Von den Lasten die wir tragen
Jesse
Jesse weiß nicht, was er sagen, oder wie er reagieren soll. Mike hat gesagt, er soll sich fern halten und nun ruft er ihn an, das geht nicht in seinen Kopf hinein. Aber noch viel weniger gehen seine Worte in seinen Kopf hinein. Xander ist weg. Langsam sickert es zu ihm durch. Er hört Mike seinen Namen in der Leitung sagen. Immer wieder. Der Sozialarbeiter will wissen, ob er noch dran ist. Doch Jesse bekommt kein Wort heraus. Mike will auflegen, zumindest sagt er das, als er sich endlich aus seiner Schockstarre befreien kann.
„Ich …, nein er ist nicht hier.“
Jesse sieht sich um, als müsste er sich dem noch einmal vergewissern, obwohl er die Antwort kennt. Oder blickt er sich nur um, weil er hofft Xander doch noch zu erspähen. Nein, wenn der Jüngere nicht gerade in seine Wohnung eingebrochen ist, ist er nicht hier. Er realisiert das Mike noch immer in der Leitung ist. Allerdings nichts sagt. Er atmet nur schwer. Der Medizinstudent hat das Gefühl nicht das Recht dazu zu haben und doch fragt er nach:
„Was ist passiert?“
Während er auf Mikes Antwort wartet - der andere muss in Bewegung sein, denn er keucht regelrecht in den Hörer – kommt Cassie herunter, um nach ihm zu sehen. Sie will wissen, wo er bleibt und sieht besorgt aus. Er winkt ab und nach kurzem Zögern geht sie wieder rauf. Da kommt auch Mike am anderen Ende der Leitung wieder zu Luft und antwortet:
„Ich weiß es nicht. Ich habe nicht gearbeitet. Aber Bastian hat gesagt, Xander hat sich noch bei ihm im Büro gemeldet, als er von der Therapie kam. Das war vor gut einer Stunde. Vielleicht etwas mehr. Aber als sie den Rundgang gemacht haben, war er nicht auf seinem Zimmer. Er ist nirgends im Haus und auch nicht im Hof. Charlotte hat mich gerade angerufen und ich jetzt dich. Ich verstehe es einfach nicht!“ Mike klingt regelrecht verzweifelt. So hat Jesse ihn noch nie gehört. Trotzdem ist es Nichts im Vergleich zu der Verzweiflung die er spürt.
„Aber“, sagt er und pustet Lautstark die Luft aus seinen Lungen „es muss doch irgendeinen Grund geben.“ Er sagt es und hat gleichzeitig Angst, dass er der Grund ist.
„Ich habe keine Ahnung. Er war endlich richtig angekommen. Er wollte nicht gehen. Ich weiß das ganz sicher. Er wollte bleiben. Verdammte Scheiße.“
Mike ist wütend und Jesse ist sich nicht sicher auf wen. Doch bevor er das fragen kann, was er nicht tun würde, flucht Mike bereits wieder ins Telefon:
„So ein Dreck. Selbst wenn ich ihn jetzt finde, was ich in New York nicht werde, ist es zu spät. Verstehst du, Jesse? Er fliegt. So oder so. Und ich kann es nicht verhindern!“
Jesse schluckt. Scheiße. Xander, was tust du?
„Aber …“ und plötzlich fragt sich Jesse, was dann eigentlich dieser Anruf soll „wenn es egal ist, ob du ihn findest oder nicht, weil er ohnehin rausfliegt, warum fragst du mich dann, ob ich weiß, wo er ist?“ Kann es Mike dann nicht egal sein?
„Weil er mich an mich erinnert. Weil er genauso ist, wie ich damals. Ach, vergiss es, Jesse!“
Und dann legt Mike auf. Jesse will zurückrufen, doch entscheidet sich dagegen. Das macht ja gar keinen Sinn. Er weiß nicht, wo Xander sich aufhält und es hat ihn auch nicht mehr zu interessieren. Nur das da das Problem liegt. Es interessiert ihn. Brennend. Was ist wenn Xander wieder auf der Straße landet? Wie weit ist er dann noch weg von den Drogen? Und wenn er wieder damit anfängt? Dann dauert es nicht lange, bis sie seinen Untergang besiegeln. Und er ist daran dann mit schuld.
Oder misst er sich da selbst zu viel Bedeutung zu? Xander mag ihn vielleicht. Oder mochte ihn. Okay, nach allem was vorgefallen ist definitiv eher ein mochte. Das war es dann aber auch. Auch wenn Jesse sich mehr gewünscht hätte. Da wird er nur wegen ihm wohl kaum alles hinwerfen. Außerdem ist das eine Woche her. Dann wäre Xander wahrscheinlich viel früher gegangen. Diese Gedanken beruhigen sein Gewissen nur mäßig. Das Xander irgendwo da draußen ist, wird dadurch jedoch nicht erträglicher. Das wird Jesse klar, sobald er selbst in seiner Wohnung steht. Cassie kommt sofort zu ihm und der junge Mann weiß nicht was er zu ihr sagen soll. Sie will wissen, ob es ihm gut geht. Er ist blass, meint sie. Ihm geht es gut. Xander möglicherweise nicht. Nur das er ihr das nicht sagen kann. Oder? Du musst Entscheidungen treffen. Das hat sein Vater gesagt. Das weiß er selbst. Wenn es nur nicht so schwer wäre. Lächerlich, doch Lilly hat Recht. Man will die Sachen immer leicht haben, wenn sie kompliziert sind. Und hat er Xander das nicht vorgehalten? Er rennt vor seinen Problemen davon? Und jetzt macht er das Gleiche. Erbärmlich.
Er schaut zum Fenster. Der Himmel ist dunkel und trist. Irgendwo da draußen ist Xander jetzt und Jesse will nicht darüber nachdenken, aber er fragt sich warum es jetzt so gekommen ist. Mike hat auf ihn immer den Eindruck gemacht, als würde er sich wirklich bemühen, Xander beim Einzug in der Wohngruppe zu helfen. Und nicht nur das, er erinnert sich an dem Tag, an dem er Xander an der Schule abgefangen hat. Der Tag an dem die Katastrophe erst richtig anfing. Da wirkte Xander glücklich. Er wirkte, als hätte er Spaß und als würde er sich wohlfühlen. Was hat sich seitdem verändert? Er wüste es gerne. Dass er es nicht weiß ist seine eigene Schuld. Wenn er an die Situation mit Xander im Auto denkt, hasst er sich selbst. Wieso ist er so ausgeflippt? Wieso hat er sich nicht beherrscht und vor allem, wieso hat er Xander die Schuld für etwas gegeben, was nicht seine Schuld ist? Jesse allein ist für sein Leben und seine Entscheidungen verantwortlich. Aber statt das einzusehen, hat er sich wie ein beleidigtes Kind verhalten und die Schuld lieber einem anderen in die Schuhe geschoben. Ist ja auch viel leichter, als sich ernsthaft mit seiner eigenen Unzulänglichkeit auseinanderzusetzen. Er weiß das. Hat das immer gewusst. Es war so leicht Xander die Verantwortung für seinen Ärger mit Cassie zuzuschieben. Die Wut die er sich selbst eingeredet hat, hat auch dabei geholfen sich leichter von Xander zu trennen. Von allem zu trennen, was mit dem Jüngeren zu tun hat. Im Nachhinein war es nicht leicht, es hat sich nur für einen Augenblick so angefühlt. Und Jesse will es auch gar nicht mehr. Nur das es jetzt für all diese Überlegungen eigentlich schon viel zu spät ist, weil Xander, wenn er nicht bescheuert ist, sowieso nichts mehr von ihm wissen will. Er fährt sich mit den Händen in die Harre. Rauft sich. Gott, wieso lassen ihn diese Gedanken fast durchdrehen? Und warum kann er trotz allem nicht damit aufhören?
„Jesse?“ Cassies Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken.
Er fährt zusammen und lässt die in den Haaren vergrabenen Hände sinken.
„Ja?“, fragt er. Schon wieder nicht mehr ganz anwesend.
Sie macht einen Schritt auf ihn zu und stellt sich dabei direkt vor ihn. Mit ihren warmen Händen umfasst sie sein Gesicht, zwingt Jesse so, sie anzusehen. Ihre blauen Augen durchbohren ihn.
„Was ist los? Wer hat angerufen? Du bist ja völlig durch den Wind.“
Jesse atmet tief durch. Er versucht ihrem Blick auszuweichen. Aber sie hält ihn immer noch fest und er schafft es auch nicht, sich von ihren Augen loszureißen.
„Mike“, sagt er dann, als sei das eine adäquate Antwort.
