Zuhause
Jesse
Fünf Tage. Fünf Tage lang sind Xander und er nun in Wisconsin gewesen. Heute geht es zurück nach New York und Jesse ist wahnsinnig nervös. Genau genommen könnte er sich selbst ohrfeigen. Er war ja so dämlich. Xander hat sich seit dem Zwischenfall gestern Abend noch nicht wieder blicken lassen und er fühlt sich mittlerweile wirklich wahnsinnig mies. Er hat gestern natürlich noch versucht mit dem Jüngeren zu reden. Aber keine Chance. Xander war – sobald es ihm möglich gewesen war – wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen und noch ehe Jesse ins Haus gekommen war, war seine Zimmertür bereits ins Schloss gefallen. Das hat Jesse zwar nicht wirklich aufgehalten, er hat dennoch versucht mit Xander zu sprechen, doch auf Klopfen an der Tür folgte keine Reaktion. Dann wollte Jesse das Zimmer einfach betreten, zwar nicht besonders höflich, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Allerdings wurde dies durch ein Gewicht auf der anderen Seite der Tür verhindert. Oder viel mehr ließ sie sich nur einen Spalt breit öffnen. Und Jesse hat realisiert, dass Xander sich demonstrativ vor die Tür gesetzt hat, um ihn am Eintreten zu hindern. Gut, etwas anderes blieb ihm auch nicht übrig, der kleine Raum besaß schließlich keinen Schlüssel. Damit gerechnet hat Jesse trotzdem nicht. Aber er hat Xanders Anliegen unmissverständlich verstanden. Jesse sollte sich fernhalten und das tat er dann auch. Wenn auch nicht, ohne noch einmal anzumerken, dass der Kuss keinesfalls beabsichtigt war. Und das es ihm leid tat.
Da gibt es nur ein Problem. Gut, eigentlich zwei. Der Kuss war beabsichtigt – wenn auch eine Affekthandlung – und leid tut es ihm auch nicht. Obwohl er genau weiß, dass es das sollte. Wie um alles in der Welt kommt er auch darauf Xander einfach zu küssen? Einen anderen Mann überhaupt zu küssen? Er ist schließlich nicht schwul. Definitiv nicht. Zumindest ist er bis gestern Abend noch davon überzeugt gewesen, für das eigene Geschlecht nichts übrig zu haben. Es ist einfach zum Haare raufen. Aber insgeheim, auch wenn sich alles in ihm noch dagegen sträubt, weiß er, dass es nicht ganz stimmt. Jesse tigert unruhig in der Küche auf und ab, während seine Gedanken abschweifen.
Damals zum Ende seiner Middle School Zeit war er sich, um ehrlich zu sein, nicht sicher gewesen, ob er wirklich und zu hundert Prozent hetero war. Er erinnert sich an einen Abend im Spätfrühling, den er bei seinem Sandkasten Freund Casper zu Hause verbracht hat. Da Casper nur zwei Straßen weiter wohnte, war es okay, wenn Jesse nach dem Essen noch zu ihm rüber ging. Bei anderen Freunden waren seine Eltern immer wahnsinnig streng gewesen. Aber bei Casper war es anders. Die beiden kannten sich einfach seit der Vorschule und Caspers Vater arbeitete als stellvertretender Firmenchef in der Firma von Jesses Vater, weswegen die Jenkins oft bei den Kings zum Abendessen eingeladen waren. An diesem Abend war er jedenfalls auch noch bei Casper gewesen, als dieser während einer Runde Black Jack plötzlich davon anfing, dass er festgestellt habe, er sei bisexuell. Das kam einfach aus dem Nichts. Als hätte er ihm gerade eröffnet, seine Mutter hätte einen neuen Satz Geranien im Vorgarten gepflanzt und es hat den damals Vierzehnjährigen fast vom Stuhl gehauen. Vor allem, weil er sich selbst ja gar nicht so sicher gewesen war, wie es um seine sexuelle Orientierung stand. Er hatte natürlich mitbekommen, wie all die Jungen aus seiner Klasse damit anfingen, sich plötzlich für die Mädchen aus seiner Jahrgangsstufe zu interessieren und diese auch hin und wieder zu vergleichen. Was ihre Brüste und andere Merkmale anging, versteht sich. Und ja, das war an ihm irgendwie spurlos vorbeigegangen. So spurlos, dass er sich gefragt hatte, ob etwas mit ihm nicht stimmte. Und dann hatte er auch noch mit schrecken feststellen müssen, dass er keinen Unterschied darin sah, was die Attraktivität von Jungen und Mädchen anging. Die Jungs aus seiner Klasse sprachen immer davon, dass ein Mädchen gut aussah. Bei Jungen nahmen sie diese Worte gar nicht erst in den Mund. Jesse hingegen wären auf Anhieb mehrere Jungen aus seinem Jahrgang eingefallen, die er als gut aussehend empfand. Aber er hatte sich eingeredet, dass er lediglich ein Spätzünder war. Dass er generell einfach noch kein Interesse an solchen Dingen hätte, und es damit zusammenhängen würde.
Bis Casper ansprach, er würde sich selbst für Bisexuell halten. Denn dieser Gedanke war Jesse durchaus auch schon gekommen, was ihn selbst betraf, aber er hatte sich einfach verboten einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Und nun sprach sein Freund einfach so darüber, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, war er natürlich nicht um die Frage umhin gekommen, wie Casper darauf kam. Schließlich entschied man wohl nicht von heute auf morgen, das man nun Bisexuell war. Casper erzählte ihm dann, er habe Maurice Stubborn geküsst und danach wäre es ihm klar gewesen. Mal ganz abgesehen von der zuvor undenkbaren Tatsache, sein bester Freund würde einen anderen Jungen küssen, war Jesse schlichtweg darüber erschrocken, um wen es sich handelte. Maurice Stubborn war in der Zehnten und noch dazu Vizepräsident des Drama-Clubs. Somit gut zwei Jahre älter als Casper, der ohnehin schon ein Jahr älter war als Jesse. Er war so überrascht davon gewesen, dass er nicht vermeiden konnte Casper zu Fragen, wie er ausgerechnet an Maurice gekommen war.
Jesse kann sich heute noch genau an Caspers Lachen erinnern, als der ihm vorgehalten hat, dass jeder andere beste Freund völlig aus den Wolken gefallen wäre, weil er überhaupt einen anderen Jungen geküsst hat, während Jesse schlichtweg über die Person, nicht aber den Kuss, schockiert war. Dann meinte er nur, es hätte sich ebenso ergeben. Genauso wie sich der Kuss zwischen Casper und ihm an diesem Abend einfach so ergeben hat. Jesse hatte schlichtweg nach einer Bestätigung dafür gesucht, dass er genauso normal war, wie alle anderen Jungen aus seiner Klasse und Casper hatte ihm darauf nur zugesagt, dass er das erst wissen könne, wenn er es einmal ausprobiert habe. Das tat er dann eben. Casper ließ sich ganz von allein dazu herab, ‚Versuchskaninchen‘ zu spielen.
