Auch zwei Tage danach war die Stimmung zwischen ihnen noch ziemlich angespannt. Wenn sie Sex hatten, miteinander kuschelten oder einfach nur darüber redeten, wie ihr Tag gewesen war, merkte Toni deutlich, dass Gregor nie wirklich bei der Sache war und oft erwischte er ihn dabei, wie er einfach nur da saß, vor sich herstarrte und offensichtlich über etwas nachdachte. Und Toni wusste natürlich genau, was dieses Etwas war, aber er wollte sich damit gar nicht länger befassen. Er klammerte sich lieber an den Schwur, den Gregor damals auf dem Spielplatz abgelegt hatte und dass schon alles wieder gut werden würde.
Und als Gregor kurz danach bestens gelaunt von der Uni zurückkam und auf einmal wieder ganz der Alte war, schien es dann auch soweit zu sein und Toni war extrem erleichtert. Er vermutete, dass Gregors gute Laune daher kam, dass er endlich die Note für seinen Vortrag bekommen hatte und sie, wie erwartet, sehr gut ausgefallen war. Aber etwas hielt Toni davon ab, ihn danach zu fragen und Gregor sprach auch selbst nicht darüber. Also schwiegen sie beide, saßen engumschlungen auf dem Boden, schauten einen Film auf Gregors Laptop und ignorierten das Offensichtliche, was da zwischen ihnen war und wie eine dunkle Wolke über ihnen hing. Stattdessen lächelten sie sich an, küssten sich und Gregor legte den Kopf auf Tonis Schulter. Der Abend war dann allerdings nicht so entspannt, wie sie sich beide einander vorzumachen versuchten.
Diese Nacht konnte Toni nicht einschlafen. Das hohle Gefühl, das sich im Laufe der letzten Stunden in in ihm breit gemacht hatte und einfach nicht verschwinden wollte, hinderte ihn daran. Also lag er da und starrte vor sich her während er Gregor fest im Arm hielt und seinen tiefen und gleichmäßigen Atemzügen lauschte. Und irgendwann im Laufe der Nacht stieg die grauenhafte Vorahnung in ihm auf, dass das das grade das letzte Mal war, dass sie so zusammen sein würden.
Diese Vorahnung ließ ihn auch am nächsten Tag nicht los und so sehr er auch versuchte, sie weg- und sich dabei einzureden, dass jede Beziehung doch mal durch ein Tief ging und sie das schon wieder hinbiegen würden, er wurde sie nicht los.
Die Vorlesungen rauschten ungehört an ihm vorbei und auf der Arbeit war er so fahrig und geistesabwesend, dass sein Chef ein ernstes Wort mit ihm redete. Denn nicht zu reagieren, wenn er von einem Besucher um einen großen Eimer Popcorn gebeten wurde, sondern einfach dazu stehen und vor sich herzustarren ging einfach nicht. Toni gelobte natürlich Besserung, aber umsetzen konnte er es nicht wirklich. Es gelang ihm zwar danach, sich hin und wieder zusammen zu reißen, aber eben nur hin und wieder und eigentlich erwartete er, dass er noch einmal zum Chef zitiert werden würde. Aber auch, als er im Pausenraum seine Tasche aus seinem Spind holte wollte ihn keiner sprechen und so sah er zu, dass er hier wegkam.
Er fuhr direkt zu Gregor und als er an seine Tür klopfte, machte er nicht, wie sonst immer, sofort auf. Dabei war es sieben Uhr und auch, wenn sie nicht um diese Uhrzeit verabredet waren, war es doch die Zeit des Tages, an dem sie alle anfallenden Sachen erledigt hatte und der Rest des Abends dann nur für sie beide reserviert war. Und, dass Gregor jetzt nicht da war und ihm, wie Toni nach einem Blick auf sein Handy festsellen konnte, auch keine Nachricht geschickt hatte, dass er später kam, machten noch einmal deutlich, dass hier absolut gar nichts in Ordnung war.
Toni ließ sich schließlich mit dem Schlüssel, den Gregor ihm vor einiger Zeit gegeben hatte, selber rein, setzte sich auf den Schreibtischstuhl und war nicht in der Lage, etwas anderes zu machen, als auf den Teppich zu starren und seinen düsteren Gedanken nachzuhängen.
Das Geräusch des Schlüssels im Schloß brachte ihn schließlich in die Realität zurück. Er sprang auf und sein Herz fing heftig an zu klopfen.
Schon an Gregors Gesicht konnte er sehen, dass jetzt gleich ein sehr unerfreuliches Gespräch folgen würde und er steckte seine Hände, die anfingen zu zittern, in die Hosentasche, wo er sie zur Faust ballte.
Und wenn er noch Zweifel gehabt hätte, dass heute etwas anders war, dann hätte Gregors Gruß, der nur aus einem neutralen "Hallo" und einem kurzen Kopfnicken statt wie sonst aus einem strahlenden Lächeln und einem Kuss bestand, es ihm spätestens jetzt klar gemacht.