„Wer?“, fragt Cassie irritiert. Sie zieht die Augenbrauen zusammen und runzelt die Stirn. Mit dem Namen kann sie natürlich nichts anfangen. Jesse überlegt was er sagen soll, entscheidet sich letztendlich aber für die Wahrheit. Er hat in letzter Zeit viel zu oft gelogen:
„Xanders Betreuer aus der Wohngruppe.“
Widererwarten fährt sie weder aus der Haut noch macht sie ihm eine Szene oder wird sauer. Sie will scheinbar auch nicht wissen, was Jesse jetzt noch mit Xander zu schaffen hat. Sie wirkt nur einen Moment, als sortiere sie ihre Gedanken um die richtigen Worte zu finden. Sie zögert allerdings einen Moment, bevor sie fragt:
„Er lebt in einer Wohngruppe?“
Jesse korrigiert sie:
„Er hat in einer Wohngruppe gelebt. Er ist weg.“
Cassie will vielleicht etwas sagen, Jesse ist sich da nicht ganz sicher, aber sie tut es nicht. Sie tritt nur einen Schritt zurück und lässt sein Gesicht wieder los. Ihr Blickkontakt wird so gebrochen. Dann fragt sie zögerlich: „Machst du dir Sorgen?“ Die Frage ist eigentlich ganz simple, doch in ihm löst sie etwas aus, dass man nicht mit Worten beschreiben kann. Sorgen. Das ist ein äußerst dehnbarer Begriff. Sorgen, das ist gar kein richtiger Ausdruck für das, was sich gerade in seinem Kopf abspielt. Und trotzdem fällt seine Antwort letztlich genauso simpel aus. „Ja.“ Die Stimme zittert ohne, dass er etwas dagegen ausrichten kann. Er hat das nicht unter Kontrolle. Wie er so vieles seit geraumer Zeit nicht mehr unter Kontrolle hat. Cassie dreht ihm den Rücken zu. Sie blickt ebenso aus dem Fenster, wie er noch ein paar Minuten zuvor. Aus der eben noch bedrückenden Dunkelheit ist eine triefe schwärze geworden. Das Wohnzimmer liegt im Halbdunkeln und Jesse kann ihr Gesicht nicht sehen. Es spiegelt sich nicht einmal in der Fensterscheibe. Dann sagt sie unvermittelt und entschlossen: „Dann musst du etwas unternehmen.“
Nun ist es Jesse der einen Schritt auf sie zugeht. Er dreht Cassie zu sich um und sieht es. Die Tränen glitzern in ihren Augen und es kostet sie offensichtlich sehr viel Selbstbeherrschung ihnen nicht freien Lauf zu lassen. „Cassie“, setzt er an und weiß einfach nicht was er sagen soll.
„Jesse“, erwidert sie tonlos. Jesse sieht erst noch einmal in ihr Gesicht, dann wandert sein Blick an ihr herunter. Zu ihrem Bauch, an dem man eigentlich noch nichts sieht. Aber sie wissen beide, darin wächst ein neuer Mensch heran. Er hasst sich dafür, weil er will, dass dieses Baby eine intakte Familie bekommt und er doch nicht weiter lügen kann. Er kann seine Eltern nicht weiter belügen. Er kann Cassie nicht weiter belügen und schon gar nicht sich selbst. Vor einigen Monaten sah alles noch anders aus. Er hat geglaubt er könnte damit glücklich werden Cassie zu heiraten. Eigentlich war er sich sicher. Und er hat sie geliebt. Die Wahrheit sieht anders aus. Es wird ihn nicht glücklich machen. Und Cassie auch nicht. Und selbst wenn sie heiraten, werden sie nie die Art von Familie sein, die ihr Kind verdient hat. Also macht es auch einfach keinen Sinn sich weiter zu belügen. Er fängt an:
„Cassie, ich habe es versprochen und ich meinte es auch so. Ich will für dich und das Kind da sein …“
Weiter kommt er nicht, denn er wird unterbrochen. Ihre Stimme ist sanft als sie sagt:
„Ich weiß. Aber ich weiß auch, was du fühlst.“
Sie sehen einander nur stumm an. Die Worte die Jesse sagen wollte sind plötzlich verschwunden. Mit einer fließenden Bewegung zieht er sie in seinen Arm. Sie lässt den Kopf erschöpft an seine Schulter sinken, als er flüstert: „Aber ich werde trotzdem immer für euch da sein.“
Dann passiert das, womit Jesse nie im Leben gerechnet hätte. Cassie schickt ihn weg. Sie sagt er soll sich auf den Weg machen. Wenn er glaubt, dass es irgendetwas gibt, was er tun kann, dann sollte er das machen. Einen Moment zögert er. Kann er das machen? Einfach gehen? Er sollte nicht. Fair ist das Cassie gegenüber irgendwie nicht. Aber am Ende siegt die Sorge. Wo ist Xander jetzt? Was macht er? Jesse weiß, dass es unwahrscheinlich ist, Xander hier in New York zu finden. Die Stadt ist riesig und Jesse ist sicher, wenn der Jüngere nicht gefunden werden will, schafft er das. Er kennt sich in den dunklen Ecken der Stadt sicher besser aus als Jesse. Er macht sich dennoch auf den Weg. Als er die Wohnungstür hinter sich zuzieht, ist es ein merkwürdiges Gefühl. Ein Gefühl wie ein Ende. Er kann es nicht beschreiben. Wehmütig blickt er hoch zur Wohnung. Und dann schüttelt er über sich selbst den Kopf. Er kommt doch zurück. Tief in seinem Inneren weiß er, das es trotzdem anders sein wird.
Er überlegt einen Augenblick. Eigentlich hat er keinen richtigen Plan. Was nicht besonders hilfreich ist, wenn du jemanden suchen willst. Aber er hat keinerlei Anhaltspunkte, wo Xander sein könnte. Er kann sich ja auch nicht blindlinks in das Verkehrschaos stürzen. Das bringt ihm am Ende auch nichts. Mike, schießt es ihm durch den Kopf. Vielleicht weiß der, wo sie anfangen können zu suchen. Und das ist es, was Jesse tun wird. Ihn suchen und er wird ihn finden, denn er wird den Teufel tun Xander einfach aufzugeben.
Mike arbeitet heute nicht. Er wurde lediglich von einer Kollegin informiert. Fieberhaft denkt Jesse nach. Er hat keine Ahnung wo der Sozialarbeiter wohnt, aber wenn der weiß das Xander weg ist hat er sich ja eventuell doch zu seiner Arbeitsstelle begeben. Außerdem hat Jesse ohnehin keine anderen Indizien als die Wohngruppe. Der Medizinstudent läuft in die Tiefgarage und rechnet dabei. Zum Tellmansquare braucht er etwa 10 Minuten. Wenn er Glück hat ist Mike dort, wenn er ankommt. Als er schon ein paar Minuten später auf der Delancey Street in einen Stau gerät wird seine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Verdammt. Wieso muss diese Stadt so voll sein? Jesse ignoriert so ziemlich alle bekannten Verkehrsregeln als das Auto endlich wieder in Bewegung kommt. Nun, fast alle. Die roten Ampeln ignoriert er dieses Mal nicht. Er sollte sein Glück nicht unnötig überstrapazieren. Wenn er den nächsten Autounfall zu verantworten hat und im Krankenhaus landet, hat da auch niemand etwas von. Am allerwenigsten Xander.
So schief hat er noch nie am Bordstein geparkt. Er springt regelrecht aus dem Wagen. Die Autotür wäre fast offen stehen geblieben und ein Parkticket zieht er auch nicht. Jesse ist nervös als er im Hinterhof der Wohngruppe steht. Das letzte Mal das er hier war ist schon eine Weile her und damals war die Situation definitiv eine Andere. Eine Bessere. Da war die Welt irgendwie noch in Ordnung. Es war schwierig. Aber im Nachhinein hätte es das nicht sein müssen. Egal. Er wird den gleichen Fehler kein zweites Mal machen. Vor der Tür kratzt er sich nervös im Nacken. Er hat geklingelt, aber noch gibt es keine Reaktion. Irgendwann hört er Stampfen auf einer Treppe und dann öffnet sich die Tür. Der Kerl der die Tür öffnet ist ein unbekanntes Gesicht für ihn. Natürlich will wissen, was Jesse hier zu suchen hat und der fragt – völlig ohne Manieren – nur nach Mike. Der Blonde schaut ihn an als wäre er übergeschnappt.
„Wer will das wissen?“ fragt er und scheint nicht besonders auskunftsfreudig.
