut nicht hatte wehren können. Genau so wenig wie gegen die Feststellung, wie gut es sich anfühlte, Gregor anzusehen und seine Stimme zu hören. Zu dem Kribbeln von vorhin gesellte sich nun auch noch dieses angenehme warme Gefühl im Bauch und diese Kombination schaffte es endlich, Toni aus dem Delirium zu reißen, in dem er sich offensichtlich bis grade befunden hatte. Denn jetzt wurde ihm mit einem Schlag bewusst, was für eine dumme Idee es gewesen war, hier zusammen mit Gregor zu sitzen, geschweige denn, überhaupt erst hier hin zu joggen. Er hätte sofort wieder umdrehen müssen, als es ihm aufgefallen war.
Aber stattdessen hatte er stundenlang hier gesessen und auf Gregor gewartet. Um sich bei ihm zu entschuldigen, was auch ein völlig bescheuertes Vorhaben gewesen war. Schließlich schuldete er ihm gar nichts!
Abrupt stand er auf. "Ich muss dann jetzt," sagte er, ohne Gregor anzusehen und lief dann einfach los.
Aber es dauerte noch eine Weile, bis er sich nicht mehr wie ein kompletter Idiot vorkam. Und was sollte eigentlich dieser beinahe schon freundschaftliche Moment grade auf der Bank, wo Gregor ihn kurz vorher mit seinem Blick fast noch aufgespießt hätte? Nicht, dass er jetzt auf die Idee kam, dass Toni sich wieder mit ihm anfreunden wollte und entsprechend reagierte, wenn sie sich mal wieder sahen. Was definitiv nur noch passieren würde, wenn Anna und Xenia sich trafen und sie beide zufällig mit dabei waren!
Diesmal schaffte er es nicht, dass durchs Joggen sein Kopf wieder frei wurde und als er in sein Zimmer trat, war er zwar außer Atem, weil er eine längere Strecke zurück gelaufen war, aber sein Inneres war immer noch voll. Voll mit Bildern von Gregor, dem Klang seiner Stimme, sein Lachen... Toni rieb sich einmal über die Stirn, eine absolut sinnlose Geste, denn natürlich verschwand dadurch überhaupt nichts. Aber dann fiel sein Blick auf das Bett und die darin liegende tief schlafende Anna, die gar nicht mitbekommen hatte, dass er eine ganze Zeit weg gewesen war.
Bei ihrem Anblick durchschoss Toni die Erleichterung. Schließlich war Anna schon so oft sein Rettungsanker gewesen, als er das Gefühl hatte, in einem Meer von unerwünschten Gedanken zu ertrinken.
Er zog sich bis auf die Unterhose aus, wobei er seine Sachen achtlos auf den Boden warf, kroch dann zu Anna ins Bett und fing an, ihren Nacken zu küssen. Es dauerte einen Moment, bis sie anfing, darauf zu reagieren. "Guten Morgen," murmelte sie dann schlaftrunken, drehte sich zu Toni zum und schlang die Arme um seinen Nacken. Während sie sich küssten, schob Toni die Hand unter ihr Shirt und beschwor sich dabei selbst, endlich aufzuhören, an Gregor zu denken.
Aber Gregor war die ganze Zeit dabei und als Anna danach duschen ging, lag Toni auf dem Rücken, starrte an die Decke und war so wütend auf sich selbst, dass ihm ganz heiß wurde. Er stand auf, zog sich T-Shirt und Unterhose an und riss das Fenster auf, in der Hoffnung, sich dadurch etwas abzukühlen. Aber letztendlich führte es nur dazu, dass er da stand, runter auf die Straße starrte und sich ein weiteres Mal fragte, wieso er heute morgen unbedingt zu Gregor hatte joggen müssen. Womit er sich jetzt eindeutig richtig viel kaputt gemacht hatte. Denn sonst würde er nach dem Sex mit Anna jetzt hier nicht stehen. Und diese Erkenntnis sorgte dafür, dass er noch wütender auf sich selbst wurde und ihm noch heißer wurde.
Er umklammerte den Fenstergriff so fest, dass es irgendwann anfing weh zu tun. Am liebsten hätte er jetzt irgendetwas durchs Zimmer geworfen oder kaputt gemacht, aber da er nicht wusste, wann Anna zurück kam, ließ er es lieber sein und starrte einfach weiter auf die Straße.
Er war so in seine Wut versunken, dass er erschrocken zusammenzuckte, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Er fuhr herum und stand Anna gegenüber, die ihn stirnrunzelnd ansah. "Alles in Ordnung mit dir?" wollte sie wissen und Toni nickte heftig.
"Ja, natürlich ist alles mit mir in Ordnung!" erwiderte er wie aus der Pistole geschossen und bei seiner Reaktion war es nicht schwer für Anna zu erkennen, dass mit ihm eben nicht alles in Ordnung war.
"Na komm," sagte sie und fasste ihn sanft am Arm. "Sag mir doch einfach, was mit dir los ist und warum du in letzter Zeit so abwesend bist."
Toni zuckte einmal mit den Schultern. "Ist nicht mehr lange bis zu den Prüfungen und ich muss ja zusätzlich noch zwei machen, die ich letztes Semester ausgelassen hab. Und das ist ganz schön viel zu lernen." Er war heilfoh, dass ihm diese Ausrede auf die Schnelle eingefallen war, denn hier zu stehen und nach Worten zu suchen hätte Anna nur noch mißtrauischer gemacht.
Aber Lernen und Prüfungen war eine Sprache, die sie absolut verstand. Sie lächelte ihn liebevoll an. "Dann bin ich ja froh, wenn es sonst nichts ist," erwiderte sie. "Und ich hab sogar die perfekte Ablenkung für deinen Lernstress: was hälst du davon, wenn wir uns nachher mit Xenia und ein paar anderen Leuten treffen und einen Kaffee trinken?"