Doch nach diesem Kuss war Jesse in Wahrheit nur noch verunsicherter als vorher. Denn er konnte das Gefühl, was er dabei gespürt hatte, einfach nicht einordnen. Er hat geglaubt, danach wäre er schlauer. War er nicht. Nicht im Geringsten. Es war nicht so, dass es sich wahnsinnig gut angefühlt hätte, aber es war eben auch nicht schlimm gewesen. So wie es einige Jungen aus seiner Klasse erzählt hatten. Das es einfach nur widerlich wäre. Obgleich er nicht glaubte, dass sie zu einem Urteil befähigt waren, weil sicher noch keiner von ihnen jemals einen anderen Jungen geküsst hatte. Es war schlichtweg unerwartet gewesen. Ein komisches Gefühl. Nicht mehr und nicht weniger. Und das machte es nicht besser. Obwohl er sich ab diesen Zeitpunkt jeden weiteren Gedanken daran verbot, etwas für das gleiche Geschlecht übrig haben zu können, blieb die Unsicherheit in den darauffolgenden Wochen. Und obschon er von diesem Abend an für sich selbst beschlossen hatte, dass er wohl oder übel ein Spätzünder war, sicher aber hetero, konnte er nicht verhindern, wie er eine Abneigung gegen Maurice entwickelte , als bald er ihn auch nur in Caspers Nähe erspähte. Und er hatte sich immer eingeredet, es läge daran, was für ein unsäglicher Idiot, Maurice Stuppborn sei. Das ging fast drei Monate lang so, bis zum Summer Break. In diesen drei Monaten, nach denen er endlich an die High School wechseln würde, lernte er Cassie kennen. Cassie, die dafür sorgte, dass Jesse sich das erste Mal überhaupt für ein Mädchen interessierte. Die ihn einfach verstand. Sie war neu in die Stadt gezogen, als ihr Vater die Stelle des Gemeindepriesters in Fairfield einnahm, die einige Wochen zuvor durch den Tod des alten Pfarrers frei geworden war. Das hübsche Mädchen mit den braunen Locken und den meerblauen Augen hatte von der ersten Sekunde an einige Blicke auf sich gezogen und es wäre ihr ein leichtes gewesen, in jede erdenkliche Clique hereinzukommen, wenn sie denn gewollt hätte. Doch eines Tages, als Jesse seine freien Stunden mal wieder alleine fristete, weil Casper mit seiner Familie im Urlaub war und er zu den meisten Bekannten außerhalb der Schule keinen Kontakt pflegte, hat sie sich einfach zu ihn gesetzt. Und sie haben geredet. Einfach geredet. Bis zum Abend. Am nächsten Tag dasselbe. Und so ging es ab da für den Rest der Ferien. Und auch als Casper aus den Ferien zurückkehrte und Jesse eigentlich schon fast damit rechnete, dass er von nun an nur noch das fünfte Rad am Wagen sein würde, änderte sich kaum etwas. Nun waren sie eben ein unzertrennliches Dreiergespann. Und auch in dieser Zeit achtete Cassie darauf, immer wieder nur Zeit mit Jesse zu zweit zu verbringen. Es waren tolle Stunden. Und als die Schule dann wieder anfing und sie beide ihr Freshman Jahr an der High School begannen, war es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ein Paar wurden.
Der Gedanke an Cassie bringt Jesse unvermittelt zurück ins Hier und Jetzt. Er hat seither nie wieder einen Gedanken daran verschwendet, dass er durchaus auch etwas für einen anderen Mann empfinden könnte und nun steht er hier und kann nicht abstreiten, dass er etwas für Xander empfindet. Und was immer es nun genau sein mag, es ist deutlich mehr, als man für eine gänzlich fremde Person empfinden sollte. Und vermutlich auch deutlich mehr, als ein heterosexueller Mann für einen anderen Mann empfinden sollte. Aber er kann nichts dagegen tut. Und das bereitet ihm schon seit gestern Morgen Kopfzerbrechen. Und Bauchschmerzen. Wie soll er Cassie auch in die Augen sehen, nach zehn Jahren Beziehung und ihr sagen, dass er Gefühle für eine Person entwickelt hat, die er eigentlich nicht einmal eine Woche kennt? Und selbst, wenn er ihr nichts erzählt und er es irgendwie schafft, in Xander nicht mehr, als eines Tages vielleicht einen Freund, zu sehen, dann bleiben die Bauchschmerzen noch immer. Schließlich hat er Xander geküsst. Trotz des Wissens verlobt zu sein. Hat Cassie, wie man es auch drehen und wenden mag, betrogen. Ohne besonders zu zögern. Verdammt. Er hat wirklich scheiße gebaut.
Er sitzt auf dem Stuhl in der Küche, sein Gesicht in den Händen vergraben, als er Xander mit rauer Stimme fragen hört:
„Jesse?“
Er blickt auf.
„Können wir einfach vergessen, was gestern passiert ist?“
Jesse nickt nur. Ein wenig perplex aber ebenso dankbar. Sicher. Er wird’s versuchen. Aber versprechen kann er nichts.
„Okay.“, sagt er langsam. Um Xander zumindest in irgendeiner Art und Weise eine verbale Antwort zukommen zu lassen. Der zuckt nur unsicher mit den Schultern. Schaut in jede Richtung, nur nicht in Jesses. Meidet seinen Blick. Bevor er sich am Hinterkopf kratzt und meint:
„Gut, dann ist das ja geklärt.“
Jesse ist sich sicher, das sollte lässig klingen, tut es aber nicht. Tut es ganz und gar nicht. Mehr als würde Xander krampfhaft versuchen die Dinge wieder gerade zu biegen. Die Dinge, die Jesse kaputt gemacht hat. Doch es ist nicht die Aufgabe des Jüngeren seine Fehler wieder gut zu machen. Und Jesse hat auch nicht vor, Xander diese unliebsame Aufgabe zu übertragen. Das wäre nicht richtig.
„Xander …“, setzt er an, wird jedoch direkt unterbrochen.
„Nein. Okay? Lass uns einfach nicht darüber reden. Es ist nie passiert und fertig. Bitte!“
Er klingt dabei so flehentlich, dass Jesse nicht mehr wagt noch etwas zu sagen. Als sich ihre Blicke treffen, spricht aus Xanders Augen noch viel mehr als nur dieses Flehen. In den braunen Augen liegt ein merkwürdiges Flackern. Für einen Moment glaubt er, Xanders Lippen beben zu sehen. Die Aussage ist so eindeutig, wie irgend möglich. Er wird darüber kein Wort mehr verlieren. Auch, wenn ihm das nicht gerade leicht fallen wird.
„Wir sind Freunde, oder?“
Die Frage scheint überhaupt nicht in den Kontext zu passen und Jesse weiß einen Moment lang nichts mit ihr anzufangen. Weiß nichts darauf zu erwidern. Freunde. Er weiß nicht genau, wieso er es merkwürdig findet, dieses Wort aus Xanders Mund zu hören aber im selben Augenblick stellt er fest, dass es sich darüber freut. Sie sind Freunde. Also nickt er und Xander erwidert dieses nicken. Nur um eine Sekunde später mit den Worten „Ich muss packen“, seinen Stuhl zurückzuschieben auf dem er sich erst Sekunden zuvor niedergelassen hat und die Küche zu verlassen. Jesse kann darüber nur den Kopf schütteln. Packen? Was denn packen? Er ist mit nichts weiter als den Kleidern an seinem Leib hier angekommen, aber gut, er tut einfach so, als wüsste er es nicht besser.