„Jesse. Mein Name ist Jesse King. Mike und ich kennen uns von der Uni.“
Das stimmt nicht ganz, aber es kommt der Wahrheit zumindest nahe. Dennoch ist der junge Kerl ihm gegenüber noch immer nicht überzeugt. Sein Blick sagt aus, das kann ja jeder behaupten. Und es stimmt ja auch. Gott, dieser Typ wird ihm gar nichts sagen und ihn auch nicht durchlassen. Langsam begreift Jesse das und es sorgt dafür, dass die Verzweiflung in ihm wächst. Wie soll er Xander finden, wenn er nicht einmal mit der Person sprechen kann, die die letzten Tage wohl am meisten Kontakt zu Xander hatte?
Da schallt es durch den Flur: „Bastian, kommst du? Ich muss nur eine Sache wissen, dann bin ich auch wieder weg.“
Jesse erkennt diese Stimme sofort. Mike! Und schon hört man erneut polternde Schritte auf der Treppe. Mike steht Sekunden später im Flur. Sieht zu diesem Bastian und dann zu ihm. Bastian sieht Mike an als wollte er sagen, ich habe ja versucht den Spinner abzuwimmeln. Er ignoriert das. Gerade ist er nur froh das Mike da ist. Mike schickt Bastian hoch zu den Jugendlichen. Jesse erklärt sein Anliegen und Mike lässt ihn tatsächlich herein. Das Mike ihm zuhört überrascht Jesse fast, aber der Ältere will Xander ebenso sehr finden wie er selbst. Wenn auch aus anderen Beweggründen. Jesse erkennt in dem Gespräch allerdings, dass Mike ebenso wenig wie er weiß, wo sie anfangen sollen zu suchen. Immerhin hinterfragt er gar nicht, dass Jesse Xander unbedingt finden will. Er ist einfach nur bereit Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen und irgendwie findet Jesse das wahnsinnig gut.
„Du hast also wirklich gar keinen Anhaltspunkt, wo wir suchen könnten?“ hakt Jesse noch einmal nach, obwohl er die Antwort längst kennt. Mike schüttelt den Kopf. Dann geht einen Ruck durchseinen Körper. Er sieht den Medizinstudenten an und meint dann: „Aber ich glaube ich weiß, wer da etwas wissen könnte. Komm mit.“ Und damit geht Mike einfach voran. Erst die eine und dann die nächste Treppe hoch. Jesse folgt ihm und ignoriert die Blicke die ihm Zeitweise auf den Fluren zugeworfen werden. Vor einer Tür im letzten Obergeschoss bleiben sie stehen und Mike klopft. Die Tür wird aufgerissen und ein Mann, etwa in Jesses Alter öffnet die Tür. Mike fragt den Unbekannten: „Ist Nile da?“
Der Typ nickt nur und ruft dann. Ohne ein weiteres Wort lässt der Kerl sie einfach stehen und es dauert einen Moment bis sich erneut etwas tut. Es rumpelt einmal laut und eine Tür weiter hinten in der Wohnung wird aufgerissen. Noch ein junger Mann, Jesse schätzt ihn etwas älter als Xander ein, kommt den Flur hinunter. Dabei weicht er dem einen oder anderen Hindernis aus, das sich im Flur auftut. Eine klassische Studentenbude, kommt es Jesse. Aber der Gedanke ist irrelevant. Der Junge mit dem Irokesen-Schnitt wirkt überrascht, als er Mike erkennt. Dann sieht er zu Jesse und der Ältere kann die Verwirrung in seinem Blick förmlich greifen. „Was ist passiert?“, fragt Nile ohne umschweifen und Jesse kann einen schweren Akzent aus der Stimme heraus hören. Britisch vielleicht. Aber er kann ihn nicht ganz sicher zuordnen.
„Xander ist weg.“ Kommt Mike ebenso schnell zur Sache. Niles grünen Augen werden groß. „Wie, Xander ist weg?“ fragt er. Seine Stimme ist vor Entsetzten fast eine Oktave höher. Mike atmet lautstark aus. Das ist nicht, was er und Jesse sich erhofft hatten. Und obwohl es in der Situation nicht angebracht ist, ertappt Jesse sich dabei, wie er sich fragt, in welcher Beziehung Xander und dieser Nile wohl stehen. Immerhin scheint Nile von Mikes Nachricht regelrecht erschüttert. Wenn es nicht absolut bescheuert wäre, würde Jesse vielleicht sogar fragen. Dann flucht Nile. Jesse hört ein ‚nicht schon wieder‘ aus all den Flüchen heraus, die wie eine Fantasiesprache klingen. Als Nile sich langsam wieder beruhigt fragt er:
„Du hast also auch nicht die leiseste Ahnung, wo Xander jetzt sein könnte oder warum er weg ist.“ Nile schüttelt den Kopf. Dann legt er den Kopf in den Nacken. Er überlegt, bevor er antwortet: „Ich könnte Danny anrufen, vielleicht ist Xander bei ihm.“ Der junge Mann mit dem ausländischen Akzent scheint davon selbst nicht überzeugt. Aber es ist wohl besser als Nichts. Mike nickt und meint, dass sie hier warten werden. Nile geht also telefonieren und Mike und Jesse stehen wie bestellt und nicht abgeholt im Hausflur. Von Niles Mitbewohner ist nichts mehr zu sehen und Jesse kann nicht anders als sich leicht überflüssig zu fühlen. Ein Blick auf Mike verrät ihm, dass es dem Sozialarbeiter nicht anders geht.
„Ist das die Studenten WG vom der du mir einmal erzählt hast?“, fragt Jesse um die Stille irgendwie zu bekämpfen.
Mike nickt nur, Dann scheint ihm bewusst zu werden, dass das keine sonderlich hilfreiche Antwort ist. Er kratzt sich am Bart, bevor er antwortet:
„Ja, das ist sie. Nile und Xander haben sich auf Anhieb ziemlich gut verstanden. Sie sind sich, denke ich, aber auch in vielerlei Hinsicht ähnlich. Wenn Xander Nile gar nichts erzählt hat, muss das eine ziemlich spontane Entscheidung gewesen sein.“
Mike kann das wohl besser einschätzen als er. Viel besser. Schließlich hatte er in den letzten Wochen viel mehr Kontakt zu Xander als er. Es dauert eine ganze Weile bis Nile endlich zurück in den Flur kommt.
Jesse weiß sofort sein Telefonat war nicht erfolgreich. Wenn es erfolgreich gewesen wäre, dann wäre Niles Blick nicht so wahnsinnig deprimiert. Und Jesse soll recht behalten. Einen Moment später schüttelt der Rotschopf den Kopf. Er sagt irgendwas davon, dass sich Xander auf jeden Fall nicht bei Danny gemeldet hat und das dieser nun aber auch kommen wird. Acht Augen sehen schließlich mehr als sechs. Stimmt zwar, aber Jesse findet es dennoch mehr als fraglich, ob sie überhaupt eine Chance auf Erfolg haben. Mike macht irgendetwas mit Nile aus. Jesse hört nicht wirklich zu. Er kann sich auf das Gespräch einfach nicht konzentrieren. Stattdessen versucht er fieberhaft darauf zu kommen, welche Orte Xander jetzt wohl aufsuchen wird. Er kommt zu keinem Ergebnis.
Einen Moment später stehen sie alle gemeinsam im Hof vor dem Wohnheim. Alle. Das sind Nile, Mike, dieser Danny und er. Sie sehen einander ratlos an. Groß Zeit für eine Vorstellrunde ist nicht. Jesse erkennt Danny allerdings als den jungen Latino den er mit Xander zusammen vor der Schule gesehen hat. Die beiden müssen also wirklich gute Freunde sein, wenn er ohne zu zögern sofort hierher kommt. Mit diesem Nile muss er auch bekannt sein. Denn die beiden begrüßen sich mit einem freundschaftlichen Handschlag. Mike bespricht den Plan. Nun, ob man das Ganze einen Plan nennen kann sei einmal dahingestellt. Sie werden sich schlichtweg aufteilen und jeder einen anderen Stadtteil nach möglichen Aufenthaltsorten abklappern. Immerhin ein Anfang. Danny und Nile werden als Team agieren. Offenbar leben sie beide noch nicht allzu lange in New York und kennen sich nicht gut aus. Jesse tauscht einen Blick mit Mike aus, es macht mehr Sinn, wenn sie getrennt voneinander suchen. Das beschließen sie jedenfalls. Und so trennen sich ihre Wege ebenso schnell wieder, wie sie sich gefunden haben. Immerhin haben sie alle noch ihre Handynummern ausgetauscht, so können sie einander erreichen, falls einer von ihnen Erfolg haben sollte. Noch immer zweifelt Jesse daran. Und gleichzeitig hofft er. Hofft verzweifelt. Denn er will nichts mehr, als Xander in Sicherheit zu wissen. Gott, wenn sie bloß nicht gestritten und er nicht so ein verdammt schlechtes Gewissen hätte.