"Ich kann nicht," sagte Toni sofort. "Ich muss noch lernen." Nachdem, was er grade gesagt hatte, war das eine absolut schwache Ausrede bei der er natürlich gleich wusste, dass er verloren hatte.
Anna strahlte ihn an. "Ja klar, aber deswegen sollst du ja mitkommen. Es ist ja auch nur für ein paar Stunden und dann kannst du dich gleich wieder an deinen Schreibtisch setzen. Und ich muss ja auch noch was tun."
Selbstverständlich hatte es keinen Sinn mehr, jetzt noch weiter zu versuchen, sich herauszureden, also gab Toni gleich auf. "Na dann komm ich natürlich mit," sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. "Und dann geh ich jetzt auch besser mal duschen." Er griff sich seine Sachen und atmete einmal tief durch, nachdem er die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte.
Einen Moment stand er einfach nur da, starrte vor sich hin und fragte sich, wie er reagieren sollte, wenn Gregor nachher zu ihm hinkam und mit ihm reden wollte. Aber als er Stimmen aus der Küche hörte, fand er es besser, erst einmal ins Badezimmer zu gehen. Er nickte seinem Mitbewohner zu, der ihm entgegen kam, ging ins Badezimmer und schloß die Tür hinter sich ab.
Als er unter der Dusche stand fiel ihm auf, dass Anna ja lediglich Xenias Namen erwähnt hatte. Gregor kam vermutlich gar nicht und er machte sich grade völlig umsonst Gedanken.
Mit einem Schlag fühlte er sich besser. Neue Leute zu treffen würde ihn vielleicht wirklich ablenken und außerdem musste er ja auch gar nicht immer mitkommen, wenn Anna und Xenia sich trafen. Schließlich hatte er ja auch noch eigene Freunde und würde in der nächsten Zeit einfach immer etwas mit ihnen unternehmen. Und Anna konnte dann ja einfach mitkommen, wenn sie wollte.
Wenn er Gregor erst einmal eine Zeit nicht gesehen hatte, dann würden die unliebsamen Gedanken auch irgendwann verschwinden und dieses Kapitel wäre dann auch wirklich beendet.
Toni fühlte sich jetzt so gut, dass er die Dusche pfeifend zuende brachte und beim anschließenden schnellen Frühstück in der Küche auch noch angeregt an der Unterhaltung seiner zwei Mitbewohner teilnahm.
Nacher guckten er und Anna noch zwei Folgen ihrer momtanen Serie und dann war es auch schon Zeit, loszugehen. Das Café war nicht weit weg von Tonis Wohnung und der Spaziergang dorthin fühlte sich richtig gut an.
Sie waren schon fast da, als Annas Handy brummte. "Xenia verspätet sich etwas, aber wir sollen schon reingehen," informierte sie Toni, der es gleichmütig zur Kenntnis nahm.
Vor dem Eingang stand eine junge Frau, die Toni noch nie vorher gesehen hatte, die Anna aber kannte. "Hallo," sagte sie zu Toni und hielt ihm ihre Hand hin. "Du musst Toni sein. Ich bin Celina."
"Ja, bin ich. Hallo," antwortete Toni und schüttelte ihr einmal die Hand. Anna bekam eine kurze Umarmung. "Xenia hat dir sicher schon Bescheid gesagt, dass sie später kommt."
"Hat sie," bestätigte Anna.
Celina grinste einmal. "Deswegen hat sie mich gebeten, euch zum Tisch zu bringen. Folgt mir einfach unauffällig."
Das Café war ziemlich verwinkelt und der große Tisch stand im hintersten Winkel. Alles war ziemlich eng und Toni und Anna mussten sich an den Stuhllehnen der anderen vorbeiquetschen, um ihre Plätze zu erreichen. Überall wurde sich lebhaft unterhalten und auch Toni wurde, kurz nachdem er sich hingesetzt hatte, sofort von seinem Tischnachbarn in eine Unterhaltung verwickelt. Er erfuhr, dass es zum größten Teil Kunststudenten waren, genau wie Xenia, und so konnte er bei einigen Themen nicht mitreden, sondern nur zuhören. Aber das fand er gar nicht schlimm, denn die Leute waren ziemlich nett, wenn auch ein bisschen abgedreht. Aber so war das vermutlich bei Kunststudenten.
Grade, als er versuchte, eine Diskussion über einen ihm völlig unbekannten impressionistischen Maler zu folgen, gab es auf einmal ein großes Hallo und als er aufblickte, stand da nicht nur Xenia, sondern auch Gregor. Und natürlich trafen sich ihre Blicke für einen kurzen Moment, dann sah Gregor wieder weg, um jemanden zu begrüßen.
Der Schock bei Toni hielt sich in Grenzen, denn eigentlich hatte er irgendwie die ganze Zeit erwartet, dass Gregor dann doch mitkam. So funktionierte eben das Leben.
Allerdings konnte er sehr bald feststellen, dass Gregor danach kein einziges Mal von seinem Platz am gegenüberliegenden Ende des Tisches zu ihm hinübersah. Und es war in Ordnung, dass Toni das nur erkannte, weil er zu Gregor öfters mal hinsah, weil es ja nur darum ging, zu überprüfen, ob er ihn mit seinen Blicken in Ruhe ließ. Und genau so in Ordnung war es, dass Xenias und Gregors miteinander verschlungene Hände, wieder einmal, für alle gut sichtbar auf dem Tisch lagen. Wenn sie allen zeigen mussten, dass sie zusammen und glücklich waren, dann war das wirklich absolut in Ordnung!