Gute zwei Stunden später packen sie dann tatsächlich ihre sieben Sachen in den Kofferraum des kleinen grünen Smarts. Während Jesse sich langsam im Kreis dreht betrachtet er zum letzten Mal für geraume Zeit die weiß gepuderte Landschaft um sich herum. In der Nacht ist wieder sachter Neuschnee gefallen. Nicht viel und bald wird er fort sein. Eine seltsame Melancholie befällt ihn. Diesen Ort nach fast einer Woche wieder zu verlassen ist befremdlich. Es mag der Abgeschiedenheit der Hütte geschuldet sein, aber hier fühlt er sich den Alltagssorgen ungekannt fern. Daher nun vermutlich auch diese Wehmut. Auch Xander hängt wohl seinen ganz eigenen Gedanken hinterher. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und Jesse wüsste zu gern, woran er gerade denkt. Er blickt so still in den Himmel, dass der Medizinstudent davon überzeugt ist, es muss etwas Wichtiges sein. Dennoch wird es Zeit sich auf den Rückweg nach New York zu machen und so kommt er nicht umhin, diese Gedankengänge, wie weittragend sie auch sein mögen, zu unterbrechen. Hierzu klopft er einmal lautstark auf sein Autodach und verkündet:
„Komm, Zeit nach Hause zu fahren.“
Xander erwidert seinen Blick mit unverhohlener Skepsis.
„ … nach Hause“, murmelt er leise, steigt aber ohne dem noch etwas hinzuzufügen ein.
Kaum biegen sie auf die Landstraße ab, die sie wieder auf den Highway führen soll, da ist Xanders Angespanntheit in der dünnen Luft des Wagens förmlich greifbar. Zudem fragt sich Jesse, ob es eigentlich eine Medaille dafür gibt, sich möglichst klein in einem Autositz zu machen. Wenn ja, Xander würde sie garantiert gewinnen. Er bemüht sich geradezu darum in seinem Sitz zu verschwinden. Andererseits ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass man sich zurückzieht, wenn man einer ungewissen Zukunft ins Auge blickt. Ihm wird jetzt erst bewusst, was für ein unangenehmes Gefühl das sein muss und er muss sich eingestehen, dass es ein Gefühl ist, dass er nicht oder nur bedingt nachvollziehen kann, denn er hat nie in seinem Leben vor solch einer Situation gestanden. Um die unangenehme Stille zu brechen fordert Jesse Xander auf:
„Schau mal ins Handschuhfach.“
„Und dann?“
„Tu’s einfach. Die Frage beantwortet sich schon von allein.“
Ein kurzer Blick zur Seite zeigt ihm, wie Xander seine Augenbrauen zusammenzieht und die Stirn runzelt.
„Und wenn ich keine Lust dazu habe?“
„Xander, lass die Scheiße und mach das verdammte Handschuhfach auf.“
„Hast du gerade geflucht?“
„Xander!“
„Okay, ich mach ja schon … ehm … ein Walkman? Wo kommt der denn jetzt her?“
„Aus China? Das nehme ich zumindest an Ich würde ja gerne behaupten er wurde lokal produziert, aber das ist höchst unwahrscheinlich, ich denke also es handelt sich um Chinaware.“
Xander schüttelt verständnislos den Kopf. Aber der Hauch eines Grinsens ziert seine Lippen.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass keine der Kassetten deinen Musikgeschmack treffen wird, aber das ist die Auswahl, von der ich am ehesten glaube, sie könnte dir zusagen.“
Jesse hat wirklich einen Moment mit sich gehadert, als er beschlossen hat, den alten Walkman hervorzukramen. Unsicher, ob der Xander nicht eher langweilen würde, als ihn auf der mehrstündigen Autofahrt zumindest etwas abzulenken. Er weiß noch genau, wie er das kleine – lange verhasste – Gerät erhalten hat. Das war 1989. Zu seiner Einschulung. Sein Vater war geschäftlich vereist gewesen. Drei Wochen lang. Aber er hatte versprochen, zu seiner Einschulung da zu sein. War er nicht. Am Morgen seines Einschulungstages lag auf dem Küchenstuhl, auf dem sein Vater hätte sitzen sollen, ein kleines braunes Päckchen. Darin ein brandneuer Walkman. Jesse hat nie ein Wort darüber verloren, aber deshalb hat er das Gerät jahrelang fast leidenschaftlich gehasst. Sein Vater hat wieder einmal geglaubt, er könnte seine Abwesenheit mit einem neuerlichen Geschenk kompensieren. Doch Jesse kam mit seinen sechs Jahren langsam dahinter, dass materielle Dinge nicht alles sind. Aber er wollte damals auch nicht albern sein. Die Einschulung von der Preschool in die Elementary School war ja auch kein so großes Ding. Eigentlich nichts Besonderes. Es hat ihn einfach nur wahnsinnig geärgert, dass sein Dad mal wieder eines seiner Versprechen gebrochen hat.
Er ist so in Gedanken versunken, dass er beinahe die Abfahrt verpasst hätte, um den Highway zu wechseln. Das sorgt dafür, dass er ziemlich scharf rüber zieht und von Xander, der tatsächlich eine hörbare Kassette gefunden zu haben scheint, einen Blick kassiert, der wohl so viel wie „Bist du noch ganz dicht?“ zum Ausdruck bringen soll. Sagen tut der Jüngere jedoch nichts und Jesse hat auch keinen Bedarf dazu, sich zu rechtfertigen. Und so vergehen die nächsten Stunden. Jesse lässt das Radio leise vor sich hin dudeln und beobachtet, wie Xander nach einiger Zeit das erste Mal die Kassette im Walkman wendet und bald darauf ein weiteres Mal. Und dieser Vorgang widerholt sich mehrfach, denn Xander lässt scheinbar immer und immer wieder dieselbe Kassette laufen. Irgendwann in der Zwischenzeit reicht er Xander eine Packung Taschentücher, weil er bemerkt wie der immer wieder die Nase hochzieht. Kein Wunder, wenn er krank wird, wo er doch den gestrigen Tag bei Temperaturen um den Gefrierpunkt ohne Jacke draußen verbracht hat. Aber auch er untersagt sich jeden Kommentars. Es ist jedenfalls deutlich leiser, als bei der Hinfahrt. Und da war die Stimmung schon nicht unbedingt die Beste. Und so zieht sich die Stille, bis Jesse mit einem mal verblüfft das Autoradio leise stellt.
„How many lovers would stay?
Just to put of with this shit day after day!
How did we wind up this way?
Watching our mouths for the words that we say.
As long as we stand here waiting
Wearing the clothes of the souls that we choose!
How do we get there today?
When we're walking to far for the price of our shoes!”
Er dreht den Kopf nur ganz leicht, will wissen, ob es Xander bewusst ist. Ist es offensichtlich nicht. Die Augen geschlossen, im Sitz zurückgelehnt und den Kopf leicht in den Nacken gelegt singt er den Text. Nicht besonders laut, aber laut genug. Es klingt gut. Melodisch und trotz der Lautstärke irgendwie kraftvoll. Jesse kann sich nicht erinnern den Song schon mal gehört zu haben, wahrscheinlich ist er auf einer der unzähligen Kassetten, die seine Mutter ihm immer mal wieder auf gut Glück mitgebracht hat. Und obwohl er jetzt das Radio wieder laut drehen könnte, lässt Jesse es sich nicht nehmen, dieser Stimme, die einen leicht rauen Unterton hat und vielleicht deshalb so gut klingt, einfach noch ein wenig zu lauschen.
Zumindest bis zum nächsten Rastplatz. Jesse braucht nur kurz eine Pause, aber natürlich sorgt das dafür, dass der Wagen zum Stehen kommt und Xander unweigerlich aufhört zu singen. Für einen Moment wirkt der schwarzhaarige verwirrt, aber er fängt sich schnell wieder..
„Alles okay?“, fragt er nur.