Jesse nimmt sich einige Straßen in Lower Manhattan vor. In seinem Wohnviertel kennt er sich einigermaßen gut aus. Mit Mike und den anderen hat er ausgemacht, dass sie sich spätestens in vier Stunden wiedertreffen. Vier Stunden. Das ist fast eine Ewigkeit. Dann ist es etwa Mitternacht. Wenn sie ihn bis dahin nicht gefunden haben, wird die Chance ohnehin verschwindend gering. Jesse betet nur, dass Xander sich nicht schon längt abgesetzt hat. Mit dem Bus oder der Bahn in die nächste Stadt… oder noch viel schlimmer per Anhalter. Er verflucht sich selbst, als er sich an das Geld erinnert, dass er Xander gegeben hat. Zu Beginn seines Aufenthalts in der Wohngruppe. Vielleicht hat sich der Jüngere davon längst ein Busticket gegönnt und ist über alle Berge. Das wäre eine Horrorvorstellung. Denn Jesse kann sich nicht vorstellen, dass Xanders Leben in einer anderen Stadt plötzlich in geordneten Bahnen verläuft. Aber was ist, wenn er mit allem falsch liegt? Wenn Xander einfach gar keinen Bock auf Struktur und Ordnung hat? Wenn es gar keinen besonderen Anlass für sein verschwinden gibt. Wenn er einfach nur sein eigenes Ding, ohne Pflichten, Regeln und dergleichen führen will. Dann macht diese Suche eigentlich keinen Sinn. Jesse beginnt bei dem Gedanken unwillkürlich zu erschaudern. Das ist möglich. Er muss es sich eingestehen. Er will es allerdings nicht. Xander soll sich nicht für die Straße entschieden haben. Er soll einfach nicht so leben wollen. Den Gedanken erträgt der Medizinstudent einfach nicht.
Nach drei weiteren Stunden des Suchens ist Jesse einfach nur noch erschöpft. Er kann nicht mehr. Und er weiß auch einfach nicht, wo er noch suchen soll. Es macht alles einfach keinen Sinn mehr. Vermutlich hat es das von Anfang an nicht, aber er wollte es nicht wahrhaben. Er hat sich an Orte gewagt, die er sonst im Leben nicht betreten würde und was hat es ihm gebracht? Die Antwort ist leicht: Nichts. Er hat Xander nicht gefunden. Und er weiß durch eine SMS von Danny und Nile, sowie einem Telefonat mit Mike, dass es den anderen auch nicht anders geht. Xander ist wie vom Erdboden verschluckt. In einer Stadt wie New York aber eigentlich auch kein Wunder.
Jesse trottet nur noch den staubigen Bordstein entlang. Seine Nerven und seine Kräfte sind ziemlich am Ende. Es wäre sicher besser, wenn er sich endlich auf den Heimweg machen würde. Cassie wartet bestimmt schon lange auf ihn. Er hat ihr zwar eine Nachricht geschrieben, das es später wird und sie hat darauf mit einem einfachen ‚Okay‘ geantwortet, aber sie macht sich sicher trotzdem Sorgen. Außerdem gehen Jesse schlichtweg die Ideen aus. Er weiß einfach nicht mehr wo er noch suchen könnte. Wie gesagt, er hat sogar alle erdenklichen dunkeln Ecken abgeklappert. Er war auch bei diesem Bahnhof, der für sein Drogenmilieu und seinen Strich bekannt ist. Gott sei Dank hat er Xander dort nicht angetroffen. Dafür sind ihm einige zwielichtige Gestalten ziemlich nahe gekommen. Distanz war für die ein Fremdwort. Für Jesse allerdings nicht und so hat er sich so schnell wie möglich verabschiedet. Ja, da war er noch schnell unterwegs. Jetzt hat er dafür keine Energie mehr übrig. Erst als er für einen Augenblick stehen bleibt und sich umsieht, erkennt er, wo er so in seinen Gedanken versunken hingelaufen ist. Eine Querstraße weiter steht Onkel Henrys verlassener, kleiner Supermarkt. Der Markt ist mittlerweile ausgeräumt und die Grundfläche an die Stadt verkauft. Aber das Gebäude steht noch. Jesse weiß es. Wenn er in den letzten Wochen das eine ums andere Mal an dem kleinen Laden vorbeigefahren ist, musste er immer wieder mit Bekümmern feststellen, dass neue Schäden dazu gekommen sind. Na klar, das Gebäude wird sowieso abgerissen, aber trotzdem fällt es ihm ein bisschen schwer Onkel Henrys Laden so verkommen zu sehen. Aber das Geschäft hat einfach nicht in seinen Plan gepasst. Jetzt fragt er sich mittlerweile allerdings, was überhaupt noch in seinen Lebensplan passt. Eigentlich hat er gar keinen mehr. Als er also nun am Laden vorbeikommt, seine Beine haben ihn ganz von alleine dorthin gebracht, überkommt ihn die Wehmut. Er geht auf das Gelände zu und erinnert sich, als er auf dem Parkplatz steht, unwillkürlich an diese verhängnisvolle Nacht im November. Hier ist ihm Xander zum aller ersten Mal begegnet. Jesse geht um den Laden herum. Ja, es hat sich wenig verändert. Eine Scheibe ist eingeschmissen worden. Und die Wände sind mit Graffiti besprayt worden. Aber sonst. An der Rückseite des Ladens angelangt, stellt Jesse fest, dass sich auch niemand mehr die Mühe gemacht hat, das Schloss der Hintertür zu reparieren. Es ist noch immer so, wie er es damals vorgefunden hat. Aufgebrochen. Kein Wunder. Schließlich gibt es in dem Geschäft auch nichts mehr zu holen. Er zögert. Soll er hinein gehen? Es macht keinen Sinn und er hat nichts davon, aber mit einem Mal wird er von diesem Ort angezogen. Also geht er hinein. Es ist stockdunkel und dieses Mal hat Jesse keine Taschenlampe oder andere Lichtquellen, um sich besser im Inneren zu Recht zu finden. Er kommt an Henrys altem Büro vorbei und geht hinein. Es ist, wenig überraschend, leer. Der Schreibtisch und alle persönlichen Gegenstände sind verschwunden. Was will er eigentlich hier? Jesse fühlt sich mit einem Mal noch erschöpfter und niedergeschlagen. Er verlässt den Raum fast fluchtartig. Eigentlich verspürt er auch keine große Lust mehr, weiter ins Laden Innere vorzudringen. Ja plötzlich graust es ihm sogar ein wenig davor, was er dort wohl finden mag. Es hat sich sicher rum gesprochen, dass das Geschäft leer steht und er will gar nicht wissen, wer oder was hier so bei Nacht sein Unwesen treibt. Und doch geht er weiter. Auf die Metalltür zu, die ihn ins ehemalige Ladengeschäft führt. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen hier ist es noch dunkler, als auf dem Flur und im Büro. Ist es natürlich nicht. Merkwürdig. Der Raum wirkt ganz anders, jetzt da er leer ist. Fast gespenstisch. Er ist vollkommen verlassen. Lediglich das eine oder andere Metallgerüst vereinzelter Regale steht noch herum. Er macht einen Schritt vor. Da hinten ist die Spirituosenabteilung gewesen. Unwillkürlich geht sein Blick zur Seite. Da drüben in dem Gang liegt immer noch das Regal, mit dem Xander und seine Freundin ihn fast niedergestreckt hätten. Ist das…? Er geht einen Schritt in den Gang hinein. Für eine Sekunde glaubt er jemanden in der Ecke sitzen zu sehen, aber er muss sich täuschen. Er kneift die Augen zusammen. Nein, er täuscht sich nicht. Jesse tastet in seinen Hosentaschen. Sein Handy hat zwar nur ein kleines Display. Aber das blaue Licht ist besser als nichts. Besser als diese Dunkelheit. Hoffentlich legt er sich mit niemanden an. Déjà-vu. Vielleicht sollte er besser wieder kehrt machen, was geht ihn das hier noch an? Aber er will nicht. Langsam entsperrt er sein Handy und richtet das kleine Gerät den Gang hinunter. Der Lichtschein bewirkt so gut wie nichts. Jesse kann noch immer nicht viel sehen. Aber die Gestalt wird von dem kleinen Licht aufgeschreckt sie springt auf und als Jesse näher kommt kann er es nicht glauben. Selbst im Dunkeln kann er sehen, wie Xanders Augen vor Schreck weit offen stehen.