Aber Toni wusste ja schon, dass die Lage grade sehr unerfreulich war. Deswegen schluckte er einmal, weil sein Mund plötzlich staubtrocken war und erwiderte Gregors Hallo mit heiserer Stimme.
Gregor sah ihn einen Moment wortlos an und seufzte dann einmal tief. "Okay, komm setzten wir uns erst mal." Und als Toni weiter stocksteif da stand und ihn anstarrte, packte er ihn am Arm und zog ihn sanft runter auf den Teppich. Sie saßen sich gegenüber und wieder sagte keiner von ihnen ein Wort, bevor Gregor noch einmal seufzte. "Ich habe in den letzten Tagen viel nachgedacht und mir ist klar geworden, dass es so einfach nicht weiter geht." Er sah Toni ernst an. "Ich liebe dich! Und das wird sich sicher auch niemals ändern, aber nach letzten Mittwoch ist mir klar geworden, dass Liebe alleine offensichtlich nicht ausreicht. Du hättest vor Melissa, die dir ja schon mit offenen Armen entgegen gekommen ist, ohne Probleme zugeben können, dass wir beide zusammen sind aber das muss ich dir vermutlich gar nicht sagen, weil dir das selbst schon klar gewesen ist. Oder?!"
Sein Blick war so fordernd, dass Toni nicht nicht antworten konnte. Deswegen senkte er den Kopf und nickte einmal. Zum Sprechen war er nicht in der Lage.
"Und dass du es sogar in der Situation nicht hingekriegt hast, hat mir dann echt gezeigt, dass du es niemals schaffen wirst, egal, wieviele Steine ich dir noch aus dem Weg räume," sagte Gregor. "Und ich kann echt nicht so weiter machen."
Toni hob wieder den Kopf. "Aber du hast doch geschworen," brach es aus ihm heraus und sofort, nachdem er es ausgesprochen hatte, wusste er, dass das absolut dämlich gewesen war.
Gregor kniff auch prompt den Mund zu einem dünnen Strich zusammen und runzelte die Stirn und es sah so aus, als müsste er grade alle Kraft zusammen nehmen, um nicht auszurasten. Aber nur, weil Vulkan Gregor schon länger nicht mehr ausgebrochen war, hieß das ja nicht, dass er komplett erloschen war und Toni erwartete, dass er jetzt wieder ausbrechen würde, aber dann stieß Gregor einmal zischend die Luft aus und entspannte sich danach wieder. "Wirklich?" fragte er dann. "Du kommst mir wirklich mit dem Schwur als ob wir kleine Kinder sind?!" sagte er vorwurfsvoll aber dann lächelte er einmal freudlos. "Wobei ich hab's eigentlich nicht anders verdient, dass du jetzt damit anfängst. Denn schließlich war dieser Schwur echt mit das Dümmste, was ich machen konnte. Aber damals dachte ich noch, dass dieses Versteckspiel nur vorübergehend ist und du, weil wir ja jetzt beide älter und vernünftiger geworden sind, irgendwann erkennst, wie wunderbar das mit uns beiden ist und dass es dir das dann wert ist, endlich dazu zu stehen, wer du bist. Ich hab mich natürlich auch darauf eingestellt, dass es länger dauern wird, aber dann kam Melissa und hat mir die Augen geöffnet."
"Und warum hast du mit mir darüber nicht geredet?" fragte Toni und seine Stimme zitterte, aber so sehr er sich auch bemühte, er bekam es nicht unter Kontrolle. "Wenn du mir gesagt hättest, was dein Plan ist, dann hätte ich es vielleicht hingekriegt."
"Ja, vielleicht!" betonte Gregor. "Aber ich denke, es hätte rein gar nichts geändert. Du hast es dir in deinem bequemen Nest gemütlich gemacht und ich hab die ganze Zeit brav mitgespielt. Aber damit ist jetzt Schluß! Ich muss schließlich auch mal langsam an die Zukunft denken!"
Toni lachte einmal verblüfft auf. "An die Zukunft?! Du bist vierundzwanzig, warum willst du denn jetzt schon dein Leben durchplanen?!"
"Ich will Kinder!" erwiderte Gregor ernst. "Ob adoptiert, in Pflege oder meine eigenen – das ist mir egal! In meiner Familie heiratet man früh und kriegt viele Kinder und diesen Plam hab ich auch!"
"Ach so?" sagte Toni sakrastisch, denn in diesem Moment stand ihm Gregors Familie mit seinen Eltern und seinem einzigen Bruder Johann deutlich vor Augen. Und da es ein absolut naheliegender Gedanke war, war es für Gregor nicht schwer ihn mitzugehen. "Wenn meine Mutter nach mir nicht zwei Fehlgeburten gehabt hätte und ihr irgendwann mehrere Ärzte dazu geraten hätten, es auf keinen Fall weiter zu versuchen, weil sie sonst ihr eigenes Leben auch noch in Gefahr bringen würde, dann wären wir jetzt auf jeden Fall auch zu fünft oder sechst!"