„Ja, alles bestens. Ich brauch nur kurz ‘ne Pause um mir die Beine zu vertreten und na ja, vielleicht muss ich auch mal kurz die Toilette aufsuchen. Vielleicht willst du dir ja auch kurz die Beine vertreten?“
Ein Kopfschütteln später begibt Jesse sich in die Büsche, während Xander lieber im Wagen sitzen bleibt. Doch als er zurück ins Auto steigt, sieht er das Problem sofort. Xander hat den Kopf wieder in den Nacken gelegt, doch dieses Mal nicht zur Entspannung. Er hält sich mit einer Hand die Nase zu, die andere direkt davor. Dennoch quillt das Blut dazwischen hervor.
„Oh nein, nein, nein. Nicht in den Nacken. Den Kopf nach vorne.“
Jesse schnappt sich eine Packung Taschentücher und drück sie Xander in die Hand. Der murmelt nur etwas vor sich hin, was man unter kinderfreundlichen Umständen nicht unbedingt laut wiederholen sollte. Jesse beißt sich auf die Lippen, während Xander versucht sein Nasenbluten in den Griff zu kriegen. Er kann sich nicht helfen, unweigerlich denkt er direkt an Heroin. Aber das ist Schwachsinn. Schließlich waren sie die gesamten letzten Tage zusammen. Xander kann also überhaupt nichts eingenommen haben. Gott. Es ist nicht fair von ihm, so zu denken, das weiß er. Leichter macht es die Sache allerdings nicht. Er will nicht, dass Xander glaubt, er würde ihm diesen Entzug nicht zutrauen, aber er ahnt, dass die einen oder anderen Zweifel in der nächsten Zeit bleiben werden. Nur laut aussprechen wird er sie nicht. Stattdessen wartet er, bis Xander das Nasenbluten endgültig in den Griff bekommt, bevor er wieder den Motor startet. Damit die Stille nicht wieder unerträglich wird, versucht er ein Gespräch zu beginnen.
„Sag mal, gerade eben, dieser Song …“.
Weiter kommt er nicht. Es ist eine Reaktion in letzter Sekunde. Er hat keine Ahnung, wie der Truck noch auf den Parkplatz solch eine Geschwindigkeit haben kann, noch hat er eine Ahnung, wo das tonnenschwere Gefährt so aus dem nichts herkommt, nur eines ist ihm klar, sollten dieser Elefant und sein kleiner grüner Smart kollidieren, ist es nicht gut um sie bestellt. Der Truck kommt von der Seite, scheint das kleine Auto gar nicht zu registrieren und obwohl es sich nur um Sekunden handelt, in denen Jesse das Lenkrad nach rechts reißt, fühlt es sich an wie eine Ewigkeit. Direkt darauf geht er in die Eisen. Vollbremsung. Das Auto kommt ins Schleudern, steht jedoch im nächsten Augenblick. Seine Hände am Lenkrad zittern wie Espenlaub. Den vorbeirauschenden Truck registriert er gar nicht richtig.
„Fuck“.
Jesse schreit es laut heraus. Sie wären wegen eines rücksichtlosen, völlig bekloppten Truckers gerade fast drauf gegangen. Nur weil dieser Vollidiot vermutlich geglaubt hat, er könnte durch das über den Parkplatz rasen ein paar Minuten Zeit auf dem vollen Highway abkürzen.
„Fuck, fuck, fuck“, widerholt er immer wieder.
Dann schaut er zu Xander und mit einem Mal wird die Wut durch ernste Sorge ersetzt. Xander zittert mindestens genauso sehr wie er selbst. Dabei hat er die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und den Kopf in den Schoss gepresst. Jesse kann ihn hektisch atmen hören.
„Xander?“, flüstert er. Doch der Jüngere reagiert nicht.
Nicht einmal Ansatzweise. Jesse ist nicht sicher, ob Xander ihn überhaupt wahrnimmt. Die gesamte Haltung zeugt von Abwehr und Angst. Wahnsinniger Angst. Sofort erinnert Jesse sich an die Situation vor nicht einmal drei Wochen. Nach dem Anruf. Ihr Treffen im Café. Der Streit und Xanders Reaktion damals. „Weil ich es nicht einmal fertig bringe der Scheiße endgültig ein Ende zu setzen.“ Das waren seine Worte. Aber Jesse hat es da schon besser gewusst. Xander will leben. Er hat noch so viele Dinge vor sich. Xander weiß es sicher auch. Nur ist es ihm nicht immer so bewusst. Davon ist Jesse überzeugt. Und in Wahrheit hat er große Angst vor dem Tod. Regelrechte Panik. Wie jetzt. Vielleicht, so hofft er, ist diese Angst vor dem Tod sogar größer als das Verlangen nach den Drogen. Er wagt es zu bezweifeln, aber er wünscht es sich. Doch jetzt in diesem Augenblick ist diese Angst unheimlich präsent – im wahrsten Sinne des Wortes unheimlich - und sie ist alles andere als etwas Positives. Denn Xander steigert sich in sie hinein. So tief, dass er beinahe darin gefangen zu sein scheint. Keineswegs ein normaler Zustand, aber Jesse hat keine Zeit lange zu hinterfragen, was ihn in der Vergangenheit ausgelöst haben mag.
„Komm her. Es ist alles gut.“, versucht Jesse erneut zu ihm durchzudringen. Die Mittelkonsole die sie beide trennt, ist nicht gerade von Vorteil und aller Widerstände zum Trotz zieht er den Jüngeren zu sich rüber. Ein paar blaue Flecke sind wohl eher zu verschmerzen, als ein Nervenzusammenbruch. Zwar bietet der zurückgeschoben Fahrersitz ein wenig Platz, aber mit seinem einen Meter fünfundachtzig reicht es trotzdem nicht einmal für Beinfreiheit, geschweige denn, dass der Platz für zwei reichen würde. Weshalb Xander nun unumgänglicher Weise auf seinem Schoß Platz findet, während er ihn fest im Arm hält. Den Kopf presst der Achtzehnjährige gegen seine Brust, beinahe so, als suche er Schutz. Als Jesse ihm jedoch beruhigend mit der Hand über den Rücken streichen will, kann er spüren, wie sich die gesamte Muskulatur unter seiner Berührung verhärtet. Das Zittern nimmt nochmals zu. Vielleicht macht es Nähe jetzt nur noch schlimmer, aber Jesse ist mit seinem Latein am Ende und er kann doch nicht einfach hier sitzen und nichts tun. Denn das hier ist aus medizinischer Sicht sicher ein bedenklicher psychischer Zustand. Fantastisch, er gratuliert sich gerade zu seinen vierzehn Semestern Medizinstudium, die ihm offensichtlich so gar keine Hilfe sind. Er will zu Xander durchdringen, wie in der Nacht in der er sich ihm anvertraut hat, doch die Situation ist eine ganz andere. In der Nacht in der Xander begonnen hat sich ihm zu öffnen ging es ihm schlecht, er war emotional aufgewühlt und vielleicht war er auch einer Panikattacke nahe, aber er war bei sich. Dieses Mal ist er es nicht. Denn dieses Mal ist es eine Panikattacke. Ausgelöst durch einen Schock und Jesse ahnt, hinter Xanders unnatürlich starken Reaktionen auf jegliche Art