Xander starrt ihn an die Lippen formen ein ungläubiges „o“. Jesse starrt zurück. Vor Überraschung steht der Mund des Jüngeren noch immer offen. Er schluckt und murmelt: „Xander“. „Jesse?“, fragt dieser mit unverhohlener Überraschung in der Stimme. „Was machst du hier?“ Jesse lacht. Ein freudloses Lachen. „Das könnte ich dich auch fragen.“ Xander schüttelt nur mit dem Kopf und weicht einen Schritt zurück. „Du solltest nicht hier sein“, sagt er und klingt dabei so verzweifelt, dass Jesse nicht anders kann als wieder einen Schritt auf ihn zu zugehen. Er zuckt dabei mit den Schultern.
„Aber jetzt bin ich es“, sagt er schlicht.
„Aber warum?“, will Xander wissen. Der Blick aus seinen braunen Augen verrät, dass er sich nicht entscheiden kann ob er froh oder wütend darüber sein soll.
„Warum? Weil wir dich alle suchen. Mike dreht fast durch vor Sorge und Nile und Danny durchkämmen gerade halb New York.“
Xander schüttelt den Kopf und murmelt irgendetwas zu sich selbst, was Jesse nicht verstehen kann.
„Du hast gesagt ich soll mich aus deinem Leben fern halten.“, stößt er aus. Die Stimme klingt verletzt.
„Ich weiß.“, erwidert er.
„Aber das macht keinen Sinn. Warum bist du dann hier?“, langsam klingt Xander richtig wütend.
„Verdammt, weil es mir Leid tut. Ich hätte das nie sagen dürfen! Es ist mir egal, wenn du jetzt nichts mehr von mir wissen willst. Ich bin ein Idiot gewesen. Aber ich will nicht, dass du weg schmeißt, was du dir in den letzten Wochen so hart erkämpft hast. Dann wäre alles umsonst gewesen!“ Jesse redet sich in Rage. Er will einfach, dass es Xander gut geht. Und das hier ist alles andere als gut.
„Das hat dich überhaupt nicht mehr zu interessieren. Das geht dich einen Scheißdreck an!“
Xander sagt es noch immer wütend, aber seine Stimme schwankt. So als sei er sich selbst nicht sicher, ob er das was er gesagt hat, auch wirklich so meint.
„Xander, bitte!“. Jesse fleht.
Der Jüngere sieht ihn nicht an. Er schaut stur an die graue Betonwand vor sich. Dann flüstert er:
„Jetzt ist es eh zu spät.“
„Nein.“, ruft Jesse entschieden aus.
„Ich weiß nicht was los ist“, fährt er fort, „Aber ganz gleich was es ist, ich verspreche dir, wir kriegen das wieder hin. Alles ist gut.“
„Nein!“, dieses Mal ist es Xander, der entschieden dagegen hält.
„Nichts ist gut! Du verstehst das nicht. Ich kann nicht zurück. Ich kann nirgendwohin. Er wird mich finden!“ Als wollte er sich das selbst bestätigen sieht Xander sich panisch um. Auch in seiner Stimme ist die Panik unüberhörbar. Wer wird ihn finden? Er geht noch einen Schritt auf Xander zu. Der weicht zurück, bis er die Wand im Rücken hat. Jesse hebt ganz leicht die Arme, um ihm zu signalisieren, dass ihm nichts geschieht.
„Wer wird dich finden?“, fragt er sanft. Möglichst ruhig um Xanders Panik zu lindern. Was ist hier eigentlich los? Von wem Xander auch spricht, er macht ihm eine Heidenangst. Mehr als das. Aber der Jüngere weicht seinem Blick abermals aus. Er ist nicht bereit zu reden. Wie soll er ihm helfen, wenn Xander ihn einfach nicht an sich ran lässt? Gleichzeitig ärgert er sich, über sich selbst. Wie kann er das jetzt auch noch erwarten? Die Situation lässt es gerade ja auch gar nicht zu, dass Xander ihm noch in irgendeiner Weise vertrauen kann. Er muss erst reinen Tisch machen.
„Wenn du schon nicht mit mir reden willst, dann hör mir wenigstens zu.“, sagt Jesse resigniert als er die Hände wieder sinken lässt. Doch Xander schüttelt den Kopf. Als wüsste er bereits, was Jesse ihm sagen will. „Reden macht jetzt keinen Sinn mehr“, sagt er heiser. Jesse will ihm widersprechen, als Xander plötzlich unvermittelt einen Schritt auf ihn zu macht. Er umfasst Jesses Gesicht, zieht ihn zu sich runter und einen Augenblich später liegen ihre Lippen aufeinander. Dieser Kuss ist viel bestimmter, als die beiden davor. Jesse kann die Hitze spüren, die von Xander ausgeht. Alles scheint erhitzt. Die warmen Hände die sein Gesicht umfassen Xanders warme Lippen, die er so fordernd auf seinen spürt. Flatternd schließt er die Augen und die Hitze scheint auch von seinem Körper besitz zu ergreifen. Xanders Hände rutschen in seinen Nacken und seine Hände finden von ganz alleine ihren Weg in Xanders Haar. Er will nicht, dass dieser Moment endet, als Xander sich von ihm löst. Er atmet tief ein und auch Jesse holt tief Luft. Ringt fast um Atem. Er hat noch immer das Gefühl zu glühen, als Xander flüstert: „Ich musste das tun.“ Der Blick aus braunen Augen ist so intensiv, dass Jesse seine Augen nicht einmal abwenden könnte, wenn er wollte und da wird es ihm klar. Xander hasst ihn nicht. Im Gegenteil. Vielleicht, ganz vielleicht empfindet er genau das Gleiche für Jesse wie der für ihn. Und dann zerbricht sein Herz binnen Sekunden in alle Einzelteile. „Jetzt kannst du dein perfektes Leben wiederhaben.“ Dann befreit Xander sich von Jesses Händen, die noch immer im Nacken des Kleineren ruhen und verschwindet. Als hat das gerade eben Nichts zu bedeuten gehabt. Jesse bleibt wie gebannt stehen. Nicht fähig nach ihm zu Greifen oder ihn aufzuhalten. Er flüstert mehr zu sich selbst: „Ich will kein perfektes Leben. Ich will nur dich.“
Er ist noch immer völlig fertig als sie sich alle um kurz vor Mitternacht wieder im Hinterhof der Wohngruppe treffen. Mike scheint auch mit den Nerven am Ende. Danielle und Nile sind völlig aus der Puste. Nile sitzt keuchend auf der Mauer und Danny lehnt völlig erschöpft dagegen. Seine Brust hebt und senkt sich schwer. Die beiden müssen viel gerannt sein. Jesse fühlt sich absolut miserabel. Er hat Xander gefunden und was hat es ihm gebracht? Nichts. „So wie wir alle hier versammelt sind befürchte ich, dass keiner Erfolg gehabt hat?“, fragt Mike und jedem ist klar, dass es sich hierbei um eine rhetorische Frage handelt. Jesse hat den anderen noch nicht mitgeteilt, was passiert ist. Wenn er ehrlich ist verspürt er dazu auch kein besonderes Bedürfnis. Diesen Moment den er mit Xander geteilt hat, gehört nur ihnen beiden. Er ist für niemand anderen bestimmt. Aber er ist den anderen zumindest die Tatsachen schuldig. Sie machen sich schließlich genauso viele Sorgen wie er selbst. Also sagt er:
„Das kommt wohl darauf an, was du als Erfolg definierst.“ Sofort sind alle wieder hellwach. Nile springt von der Mauer und Danny steht so schnell wieder auf eigenen Beinen, dass Jesse es mit einem Blinzeln glatt verpasst hätte. Alle sehen ihn erwartungsvoll an. „Ich habe Xander getroffen.“ Mehr sagt er zunächst nicht. „Was?“, ruft Nile aus. „Aber,…“, fragt Danny mit Verwirrung in der Stimme „wo ist er jetzt?“ Jesse zuckt mit den Schultern. Mike atmet schwer aus. „Er wollte nicht zurück, oder?“ fragt er. Man kann hören, wie sehr ich das trifft. Jesse nickt nur. „Wieso nicht?“ will Nile entsetzt wissen. „Er hat sich hier doch wohl gefühlt“ und mit einem Blick auf Danny fügt er hinzu „Er hat es doch selbst gesagt. Vor zwei Tagen noch. Er war glücklich.“ Danny nickt bekräftigend, als würde das die Situation verändern. Jesse sieht Nile an. Der Schotte ist ehrlich betroffen und Jesse kann ihn gut verstehen. Er erinnert sich natürlich daran, was Xander gesagt hat. „Er wird mich finden.“ Aber er hat ja keine Ahnung was das wirklich bedeutet. Es hat sicher etwas mit Xanders Vergangenheit zu tun. Aber diese Aussage ist so kryptisch, dass Jesse nicht viel mit ihr anzufangen weiß. Mittlerweile ist ihm nur eines klar. Xander hat Angst vor einer einzigen bestimmten Person. Er hat lange gedacht der Jüngere hätte einfach nur mit sich selbst zu kämpfen. Und damit, zu verarbeiten, was er alles erlebt hat. Aber mittlerweile ist ihm klar, Xander läuft nicht vor sich selbst davon. Er läuft vor jemanden davon. Ob er seinen Vater gemeint hat? Der ist doch sogar Sheriff. Gut möglich, dass Xander glaubt, er würde ihn überall finden. Aber warum ausgerechnet jetzt? Jesse merk, umso länger er darüber nachdenkt, umso mehr Fragen tauchen auf. Es bereitet ihm geradezu Kopf zerbrechen. Wie aus dem nichts, schlägt Jesse auf die Hauswand neben sich ein. Ein eiskalter Schmer durchzuckt seine Faust. Ein lautes Knacken ist zu hären. Das Blut rauscht in seinen Ohren als er Mike entsetzt seinen Namen rufen hört. Warum hat er ihn bloß gehen lassen? Warum hat er ihn nicht aufgehalten. Er spricht aus, was er die ganze Zeit schon denkt. „Er ist in Schwierigkeiten“, faucht er regelrecht.