Toni, der noch nie drüber nachgedacht hatte, ob er später mal Kinder haben wollte, fühlte sich in diesem Moment absolut ungerecht behandelt. "Warum hast du über diese ganzen Sachen nie mit mir greredet?!" rief er und diesmal war er es, der vorwurfsvoll klang.
"Als ob das irgendwas geändert hätte!" entgegnete Gregor beinahe anklagend. "Du weißt doch wie ich bin und dass ich dieses Versteckspiel nie mitmachen wollte, aber einen Kompromiss eingegangen bin, weil ich unbedingt mit dir zusammen sein wollte! Aber anstatt, dass du auch mit dir einen Kompromiss eingehst und endlich mal den Arsch hochbekommst, hast du einfach weiter gemacht! Aber ich habe jetzt keine Lust mehr darauf, noch weitere Kompromisse zu machen!" Er räusperte sich einmal. "Ich hab mich gestern mit Xenia getroffen. Und heute auch. Wir haben beschlossen, es wieder miteinander zu versuchen. Und deswegen mache ich jetzt mit dir Schluß."
Das war zwar genau das, womit Toni gerechnet hatte, aber trotzdem traf es ihn jetzt wie ein Hammerschlag und er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Eigentlich wollte er Gregor am liebsten einfach nur anbetteln, es zurückzunehmen und ihm dann versprechen, dass er sich ändern würde, aber dann dachte er an seine Worte und dass er Recht hatte. Denn wenn noch nicht einmal die wunderbare Beziehung mit ihm Toni dazu gebracht hatte, vor einer offensichtlich absolut toleranten Melissa zu sich zu stehen, dann würde er es sowieso niemals schaffen. Und Toni hatte ja schon festgestellt, dass er Gregor gar nicht verdiente.
Nichtsdestotrotz hatte er das Bedürfnis, irgendetwas zu sagen, aber er wusste einfach nicht, was. Deswegen sah er Gregor nur schweigend an, der seinen Blick für einen Moment erwiderte. Dann atmete er einmal tief ein und stand auf. "Am besten, du nimmst jetzt gleich alle deine Sachen mit, damit das alles nicht noch unnötig herausgezögert wird! Den Schlüssel kannst du auf den Schreibtisch legen!"
Während Toni seinen Kram zusammensuchte sprachen sie kein Wort miteinander und als er schließlich mit seiner vollgestopften Tasche auf den Flur trat, schloß Gregor ohne ein weiteres Wort die Zimmertür hinter ihm und das Klacken, als das Türschloß einrastete machte Toni die Endgültigkeit der Situation erst so richtig bewusst.
Er stand noch eine ganze Weile wie angegossen da, in ihm war alles kalt und betäubt und er war noch nichtmal in der Lage darüber nachzudenken, wo er jetzt hingehen sollte. Erst, als sich ziemlich in der Mitte des Flures eine Tür öffnete und laute Stimmen zu hören war, wurde er zumindest soweit aus seinem Delirium gerissen, dass er wieder in der Lage war, sich zu bewegen. Er verließ das Wohnheim, wobei er auf der Treppe fast gestolpert wäre und schaffte es irgendwie, in den Bus zu seiner Wohnung einzusteigen.
In seinem Zimmer angekommen ließ er die Tasche einfach auf den Boden fallen und legte sich aufs Bett. Immer noch war in ihm alles kalt und hohl und vielleicht hätte es ihm etwas geholfen, wenn er einfach geweint hätte. Aber auch dazu war er nicht in der Lage.
Er wusste nicht, wie lange er einfach so dagelegen und auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers gestarrt hatte, als sein Handy plötzlich in der Tasche seiner Jacke klingelte, die er bis jetzt noch nicht ausgezogen hatte. Es war der Ton für die Benachrichtigung und für einen winzigen irren Moment hoffte Toni, dass es Gregor war, der alles, was er zu ihm gesagt hatte, zurücknahm und ihn bat, zu ihm zurückzukommen.
Aber als es ihm endlich gelungen war, seine zitternden Hände soweit unter Kontrolle zu bringen, dass er sein Handy aus der Tasche ziehen konnte, war es keine Nachricht von Gregor sondern von Anna.
Nach einem Monat intensiven Lernens ohne Ablenkung hatte sie sich dazu entschlossen, jetzt doch das zu befolgen, was in sämtlichen Lernratgebern stand und sich mehr Pausen und Ablenkung zu gönnen. Und ob er jetzt vielleicht noch zu ihr kommen könnte, denn sie brauchte grade dringend Gesellschaft.
Toni starrte die Nachricht so lange an, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen, weil ihm die Tränen in die Augen gestiegen waren. Denn in diesem Moment war ihm klar geworden, dass das hier jetzt das Leben sein würde, das er zwar nicht wirklich leben wollte, für das er sich aber trotzdem entschieden hatte. Und dass er, nach all dem was er bis jetzt gemacht hatte, auch genau so verdient hatte.