von Körperkontakt verbirgt sich etwas traumatisches, nachdem was Xander erzählt, oder auch nicht erzählt hat, mit Sicherheit die widerfahrene Gewalt in den vergangenen Jahren. Doch er weiß sich nicht anders zu helfen, als ihn möglichst nah bei sich zu halten. Um ihm ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Zumindest redet er sich das ein. In Wahrheit jedoch vor allem, weil er befürchtet das der Zustand von Apathie jederzeit umschlagen könnte und er nicht riskieren möchte, dass Xander in seiner Angst Dinge tut, die er im Nachhinein bereuen könnte. Und in dem verzweifelten Moment, indem Jesse sich fragt, was er als Nächstes tun sollte, was Sinn machen würde, hebt Xander den Blick. Sieht ihn unvermittelt an. Jesses Hals ist mit einem Mal trocken und er schluckt. Fängt einen Blick aus tief braunen Augen auf, die so klar sind, dass Jesse zum ersten Mal begreift, was es wohl bedeutet, wenn Leute wie Jorell behaupten, sie würden darin zu versinken drohen. Was aus rein physikalischer Sicht nicht möglich ist. Obwohl ihm die Grenzen der Physik gerade ziemlich relativ sind. Sein Kopf scheint wie leergefegt und dann kommt Xanders Gesicht dem seinen plötzlich gefährlich nahe. Ihre Lippen sind nur noch Millimeter voneinander getrennt. Abermals sucht er den Blickkontakt zu Xander und obschon sie sich direkt ansehen ist Jesse sich nicht sicher ob Xander ihn wirklich sieht. Ihn wahrnimmt. Oder, ob er durch ihn hindurch blickt. Er nimmt Xander jedenfalls wahr. Nimmt ihn ganz genau wahr. Mit jeder Faser seines Körpers. Spürt das Gewicht auf seinen Beinen, den Atem an seiner Halsbeuge, die angespannte Muskulatur unter seinen Händen und dann raue Lippen auf seinen eigenen. Es ist ein ganz anderer Kuss als ihr erster. Genauso unvorbereitet aber viel intensiver. Eben deshalb kann Jesse sich ihm nicht entziehen, obwohl er genau weiß, dass Xander gerade überhaupt nicht zurechnungsfähig ist und das seine Verlobte Daheim auf ihn wartet. Stattdessen legt er seine Hand in Xanders Nacken und zieht den Jüngeren so noch ein Stück näher zu sich. Die braunen Augen schließen sich flatternd. Auch er schließt unweigerlich seine Augen. Lässt sich fallen. Nur für den Moment. Weil sich ein Kuss noch nie so gut, noch nie so richtig angefühlt hat, wie in diesem Augenblick. Er weiß nicht genau, wann sich ihre Lippen wieder voneinander trennen, er weiß nur, dass er Xander irgendwann einfach nur noch im Arm hält, während er der Digitaluhr des Wagens beim Umblättern der Ziffern zusieht. Xander lehnt seinen Kopf erschöpft gegen Jesses Brust, manchmal, nur für einen Bruchteil an Sekunden, öffnet er seine Augen. Ein müdes Blinzeln, bevor sie sich wieder schließen und Jesse hält ihn weiterhin fest. Hat sein Kinn auf Xander Kopf abgelegt und genießt jeden Atemzug, verdrängt, dass es nicht so bleiben kann, wie es jetzt ist. Nur eine Momentaufnahme. Aber das spielt gerade keine Rolle. Seine Gefühlswelt, die auf dem Kopf steht, sein schlechtes Gewissen, sein Bedürfnis die Zeit einzufrieren, nichts davon spielt gerade eine Rolle.
Später, sie sitzen beide wieder auf ihren Plätzen und sind längst auch wieder auf den Highway abgebogen, scheint die Stille im Auto sie beinahe zu erdrücken. Sie reden nicht. Keiner von beiden. Haben auch noch kein einziges Wort seit dem Vorfall auf dem Parkplatz miteinander gewechselt. Jesse weiß einfach nicht, was er sagen soll und Xander scheint nichts sagen zu wollen. Mit jeder gefahrenen Meile kommen sie New York und ihrem Abschied näher und Jesse kann die Übelkeit, die in seinem Magen aufsteigt, regelrecht spüren. Er wirft einen Blick rüber, zu dem Schwarzhaarigen auf dem Beifahrersitz, der ihm nicht einmal mehr das Gesicht zuwendet. Er hat wieder die Kopfhörer auf, aber dieses Mal singt er nicht mit und sein Blick ist Stur aus dem Fenster gerichtet. Er scheint unerreichbarer denn je und Jesse muss sich aufs Fahren konzentrieren. Zumindest bis sie am späten Nachmittag langsam auf dem Hinterhof der Einrichtung rollen, in der Xander in den nächsten Wochen ein Zuhause finden soll. Xander steigt ohne ein Wort zu sagen aus und aus Mangel an Alternativen tut Jesse es ihm gleich.
„Mike hat gesagt, er wartet im Foyer auf uns.“, sagt Jesse tonlos. Nur um die Stille zu brechen und weil Xander und er bisher noch nicht darüber gesprochen haben, was passieren wird, wenn sie wieder zurück in New York sind. Sie haben nicht darüber gesprochen, was Xander genau in diesem „Heim“ erwartet. Aber Jesse weiß, da stehen noch ganz andere Dinge unausgesprochen zwischen ihnen. Er kann die sich anbahnenden Kopfschmerzen förmlich riechen. Bisher besteht ihre gemeinsame Zeit aus einer Verkettungen von ständigen „Aufs“ und „Tiefs“ und so langsam fühlt er sich machtlos. Dabei ist ihm sehr wohl bewusst, dass er selbst eine nicht unwesentliche Mitschuld daran hat.
Xander weicht seinem Blick aus, als Jesse ihm die Tasche aus dem Kofferraum in die Hand drückt und antwortet vage:
„Ich kann da auch alleine reingehen. Vielleicht sollten wir das alles hier nicht unnötig kompliziert machen.“
Die Aussage ist von einem leichten beben in der Stimme begleitet und auch wenn Xander ihm das Gesicht nicht zuwendet, so weiß Jesse doch, dass sein Blick sich wieder verschlossen hat.
„Quatsch. Wir haben das hier gemeinsam angefangen, also … machen wir auch so weiter“. Fast hätte er gesagt, also bringen wir es auch gemeinsam zu Ende. Aber das ist Unsinn. Weil der Weg für Xander noch lange nicht zu Ende ist, es in seinem Leben eventuell niemals sein wird und vor allem, weil Jesse nicht will, dass ihr gemeinsamer Weg hier endet. Außerdem befürchtet er auch ein wenig, Xander wird dieses Gebäude nie betreten, wenn sie sich hier voneinander verabschieden.
Xander sieht ihn an. Jetzt doch. Für einen kurzen Augenblick und nur wenn man genau hinsieht, scheint es, als wollte er etwas sagen. Doch was auch immer er erwidern wollte, er behält es für sich. Nickt nur. Bevor er plötzlich enthusiastisch ausruft:
„Na, dann. Auf ins Vergnügen.“
Noch bevor Jesse abwägen kann, ob diese Aussage nur so vor Ironie trieft, oder aber, ob Xander bewusst versucht heiter zu sein, stapft der Jüngere los.