„Xander?“ fragt Mike, als gäbe es da tatsächlich noch etwas zu fragen. „Wer sonst?“, antworten Danny und Nile wie selbstverständlich aus einem Mund. Sie scheinen von seinem Wutausbruch auch weniger irritiert als Mike.
„Ich weiß“, fügt Nile plötzlich hinzu.
„Xander war zwar die letzten Tage glücklich, aber er war seit Montag auch irgendwie anders. Manchmal hat er gewirkt, als würde er sich regelrecht verfolgt fühlen. Wenn ich ihn allerdings darauf angesprochen habe, wollte er davon nichts hören.“
Danny nickt plötzlich ebenfalls.
„In der Schule war es genau dasselbe.“
Plötzlich mischt sich auch Mike ein:
„Charlotte hat da so etwas erwähnt. Sie meinte letztens hätte sie Xander in der Nacht völlig durch den Wind erlebt. Er hat gezittert und war völlig abwesend. Sie hat ihn erst schlafen gehen lassen, nachdem sie ihm einen Beruhigungstee eingeflößt hat. Sie meinet er wirkte, als sei der Teufel hinter ihm her.“
„Als sei der Teufel hinter ihm her“, wiederholt Jesse leise.
„Warte“, unterbricht ihn Mike da wieder. „Das alles ist seit Montagnacht so, richtig? Seit ich euch Idioten von der Wache abholen musste!“ Bitte was? Aber ihm bleibt keine Zeit darüber nachzudenken. Ab diesem Moment hat Mike offensichtlich einen Verdacht. Den führt er zunächst allerdings nicht näher aus. Stattdessen schickt er Nile und Danny nach Hause. Die beiden sind empört, aber Mike macht ihnen klar, dass sie hier nichts mehr tun können. Daniélle gibt schneller nach als Nile. Er sagt mehr zu sich selbst, dass seine Schwester ihn vermutlich umbringen wird, wenn sie merkt, dass er schon wieder nicht Zuhause ist. Nile mault, schließlich können Mike und Jesse alleine doch auch nicht mehr ausrichten als er, aber Mike erinnert Nile daran, dass er noch etwas bei ihm gut hat. Jesse hat keine Ahnung, worum es da geht, aber es funktioniert. Er gibt zu, er ist davon beeindruckt, welch gute Freunde Xander in den letzten Wochen bereits gewonnen hat. Missmutig verschwindet nun aber auch Nile nach Hause. Also ins Gebäude. Mike weist Jesse keine Minute später an, ihm ebenfalls ins Innere der Wohngruppe zu folgen. Eine Betreuerin, Claire, ist noch auf den Beinen, als sie herein kommen. Sie spricht leise an Mike gewandt: „Du, Jade war vor einer halben Stunde bei mir. Sie meinte, sie müsse unbedingt mit dir reden. Ich konnte sie kaum beruhigen. Ich glaube, sie ist immer noch wach.“. Mike nickt. „Ich kläre das kurz“, sagt er in Jesses Richtung und bittet dann Claire, Jesses kleine Wunden an seiner Linken Faust zu versorgen. Das ist bescheuert. Schließlich ist er in ein paar Monaten Assistenzarzt. Trotzdem beschwert er sich nicht. Er erkennt, dass das ei dankbarer Vorwand ist, sich hier drinnen aufzuhalten. Kurze Zeit später wartet er in Mikes Büro auf ihn. Es dauert nicht lange und der Hüne kommt aufgeregt herein. Er meint, ohne viel Erklärung, Jades Aussage würde seinen Verdacht stützen. „Jesse wir müssen zur Polizei!“, teilt der Sozialarbeiter ihm fast überschwänglich mit. Sie suchen nach einem Officer Raynolds, zumindest glaubt Mike nach Jades Personenbeschreibung, dass der etwas mit Xanders verschwinden zu tun haben könnte. Jesse kommt der Name merkwürdig bekannt vor, aber ihm will einfach nicht einfallen woher. Ihre Fahrt zum Präsidium ist allerdings kein Erfolg. James Raynolds hat in dieser Nacht keinen Dienst und so vertagen sie ihre nächsten Schritte. Die Beamtin am Schalter will ihnen natürlich auch keine weiteren Auskünfte zum Dienstplan geben und Mike und Jesse sind mit ihrem Latein am Ende. Die Spur verläuft im Nichts. Und Nile hatte recht, sie können ebenfalls nichts mehr tun.
Als er Nachts um kurz vor zwei wieder in die Wohnung kommt, fühlt er sich fremd. Er hat das Gefühl nicht mehr hier hin zu gehören. Als wäre dieser Ort ein Teil eines vergangenen Lebens. Er sieht sich um und steht unschlüssig im Flur. Dann hört er eine Stimme. Cassie ist noch wach. Es ist ihm schleierhaft, warum er sie nicht vorher wahrgenommen hat. Sie redet mit jemandem, aber er hört keine Antwort. Dann wird ihm klar, dass sie telefoniert. So spät noch.
„Ich muss es ihm sagen“, hört er sie sagen. Ihre Stimme klingt erschöpft, bedrückt, als wäre sie des Redens leid.
„Nein, Brit, das bin ich ihm schuldig. Ich habe viel zu lange gelogen und deshalb ist es eigentlich gar kein Wunder, dass er auch irgendwann angefangen hat mich anzulügen.“ Wieder kurze Stille. „Vielleicht. Mag sein. Aber wir hätten reden müssen, von Anfang an. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe und ich weiß auch nicht, was er gedacht hat.“ Kurze Pause. „Nein. Doch. Es spielt keine Rolle wer angefangen hat. Wir haben es beide verkackt. Sorry, ja. Ich will das in Ordnung bringen.“ Nochmal kurz Stille. Britanny antwortet wohl. „Kann sein. Ich wünschte es wäre anders gelaufen. Ja. Bis dann.“ Sie hat aufgelegt. Mittlerweile steht er im Türrahmen. Sie sitzt im Schlafzimmer auf der Bettkante. Sie dreht den Telefonhörer in der Hand. Unablässig. Fahrig. Dann seufzt sie schwer. Sie steht auf, legt den Hörer zurück auf Station und fährt zusammen, als sie Jesse in der Tür entdeckt.
„Gott, hast du mich erschreckt.“, murmelt sie.
„Was musst du mir sagen?“, will er wissen ohne auf ihren K0mmentar einzugehen. Sie sieht sich kurz um.
„Lass uns das in der Küche besprechen, ja? Bei einer Tasse Tee?“ Jesse sieht das Flehen in ihrem Blick und kann nicht anders, als ihr nachzugeben. Er ahnt, dass nächste Gespräch wird unangenehm und was auch immer die Wahrheit sein mag, von der Cassie gerade gesprochen hat, er ist sich nicht so sicher, ob er sie hören möchte.
Wenig später sitzen sie also am Küchentisch. Zwei dampfende Tassen Tee, eine rosa und eine grau, vor ihnen. Casssie hat die Hände vorsichtig um die Tasse gelegt, als wollte sie sich daran wärmen. Jesse sieht davon ab, er findet die Tasse immer noch kochend heiß. Dann fragt sie in die Stille hinein: „Würdest du sagen, dass du nicht immer ehrlich zu mir warst?“
Jesse zieht die Brauen zusammen. Aber er antwortet:
„Ja, das kann ich wohl nicht abstreiten, ohne wieder lügen zu müssen.“ Sie nickt. Hat seine Antwort registriert. Dann sieht sie ihm tief in die Augen.
„Aber damals, als wir uns kennengelernt haben und in der High School, da warst du schon ehrlich zu mir?“
Er ist sich nicht sicher, ob das eine Frage oder eine Feststellung sein soll. Aber da sie ihm Zeit zum Antworten gibt, ist es wohl eine Frage. Er überlegt nicht lang:
„Bis vor ein paar Monaten war ich immer ehrlich zu dir, Cassie.“
Wieder nickt sie. Dann sagt sie:
„Ich weiß. Oder du glaubst zumindest es gewesen zu sein.“
„Bitte, was?“, will er wissen. Was soll denn bitte heißen? Das weiß er jawohl besser als sie. Cassie geht allerdings nicht auf seine Empörung ein.
„Ich war’s nicht.“, sagt sie unvermittelt.
„Was?“ Er versteht nicht ganz, was sie ihm sagen will.
„Nicht ehrlich. Wohl von Anfang an nicht. Ich wünschte ich wäre es gewesen. Dann hätte das zwischen uns am Ende vielleicht wirklich funktioniert. Aber jetzt ist es zu spät für all das.“
Jesse wird mit einem Mal klar, dass dieses Gespräch alles verändern wird. Nicht nur ihre zukünftige, nein auch ihre bisherige Beziehung. Er wird nervös. Fährt sich durch das rotblonde Haar. „Was meinst du genau?“, will er wissen. Und Cassie beginnt zu erzählen. Sie beginnt zehn Jahre in der Vergangenheit. Mit ihren Erzählungen, kommen auch seine Erinnerungen zurück und plötzlich treffen sie ihn wie einen Faustschlag.
Sie sind zum See gefahren. Jesse hasst den See. Es gibt für ihn kaum einen schlimmeren Ort. Aber Cassie hat es sich so gewünscht. Im letzten Sommer, als Cassie hergezogen ist, hatten sie wegen des schlechten Wetters kaum Gelegenheit dazu. Zu seinem Glück. Aber jetzt sind sie trotzdem hier. Jesse und Casper können ihr einfach nichts abschlagen. Seit einigen Monaten sind sie jetzt ein paar, dass er seiner Freundin also nichts abschlagen kann, ist nicht weiter verwunderlich. Und Casper? Der ist einfach zu nett. Das redet sich Jesse zumindest ein. Dabei ist Casper Jenkins mittlerweile in der Schule als Rebell und ganz bestimmt nicht als nett verschrien. Jeder weiß, dass er nicht nur Regeln sondern auch Herzen bricht. Aber sie sind beste Freunde, deshalb weiß Jesse genau, dass das hier eine andere Situation ist. Und doch fühlt er sich wie das fünfte Rad am Wagen, als er Cassie und Casper im Wasser miteinander balgen sieht. Cassie steht Knie hoch im Wasser und zittert. Dann spritzt sie Casper nass, der sich wie ein Fisch in die Fluten stürzt und Cassie Sekunden später zu Boden und somit ins Wasser reißt. Sie schreit und lacht gleichermaßen. Casper grinst und winkt Jesse doch der schüttelt nur den Kopf. Er geht da nicht rein. Denn dann kommt er vermutlich nicht wieder lebend raus. Oder noch schlimmer, er muss seinem besten Freund und seiner festen Freundin gestehen, dass er nicht schwimmen kann. Als wäre er sechs und nicht sechzehn. Nein, auf gar keinen Fall! Und so bleibt er am Ufer auf dem Handtuch zurück. Irgendwann sind Casper und Cassie aus seinem Blickfeld verschwunden. Wahrscheinlich sind sie zur kleinen Insel geschwommen, die mitten im See liegt und da an Land gegangen. Missmutig rollt Jesse sich auf dem Handtuch zusammen. Was macht er hier eigentlich.
Jesse wird wach, als sich ein Schwall Wasser über ihm ergießt. Er fährt hoch wie eine Rakete. Casper lacht sich fast Tod und Cassi8e sitzt kichernd im Gras. Jesse sieht aus wie ein begossener Pudel, dafür muss er nicht in den Spiegel sehen. Er hechtet Casper hinterher, der sich sogleich zurück ins Wasser flüchtet. Jesse bleibt wie angewurzelt stehen. Casper ruft ihm etwas zu, doch er macht postwendend kehrt. Keine spricht ihn mehr darauf an. Später, nachdem Jesse Casper nach Hause gebracht hat, er ist der Einzige von den Dreien der ein Auto besitzt, ist ihm die Situation vom See echt peinlich. Er versucht ein Gespräch anzufangen, um endlich die Stille im Auto zu bekämpfen. „Was habt ihr eigentlich so gemacht, während ich gepennt habe?“, will er von seiner Freundin wissen. Sie schaut schnell aus dem Fenster. Zögert. „Ach, eigentlich nichts“, ihre Wangen färben sich rot, aber Jesse will es nicht sehen.
„Ihr hattet also was miteinander.“, Jesse weiß nicht wirklich, ob er davon wirklich erschüttert sein soll. Eigentlich ist er es nicht, denn so überraschend kommt es gar nicht und doch kann er nicht fassen, dass seine Freundin ihn mit seinem damaligen besten Freund betrogen hat.
„Ein einziges Mal“, ruft Cassie aus. Er kann an ihrer Stimme hören, dass sie versucht sich zu verteidigen. „Ja?“ „Ja, doch!“ „Und wenn er heute noch leben würde?“, fragt er bitter. Es ist bescheuert, weil das alles keine Rolle mehr spielt, aber er muss es wissen.
„Nein, Jesse! So war das damals nicht. Es war ein Augenblick. Ein Moment in dem wir beide nicht nachgedacht haben. Aber wir wollten keine Beziehung miteinander. Und wir wollten dich nie verletzen!“ Es klingt ehrlich und doch kann er Cassies Sehnsucht fast greifen. Jesse kommt nicht umhin das zu bemerken. Auch wenn er sich einzureden möchte, dass sie jetzt im Nachhinein wirklich alles behaupten kann. „Wenn du das sagst.“
„Gott, Jesse. Mach es mir nicht noch schwerer, als es nicht eh schon ist!“ ruft sie zornig.
„Schwerer als es nicht sowieso schon ist?“
nun ist er genauso zornig.
„Verdammt, ich habe dich damals wirklich geliebt.“
„Ach ja? Und ich nicht? Oder wolltest du mich einfach nur gerne lieben?“
„Was?“, Jesse sieht sie verdutzt an. „Sag mal, wie kommst du eigentlich auf diesen Quatsch?“
„Weil er es mir erzählt hat.“
„Casper?“
„Ja.“
„Das ich auf ihn gestanden habe?“
„Nein. Keine Ahnung. Das ihr euch geküsst habt und das er sicher ist, dass du nicht hetero bist. Zumindest nicht nur …“. Cassie kommt ins Stocken, als wäre es ihr peinlich das zu sagen.
„Ach ja?“. Er schüttelt den Kopf. Das kann doch echt nicht wahr sein. Vielleicht sollten sie die Vergangenheit ruhen lassen. Aber er kann einfach nicht anders. „Wenn irgendwer nicht ganz hetero war, dann jawohl er. Ich bin nicht mit irgendwelchen Typen ins Bett gegangen!“ Ihr versetzt diese Aussage einen Stich. Jesse kann es sehen. Sie at Casper geliebt.
„Ach und deshalb hattest du dann vor unserer Hochzeit Nachholbedarf, oder wie darf ich das verstehen?“ Cassie geht zum Angriff über und sie streiten schon wieder. Aber dieses Mal lässt er sich nicht von ihr in die Enge treiben.
„Was wird das hier eigentlich schon wieder?“, will er wissen. „Bei diesem Gespräch geht es Gott verdammt nochmal nicht um Xander. Und wieso zur Hölle glaubst du eigentlich, dass wir miteinander geschlafen haben? Wie kommst du auf diesen Scheiß“ Er hat noch nie so viel auf einmal geflucht. Es ist ihn allerdings so egal, wie es einem das nur sein kann.
„Du hast ihn auf einem widerlichen Straßenstrich angesprochen Herr Gott nochmal! Wenn es irgendwo anders gewesen wäre. Aber nein, mein Verlobter muss sich auch noch irgendeinen Stricher suchen!“ Sie ist aufgestanden. Die Bewegung hat den Stuhl ein Stück nach hinten geschoben. Jesse steht ebenfalls auf. Sie haben beide die Hände auf dem Küchentisch abgestützt. Funkeln sich wütend an. „Nenn ihn nicht so!“, zischt Jesse viel mehr unterbewusst, als das es ihm klar ist.