„Xander?“
„…“
„Der Haupteingang liegt auf der anderen Seite.“
„Das fängt ja wahnsinnig gut an.“
Fast eine Stunde sitzt Jesse nun schon im Foyer und wartet. Draußen ist es bereits dunkel geworden. Mike hat sie beide wirklich herzlich begrüßt, auch wenn Xander von der Begrüßung weniger angetan schien, und dann hat er um ein Gespräch mit Xander unter vier Augen gebeten. Jesse kann nur erahnen, worum es darin geht. Deshalb wartet er. Mike hat ihm zwar mit einem Blick zu verstehen gegeben, dass es nicht unbedingt nötig ist, dass er die ganze Zeit über hier draußen wartet, doch Jesse fühlt sich bei dem Gedanken unwohl, Xander hier drinnen alleine zu lassen. Er hat das Gefühl, er sollte zumindest in der Nähe bleiben, für welchen Fall auch immer. Auch wenn Mike ihm damals in einer SMS schon das weitere Vorgehen erklärt hat und ihm bereits im Zuge dessen versprach, er würde ihn nach dem obligatorischen Aufnahmegespräch auch anrufen, wenn ihm das so wichtig sei. Also, um vorbeizukommen und zu sehen, dass alles noch gut ist. Was in diesem Zimmer gesprochen wird ist natürlich vertraulich und als müsste Mike es extra betonen, erwähnte er in diesem Zusammenhang auch noch einmal seine Schweigepflicht. Als ob Jesse das nicht selbst wüsste.
Lautes Getrampel auf hölzernen Treppenstufen lässt Jesse aufblicken. Am Fuß der Treppe steht nun ein Mädchen, etwa in Xanders Alter. Er fängt einen perplexen Blick aus Azurblauen Augen auf. Nervös zwirbelt sich das Mädchen eine ihrer kurzen, offensichtlich gefärbten, leuchtend pinken Haarsträhnen um die Finger.
„Jade“, ertönt Mikes Ruf durch das Foyer, als er mit Xander im Schlepptau aus dem Büro tritt. Wie sich im nächsten Augenblick herausstellt, soll Jade Xander anscheinend die Einrichtung zeigen. Zumindest entnimmt Jesse das dem kurzen Dialog, den Mike mit ihr führt. Eigentlich ist in der Einrichtung gerade Essenszeit, weshalb Mike ihn daraufhin weist, dass es besser wäre, wenn er sich jetzt von Xander verabschiedet, damit dieser den restlichen Abend dazu nutzen kann, die Einrichtung und die hier wohnenden Menschen kennenzulernen. Jesse nickt. Weil er nicht weiß, was er dazu sagen soll und auch Xander wirkt nervös. Es ist als würde etwas zwischen ihnen stehen. Die Worte die sie zum Abschied miteinander wechseln sind so unbedeutend und nichtssagend, dass Jesse sie sich schon kaum mehr ins Gedächtnisrufen kann, nachdem sie sich Sekunden später voneinander trennen und Xander Jade die Treppe hoch folgt. Mike bedeutet Jesse mit einem Wink ihm noch ins Büro zu folgen. Doch Jesse dreht sich noch einmal zur Treppe um. Tatsächlich steht Xander am oberen Ende eben jener. Xander sieht aus, als hätte er mit sich selbst zu kämpfen. Dann geht ein Ruck durch seinen Körper und im nächsten Moment findet Jesse sich in einer Umarmung wieder, die nur für den Bruchteil einer Sekunden andauert und dennoch wird ihm sofort warm. Der Fünfundzwanzigjährige könnte schwören, Xander ein „Danke“ murmeln zu hören. Doch die Situation ist ebenso schnell wieder vorbei, wie sie gekommen ist und er würde schon jetzt nicht mehr darauf beharren, dass Xander überhaupt etwas gesagt hat. Die Wärme ist mit ihm verschwunden
Kalt und leer ist auch die Wohnung, als Jesse spät am Abend nach Hause kommt. Wer soll auch Zuhause sein? Cassie wird erst morgenfrüh in New York ankommen. Oder wollten sie morgens los fahren? Er weiß es nicht mehr, aber es ist wahrscheinlicher. Desinteressiert schweift sein Blick zur Uhr in der Küche, die ihm verrät, dass es bereits nach 8 Uhr ist. Er war den ganzen Tag auf den Beinen und mit dem Blick zur Uhr kommt auch die Müdigkeit. Trotzdem reißt er sich zusammen. Ins Wohnzimmer schlendernd nimmt er sein Handy zur Hand und ruft seine Verlobte an. Ein Freizeichen ertönt und dann klingelt und klingelt und klingelt es. Fast hätte Jesse aufgelegt, doch dann geht sie ran. Ihre Stimme ist sanft und weich wie immer und sie freut sich, von ihm zuhören. Jesse bemerkt, wie sehr er den Klang ihrer Stimme vermisst hat. Sie erwähnt auch mit keiner Silbe, dass er sich so gut wie gar nicht in den letzten sechs Tagen gemeldet hat. Sie erwähnt nur, wie schön das Hotel ist, wie lustig die Mädchen drauf sind und wie sehr sie sich freut, morgen endlich wieder nach Hause zu kommen. Als Jesse wenig später auflegt, ist ihm heiß und kalt zugleich. Er zittert am ganzen Leib, als plötzlich die Türklingel die Stille durchbricht. Unweigerlich fragt er sich, wer um diese Uhrzeit, wohl bemerkt auf einem Mittwochabend, vor der Tür stehen mochte. Trotzdem betätigt er den Summer an der Türklingel. Nur um wenig später Jorell mit zwei Pizzakartons die Treppe zum sechsten Stock hochjoggen zu sehen.
„Was machst du denn hier?“
„Danke, ich freue mich auch dich zu sehen. Ich hab‘ sogar Essen mitgebracht.“, erwidert Jorell gelassen und drückt Jesse sogleich die beiden Pizzakartons in die Hand. Jesse kann nichts anderes tun, als Jo zu folgen, der seine Wohnung betritt als gehöre sie ihm. Auf dem Couchtisch im Wohnzimmer stellt er die Pizzen ab, bevor er sich zu Jorell umdreht, der es sich auf der Couch bequem gemacht hat, als hätte er den ganzen Tag nur darauf gewartet.
„Nein, jetzt mal im Ernst. Nicht, dass ich dich nicht sehen wollen würde aber was machst du hier?“
„Mon dieu*, ich wollte nur mal sehen wie es dir geht. Oder ist das etwa schon zu viel verlangt?“
„Nein, natürlich nicht. Ich hab‘ nur nicht damit gerechnet.“, stellt Jesse fest. Er muss sich eingestehen, dass er vermutlich viel unfreundlicher geklungen hat als beabsichtigt. Doch bevor er sich überhaupt für en misslungenen Tonfall entschuldigen kann, winkt Jorell ab – er scheint genau zu wissen, was Jesse sagen möchte – und klopft neben sich auf die Couch.
„Komm, setz dich. Il faut pas que ça refroidisse**.”
„Bitte, was?”
„Setz dich hin und iss, Mann. Nicht das die völlig überteuerte, möchtegern-italienische, Pizza kalt wird.”, erwidert Jorell - wobei in seiner Stimme ein leicht belustigter Unterton mitschwingt- und verdreht dabei die Augen.
„Ach und wenn du dann schon einmal dabei bist …“, fügt er noch hinzu „schieß los, wie war dein Tag?“
„Daher weht der Wind also.“
Jesse schmunzelt, als er sich auf der Couch niederlässt.
„Was?“, fragt Jorell empört.
„Ich bin ja nicht neugierig. Ich fühle mich nur wohler, wenn mir alle relevanten Informationen bekannt sind!“
In der nächsten Stunde, während sie also beide ihre Pizzen Essen, bekommt Jorell dann auch so allmählich alle, wie er es nennt, relevanten Informationen. Inklusive Breaking News könnte man sagen. Irgendwann, mittendrin steht Jo einmal auf, um sich, selbstverständlich, am Kühlschrank zu bedienen, dann aber festzustellen, dass der gesuchte Inhalt, Bier, nicht vorhanden ist.