„Wie soll ich ihn denn sonst nennen. Ich habe doch recht!“ echauffiert sie sich. Da wird Jesse klar, welche Szene sie meint. Damals nach der Disco. „Woher weißt du das eigentlich?“, kommt es aus ihm. „Ich habe euch gesehen.“, murmelt sie. Sie wollte zu ihm, weil Jesse ihr Portmonee in der Tasche hatte. Als sie es gemerkt hat, war sie eigentlich schon bei der U-Bahn angekommen gewesen. Sie hatte ihre Freundin gebeten, auf sie zu warten und wollte versuchen Jesse, der ja gesagt hatte er wolle nach Hause, noch einzuholen. Und dann hat sie ihn reden sehen. Mit Xander. An diesem Ort. Und es war offensichtlich, warum der Junge dort war. Und dann hat er Jesse beim Handgelenk gepackt und mit sich fort gezogen. Mittlerweile stehen Cassie die Tränen in den Augen.
„Na, verrat mir mal, was du denken würdest?“
Jesse schaut sie ungläubig an. Er weiß nicht, was er sagen oder machen soll. Und dann lacht er. Er lacht, obwohl er es nicht will.
„Du glaubst, ich wollte an diesem Abend mit ihm schlafen?“ Das ist so lächerlich, dass Jesse nicht an sich halten kann.
Sie schaut ihn an und ihre Augen werden Teller groß.
„Ihr habt nicht miteinander geschlafen?“, fragt sie und scheint dabei ehrlich überrascht. „Gott, nein!“, ruft er.
„Ich wollte mit ihm reden. Ich habe dir doch gesagt, dass in den Laden meines Onkels eingestiegen worden ist. Er war dabei. Und ich wollte ihn einfach nur zur Rede stellen!“
Cassie wirkt mit einem Mal ehrlich betroffen.
„Süßer Jesus“, flüstert sie.
„Und ich habe gedacht du hast mich in der Nacht unserer Verlobung mit einem St-, mit diesem Jungen betrogen.“ Sie ist unendlich entsetzt. Jesse könnte heulen. Er weiß nicht, ob vor Trauer oder vor Belustigung. Plötzlich bricht sie in Tränen aus. Egal, was gewesen ist. Das kann er einfach nicht sehen. „Cassie“, versucht er sie zu beruhigen. „Alles okay.“
„Nein, Jesse. Nein, ist es nicht. Ich war mir so sicher.“
Das macht die Situation nicht wirklich besser, aber er will auch nicht, dass Cassie unberechtigt solche Schuldgefühle hat.
„Aber im Endeffekt. Irgendwie hast du ja recht. Ich habe in dieser Nacht nicht mit ihm geschlafen“, das klingt falsch „Also, ich habe generell nicht mit ihm geschlafen, ich kann aber auch nicht leugnen, dass da etwas ist. Ich … er bedeutet mir unheimlich viel und letztendlich …“, er muss es aussprechen, weil es wahr ist. Weil er Xander geküsst hat. Mehr als einmal. Und weil er es nicht bereut. „… habe ich dich auch betrogen.“ Trotz dessen, dass er Cassie nicht mehr liebt, nicht mehr wie früher, fühlt er sich deshalb doch beschissen. Er schämt sich. Er hätte viel früher reinen Tisch machen müssen. Cassie hört allerdings nicht auf zu weinen. „Du verstehst nicht!“, betont sie vehement. „Ich habe dich in dieser Nacht betrogen!“ „Warte, was?!“ Er sackt auf dem Stuhl zusammen. Er hat auf einmal keine Kraft mehr, weiterhin zu stehen. Cassie sitzt schon längst wieder und ist in ihrem Stuhl wie ein Kartenhaus im Wind zusammengefallen. Dann kommt ihm eine weitere Erkenntnis. „Und das Kind“, fragt er heiser.
„Ich weiß es nicht“, flüstert sie gebrochen. „Ich weiß es wirklich nicht“. So wie sie es widerholt, klingt es wie ein Mantra. Jesse kann es einfach nicht glauben. Für ihn ist das Gespräch gelaufen. Er will nichts mehr hören. Cassie schluchzt immer noch, als sie wimmert: „Ich wollte doch nicht, dass sowas jemals wieder passiert. Es war nur ein einziges Mal. Ein einziges Mal und es bedeutet wieder eine Katastrophe.“ Jesse bleibt Stocksteif im Türrahmen stehen. Ihm kommt ein schrecklicher Verdacht. Langsam dreht er sich zu Cassie um. Sie sitzt da wie ein Häufchen Elend.
„Alles okay, Cassie“, Jesse ist ehrlich besorgt um seine Freundin. Es sind die letzten Wochen des Summer Breaks und sie ist seit einigen Wochen fast lethargisch. Vielleicht ist es wegen Casper. Während Cassie und er nach den Ferien an die High School zurückkehren werden, wird Casper sein Dasein Zuhause fristen. Jesse will es nicht glauben, aber sein bester Freund stirb. Sie haben es lange nicht gewusst. Keiner in der Stadt. Als man den Krebst entdeckt hat, hat Casper unterm MRT bereits geleuchtet wie ein Glühwürmchen. Sie haben ihm erklärt, dass eine Therapie keinen Sinn mehr macht. Die Mortalitätsrate des Ewing-Sarkoms liegt verdammt hoch und Casper hat mehr als nur Pech gehabt. Anmerken lassen hat er sich davon bis vor ein paar Wochen nichts. Deshalb ist es umso mehr ein Schlag ins Gesicht. Es macht Jesse fertig und wahrscheinlich ist es das, was Cassie auf den Magen schlägt.
„Du warst damals schon schwanger.“
Er stellt die Behauptung in den Raum und hofft gleichzeitig, dass er falsch liegt. Doch ein Blick aus Cassies tränengefüllten, ozeanblauen Augen verrät ihm, er hat Recht.
„Ich wollte das nicht- ich wollte das wirklich nicht.“, wimmert sie immer wieder. Jesse fühlt sich wie betäubt. Da ist keine Wut mehr, keine Trauer und keine Angst. Da ist nichts mehr.
„Von Casper?“, fragt er nur.
„Von wem denn sonst?“, schluchzt sie. Casper ist noch im Herbst gestorben. Er fragt sich, ob er es je erfahren hat. Jesse wird schlecht. Sein bester Freund hat tatsächlich seine Freundin geschwängert. Viel schlimmer ist allerdings, keiner von beiden hat ihnen auch nur irgendetwas gesagt und wenn er ganz ehrlich ist, hätte er es auch nicht wissen wollen. Er hat sich wohlgefühlt in seiner sicheren kleinen Blase und die Realität war ihm ein Stückweit egal. Und trotzdem kann er es nicht fassen. Deshalb ist auch Cassies Vater wohl so ausgerastet. Vielleicht hat e sich gefragt, wie Cassie den gleichen Fehler zwei Mal machen konnte.
„Und das Baby?“, will er wissen.
Cassie sagt nichts, sie schweigt und vergräbt das Gesicht in den Händen und Jesse begreift. Abgetrieben. Er kann nicht glauben, dass er nichts von alle dem mitbekommen hat. Wie konnte er so dämlich sein und wie konnte er Cassies Verhalten damals Monatelang so falsch deuten?
„Warum hast du nichts gesagt?“, flüstert er. Ringt dabei um Haltung. Aber er kennt die Antwort. Was hätten sie schon tun sollen? Was hätte es geändert? Und vor allen, wie hätte er damals reagiert? Cassie könnte heute ein achtjähriges Kind haben. Dieser Gedanke ist nicht fassbar. Nicht greifbar. Er will eigentlich nur gehen. Oder schreien. Oder irgendetwas machen um alles herauszulassen. Sich am besten einfach wieder abwenden und diese Küche verlassen, wie er das schon vor einigen Minuten hatte tun wollen. Stattdessen geht er zu ihr und zieht sie in eine Umarmung. Cassie schluchzt lauthals, als sie fragt: „Hasst du mich jetzt?“ Im Flüsterton fügt sie hinzu: „Ich bin ein Monster.“ Er schüttelt den Kopf, obwohl sie das nicht sehen kann. Er könnte Cassie niemals hassen. Nur eines ist ihm nach diesem Gespräch wieder einmal klar geworden, jeder von ihnen hat sein Päckchen zu tragen. In diesem Augenblick fasst er einen Entschluss: Er will nicht länger dabei zu sehen, wie Menschen drohen an ihren Lasten zu zerbrechen.