„Schwache Leistung, Kumpel. Wenn ich schon das Essen mitbringe, hättest du zumindest für Getränke sorgen können“, lässt er Jesse mit einem schiefen Grinsen wissen.
„Wenn du dich das nächste Mal ankündigst, gerne“, gibt Jesse, ebenfalls mit einem Grinsen, zu bedenken.
Am nächsten Morgen weiß er nicht einmal mehr, wie er überhaupt ins Bett gekommen ist. Er hat Kopfschmerzen und er kann das imaginäre Schlagzeug förmlich noch immer in voller Lautstärke in seinem Kopf spielen hören. Verflucht, was für eine selten dämliche Idee beim Wall-Mart um die Ecke noch Alkohol zu besorgen. Wobei, am Bier hat es scher nicht gelegen. Eher am Whiskey. Scheiße. Langsam steigt der Fünfundzwanzigjährige aus seinem Bett.
„Was zur …?“
Um ein Haar wäre Jesse über Jorell gestolpert, der sich ganz augenscheinlich zum Schlafen im Flur niedergelassen hat. Meine Güte, was war das gestern für ein Abend? Den friedlich schlafenden Jorell im Flur zurücklassend, steht er nur einen Augenblick später im Wohnzimmer und sieht das gesamte Ausmaß der Katastrophe. Oh Gott. Das Wohnzimmer sieht aus, als hätte jemand die Mülldeponie hierher verlagert. Auf dem Boden verteilt liegen nicht nur allerlei leere Bierflaschen und diverse angebrochene Tüten mit Süßkram – sein bester Freund wird noch entscheidungsunfähiger, wenn er getrunken hat, als er ohnehin schon ist – sondern auch seine gesamte DVD Sammlung sowie ein Haufen Scherben, der, so nimmt Jesse zumindest an, einmal ein Glas gewesen ist. Ganz zu schweigen von der umgestoßenen Topfpflanze neben der Couch, die nicht nur einige Blätter sondern auch Erde lassen musste und dem Stuhl, den Cassie und er eigentlich immer als Kleiderständer missbrauchen, der mit seinen nun mehr nur noch drei Beinen gänzlich unbrauchbar geworden ist.
„Ach du heilige...“
„Wag es jetzt ja nicht zu fluchen“, murmelt Jesse halbherzig und unterbricht seinen Freund damit, der nun wohl aufgestanden ist.
„Okay. Aber jetzt haben wir es definitiv amtlich. Dein Leben steht gerade Kopf.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du eigentlich sprichst."
„Natürlich nicht. Vielleicht von der mittelschweren Katastrophe in deinem Wohnzimmer und deinem damit einhergehenden Gemütszustand, aber das ist nur so eine Vermutung."
„Jeder schlägt ab und zu mal über die Stränge. Das hat nichts mit meinem Gemütszustand zu tun.“
„Ja, jeder außer dir.“
Jesse seufzt. Er hat jetzt definitiv nicht die Nerven um mit Jo darüber zu diskutieren. Mal ganz davon abgesehen, dass er bei einer Diskussion mit ihm ohnehin unterliegen würde.
Mehr als verwundert sieht Jesse dem jungen Franzosen einen Moment später dabei zu, wie er auf dem Boden vor dem Sofa liegt und sich ganz offensichtlich damit abmüht an irgendetwas heranzukommen, was darunter zu liegen scheint. Schnaufend und staubbedeckt zieht er wenig später ein Handy darunter hervor. Jesses Handy.
Verdutzt nimmt der Medizinstudent sein Handy entgegen. Wie war das noch gleich? Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas? Nun hoffentlich gilt das - was auch immer nun genau passiert sein mag - auch für diese Wohnung.
Nachdem Jesse Jo noch dazu verdonnert hat, die Wohnung mit ihm wieder halbwegs in Ordnung zu bringen, verabschiedet sein bester Freund sich wieder. Den Fünfundzwanzigjährigen beschleicht das Gefühl, dass sein Kumpel einen ordentlichen Kater hat und schlichtweg eine Auszeit braucht, aber er sagt nichts weiter dazu. Außerdem meint er sich vage daran erinnern zu können, dass Jorell gestern Abend erwähnt hat, dass er heute noch ein langersehntes Date mit Marie hat. Na, das kann dann ja nur heiter werden.
Kaum hat er die Tür hinter seinem Freund geschlossen und angefangen sich in der Küche einen Tee zu kochende hört er, wie sich Ei Schlüssel im Türschloss dreht. Cassie.
Mit einem Satz ist er im Flur, warum weiß er selbst nicht so genau. Kein Grund für Hektik, oder? Die Tür öffnet sich und das erste, was er erblickt, ist ein riesiger Reisekoffer, den seine Verlobte vor sich her durch die Tür schiebt. Dann sieht er Cassie. Das erste Mal seit nun mehr einer Woche. Ein merkwürdiges Gefühl. Ihre seidig braunen Locken fallen wie immer weich über ihre Schultern. Die strahlend blauen Augen sehen ihm funkelnd entgegen und ihre Wangen sind vor Aufregung gerötet. So nimmt er zumindest an.
„Hey“, murmelt er mit einem mal verlegen.
„Hey“. Kommt es grinsend zurück.
Unvermittelt zieht er sie in eine Umarmung, weil er nicht weiß, was er sonst tun sollte.
Sie lacht und fragt:
„Alles in Ordnung bei dir?“
Er sagt nichts. Drückt sein Gesicht stattdessen in ihren dunklen Haarschopf, weil er weiß, dass es, egal was er sagen würde, geheuchelt wäre.
„Ich hab‘ dich vermisst.“ Nuschelt sie in seine Halsbeuge.
„Warum hast du mir eigentlich nicht geschrieben, oder angerufen? Dann hätte ich dich doch abgeholt.“
Da ist es wieder, ihr glockenhelles Lachen.
„Ich habe dich angeschrieben und angerufen, aber dein Handy ist offenbar aus.“
Sie kichert und ergänzt noch:
„Und jetzt, wo mir Jorell im Treppenhaus begegnet ist, kann ich mir auch vorstellen warum.“
Er nickt nur irritiert und denkt sich, wie gut es ist, dass sie nicht alles weiß. Doch dann wird Cassies Gesicht Ernst und für eine Sekunde glaubt er, sie weiß es doch. Weiß alles.
Sie sieht ihm tief in die Augen, legt ihre Hände in seinen Nacken und zieht ihn ein Stück zu sich runter. Statt ihn aber zu küssen, wie er es jetzt erwartet, lehnt sie ihre Stirn an seine und sagt leise:
„Ich wollte mich entschuldigen.“
„Entschuldigen?“ Jesse zieht verwirrt die Brauen zusammen. „Wofür?“
„Für ... Für so vieles in letzter Zeit. Das ich mir oft nicht die Zeit nehme, dir richtig zuzuhören. Dass ich dich für Dinge anfahre, für die du überhaupt nichts kannst und vor allem für diesen dämlichen Wellness Urlaub. Wir hätten Silvester zusammen verbringen sollen, das ist unser Ding und ich weiß ich hätte früher darüber nachdenken können, statt mich jetzt zu entschuldigen, aber es tut mir wahnsinnig leid. Ehrlich.“
Einen Moment lang ist da ein riesiger Kloß in seinem Hals und für ein paar Sekunden ist er fasst verlangt in Tränen auszubrechen. Er fühlt sich der Maßen schlecht, es ist mit Worten gar nicht zu beschreiben. Er hat es eigentlich nicht verdient, sie jetzt im Arm zu halten und gleichzeitig spürt er diese Hitze in sich aufsteigen, wenn er an Xander und die die Situation im Auto denkt und weiß genau, dass er es eigentlich nicht bereut. Deshalb schüttelt er nur den Kopf und flüstert leise: „Alles okay.“
Weil dieser Satz so herrlich nichtssagend ist. Er initiiert nichts, außer, dass es okay ist. Aber was bedeutet okay schon? Diese Aussage ist so angenehm vage, dass sie nichts Verfängliches beinhaltet. Ideal also.
Die nächsten Tage verlaufen so normal, sie sind wieder vollkommen in ihrem Alltagstrott mit Uni und Nebenjob angekommen, das Jesse fast vergessen könnte, was in der letzten Woche passiert ist. Aber eben nur fast. Denn es vergeht kein Abend an dem er nicht merkt, wie anders es sich anfühlt neben Cassie zu liegen. Wie anders es sich anfühlt sie im Arm zu halten. Es ist sogar anders geworden mit ihr zu reden. Außerdem hält Mike ihn über sein Handy auf dem Laufenden, was Xanders Eingewöhnung betrifft. Das heißt, es ist mehr ein daran erinnern, dass Jesse sich nicht jeden Tag nach Xander erkunden muss und das es ihm gut geht.
An diesem Nachmittag ist Jesse allein in der Wohnung, als sein Handy klingelt. Er weiß nicht einmal, wo Cassie gerade unterwegs ist. Sie ist heute Morgen mit seinem Auto zur Uni gefahren, weil sie ein Gespräch mit ihrem Tutor hat, während Jesse heute seinen Uni freien Tag genießt und deshalb heute Morgen auf der Arbeit war. Sogar in einer Doppelschicht, weil Jo in der letzten Woche einmal für ihn eingesprungen ist.
Er sieht Mikes Nummer auf dem Display und sofort ergreift ihn eine unbestimmte Aufregung.
„Hey, Mike.“ Schallt es vielleicht mit etwas zu viel Elan durch den Hörer.
„Hey, Jesse. Alles okay bei dir?“
„Ja, na klar. Wieso?“
„Du klingst minimal nervös. Nun ja, ich ruf‘ auch eigentlich nur an, um dir zu sagen, dass du morgen nicht vorbei kommen brauchst. Du weißt schon, wegen Xanders Gruppentherapie. Ich habe ja gesagt, ich fände es nicht schlecht, wenn du danach vorbeikommst, weil es für ihn ja das erste Mal ist und du durchaus eine Bezugsperson bist. Der Austausch täte ihm sicher gut, aber wie dem auch sei, was ich eigentlich sagen wollte ist, es ist nicht nötig, dass du morgen kommst.“
„Ehem, verstehe mich nicht falsch, aber das macht mir keine Umstände, als warum nicht?“
Nicht das Jesse Mikes Entscheidungen in Frage stellen will, aber er hat Xander jetzt seit einer Woche nicht gesehen und so langsam aber sicher, ja er muss es zugeben, macht ihn das echt fertig. Es ist schön und gut zu hören, dass es ihm gut geht, er würde sich dennoch gerne selbst ein Bild davon machen. Mike beschwichtigt ihn sogleich:
„Oh, nein. Keine Sorge. Das habe ich auch nicht angenommen. Darum geht es auch gar nicht. Er wird morgen einfach nicht zur Gruppentherapie gehen, das ist alles.“
Jesse rutscht das Herz augenblicklich in die Hose.
„Wie, er geht da nicht hin?“
„Er liegt krank im Bett. Besser, er kuriert sich erst mal aus und dann sehen wir weiter.“
„Er ist krank?“
Hat Mike die letzten Tage nicht immer gesagt es geht ihm gut? Wie definiert der gute Mann denn bitte das Wort gut?
„Nichts wildes, Jesse. Fieber.“
Kein Wunder, schießt es dem Medizinstudenten durch den Kopf, wo er doch gerne Mal im T-Shirt draußen rumrennt, obwohl es doch viel zu kalt dafür ist. Ihm ist also klar, woher das kommen mag und trotzdem oder vielleicht genau deshalb macht er sich Sorgen.
„Oh, okay.“
„Nein, ernsthaft, Mann. Hör auf am Rad zu drehen. Es geht ihm hier wirklich gut. Er hat sogar schon Freunde gefunden. Du kannst dich beim nächsten Besuch ja selbst davon überzeugen.“
„Freunde?“
„Ja, okay. Vielleicht ist Freunde noch ein bisschen übertrieben. Aber ich glaube er hat sich hier ganz gut eingelebt. Ich weiß gar nicht, ob ich es erwähnt habe, aber der obere Trakt unseres Gebäudes ist ja an ein paar Studenten untervermietet. Da treffen sich unsere Kids und die Studenten natürlich auch ab und zu, wenn die quer durchs Haus trampeln und manchmal hängen die auch gemeinsam im Hof ab. Ich glaube, mit einem der Studenten versteht er sich ganz gut. zumindest hab‘ ich sie schön öfter zusammen im Hof sitzen sehen. Wenn ich ehrlich bin, hab‘ ich den Kerl, als er das erste Mal bei uns vor der Tür stand, aber auch für einen unserer Fälle gehalten. Mit dem roten Iroh, den ganzen Piercings und den dauerhaft zerrissen Klamotten, man darf es mir echt nicht verübeln, durfte man das aber auch echt ganz vorurteilslos annehmen. Studenten an der Universität stellt man sich ja doch anders vor.“
Jesse weiß, es ist völlig irrational, fieser weise kann er sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, dass Xander da mit irgendeinem wild fremden Kerl sitzt und einfach so mit dem redet - worüber ist doch völlig egal - als hätte er das schon immer getan. Völlig bescheuert. Ist ja nicht so, dass er ersetzt werden würde.
„Oh, verdammt!“
„Bitte was?“
„Nicht du! Da sitzt schon wieder dieser verdammte, rote Kater und ich hab‘ eine Katzenhaarallergie. Dieses Mistvieh streunt seit ein paar Tagen hier herum und wenn ich nicht aufpasse, wie jetzt, kommt es sogar durch das geöffnete Fenster. Sorry, Mann. Ich muss auflegen.“
Und damit ist ihr Gespräch abrupt beendet.
Jesse hat das Handy noch keine zehn Sekunden aus der Hand gelegt, da kommt Cassie freudestrahlend und voll beladen mit Einkaufstüten durch die Tür gefegt und verkündet, sie werde heute Abend kochen. Was sie sonst nie von sich aus anbietet, wenn sie nicht an der Reihe ist. Schon gar nicht so hypermotiviert. Sie will auch keine Hilfe und bittet Jesse nicht einmal darum, den Tisch zu decken. Im Gegenteil, sie scheucht ihn eher aus der Küche.
Eine Stunde später strömt ein herrlicher Duft aus der Küche und der Tisch ist gedeckt, als Cassie ihn zum Essen ruft. Er setzt sich völlig überrascht an den vollbeladenen Tisch und entdeckt erst da den Briefumschlag auf seinem Teller, der in schwungvollen Lettern mit seinem Namen beschriftet ist. Sie schaut ihm nur entgegen, ohne eine Regung, als er beginnt den Umschlag zu öffnen. Darin ist lediglich ein Foto. Er zieht es heraus. Blickt in ihre Kornblumenblauen Augen. Sein Hals wird ganz trocken.
„Du bist schwanger.“
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Französische Textstellen:
- * Mein Gott
- ** Ich will nicht, dass dieses leckere Essen kalt wird.
Das Lied, das Xander im Auto singt:
*** Nine Days - Asolutely (Story of a Girl), Label: Epic/550 Music